Novemberpogrom

Wie gedenkt man, wenn Krieg ist?

Es war der erste 9. November, der nach dem 7. Oktober stattfand: In ganz Österreich fanden diese Woche Gedenkveranstaltungen anlässlich der Novemberpogrome statt. Fünf Szenen, die zeigen, wie stark das Erinnern nach dem Terror der Hamas unter Spannung stand.

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Österreich gemahnte. Auf kleinen Plätzen und in repräsentativen Häusern, in stiller Andacht und mit lauten Demonstrationen versammelten sich im ganzen Land Staatsspitze, Religionsvertreter und Bürgerinnen und Bürger, um an das Novemberpogrom zu erinnern. Damals, in der Nacht des 9. November 1938, klirrten Fensterscheiben, brannten Synagogen, wurden Menschen erschlagen. Im gesamten Deutschen Reich – damit auch im heutigen Österreich – entfesselte sich Judenhass. 

Die Gedenkveranstaltungen erhielten durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und die Welle antisemitischer Gewalt seither besondere Dringlichkeit. Wer sich allerdings andächtige Einigkeit erwartet hatte, irrte. Neben aufwühlenden Erinnerungen prägten sicherheitspolizeiliche Bedenken und politische Scharmützel die Woche des Gedenkens. Besuch an fünf Schauplätzen. 
 

Wien, 9. November, Heldenplatz

Die abgesperrte Zufahrt zum Regierungsviertel Ballhausplatz. Polizisten, die Fahrradfahrern mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchten. Zivile Sicherheitsbeamte mit dem Stöpsel im Ohr, die durch die Menge gehen. Die Anspannung und Nervosität ist deutlich zu spüren, während sich 1700 Lichter vom Heldenplatz Richtung Ballhausplatz bewegen. Die jüdische Jugend Wiens organisierte den Gedenkmarsch „Light of Hope“, wie jedes Jahr. Wenn es immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt, wächst auch die Verantwortung für die nachkommenden Generationen, ihre Botschaften weiterzugeben. Die Jugend fühlt aber heute noch eine andere Verpflichtung: „Meine Generation ist stolz und stark. Wir sorgen dafür, dass das ‚Nie wieder‘  passiert, das ist unser Widerstand“, ruft Esther Györi von einer Bühne am Ballhausplatz. 

„Die Jugendlichen sprechen heute nicht nur über die Vergangenheit, sondern erfahren leider eine schreckliche neue Realität des Antisemitismus“, sagt die Vorsitzende der Jugendkommission der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Beatrice Kricheli. „Jüdische Jugendliche, die in nichtjüdische Schulen gehen, berichten täglich von antisemitischen Drohungen und Angriffen.“ Allein in den ersten 13 Tagen seit Beginn des Gaza-Krieges wurden insgesamt 76 antisemitische Vorfälle in Österreich gemeldet, jüdische Kinder wurden von Gleichaltrigen, die den Terror verherrlichten, eingeschüchtert. Genau deswegen sei es umso wichtiger, am 9. November ein Zeichen zu setzen.

Wien, 9. November, Parlament

Wenige Stunden zuvor, keine zehn Gehminuten vom Ballhausplatz entfernt: Zum staatstragenden Gedenkakt ins Parlament lädt Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka persönlich. „Die Gedenkreden sind in der Gegenwart angekommen“, sagt er gleich zu Beginn seiner Rede und macht sich an eine Abhandlung über die Parallelen zwischen dem Novemberpogrom und dem Terrorangriff der Hamas. Sie gipfelt in einer bemerkenswerten Feststellung: „Was früher Hitler und seine Schergen waren, sind heute Ismail Haniyya und die Hamas.“ 

Danach erinnert sich Zeitzeuge Benno Kern an das Novemberpogrom in Wien, an den Morgen des 10. November 1938. Seine Talmud-Tora-Schule im 2. Wiener Bezirk fand er damals verwüstet vor, den Direktor „halb totgeschlagen“: Zu den Zuhörern zählen neben Vertreterinnen und Vertretern aller Parlamentsparteien auch IKG-Präsident Oskar Deutsch, der Salzburger Erzbischof Franz Lackner und der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft Ümit Vural.

Wels, 8. November, Pollheimerpark

Die 15 Polizisten stehen in Grüppchen da. Sie haben wenig zutun, der Einsatzleiter ist entspannt. Als um kurz vor 19 Uhr Andreas Rabl eintrifft, tritt ihm der Beamte entgegen, schüttelt ihm grinsend die Hand, und sagt: „Hallo, mein Lieblingsbürgermeister.“ Rabl, seit 2015 FPÖ-Bürgermeister der Stadt, begrüßt fast alle der 80 Anwesenden mit Handschlag. Dann beginnt am Mahnmal für die Welser Juden am Rande des Stadtzentrums das Gedenken. Der Militärhistoriker Erwin Schmidl referiert, dann spricht Rabl. Er spricht über die 15 Welser Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen, die Bedeutung von Toleranz und die Gefahr des Antisemitismus. Und merkt an: Es sei nicht zulässig, dass gewisse Vereine den Kampf dagegen monopolisieren. 

Was er damit gemeint hat, erläutert er beim Gespräch mit profil nach der Veranstaltung. Wels war immer Hotspot erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen. Die „Welser Initiative gegen Faschismus“ kämpft seit 1988 gegen „Braune Flecken“ in der Stadt, etwa Straßen, die nach Nazis benannt sind. Eine heikle Angelegenheit in der Hochburg deutschnationaler Netzwerke. Die Initiative erstritt das Mahnmal für die Welser Juden und hielt ab Mitte der 1990er-Jahre die ersten Gedenkveranstaltungen anlässlich des Novemberpogroms ab.

Doch an die FPÖ will sie nicht anstreifen, mit Rabl nichts zu tun haben. Seit er Bürgermeister ist, gibt es zum Gedenken an das Novemberpogrom eine städtische Veranstaltung – und eine der Initiative. Heuer hatte die Angelegenheit besondere Brisanz. Bundespräsident Alexander Van der Bellen gedachte in Wels – bei der Veranstaltung der Initiative am 6. November. „Der Bundespräsident ist in seiner Termingestaltung völlig frei“, sagt Rabl. „Ich habe allerdings nicht verstanden, dass er immer davon spricht, Gräben zuschütten zu wollen, dann aber die Veranstaltung eines Vereins besucht, der genau das Gegenteil macht. Aber vielleicht hat er das nicht gewusst."

Rabl sagt in seiner Ansprache, der Antisemitismus sei ein „gesamtgesellschaftliches Problem“. Dass er damit in der eigenen Partei eine Minderheitenposition vertrete, glaubt er nicht. Dabei hat sich auch die FPÖ mit dem Nahostkonflikt nie leichtgetan: Auf der einen Seite gibt es in der Partei jene Stimmen, die den arabisch-muslimischen Antisemitismus als Argumentationshilfe für mehr Abschiebungen nutzen wollen, auf der anderen Seite haben auch antisemitische Untertöne zum Repertoire der Partei gehört. 2001 rief Parteichef Jörg Haider bei einer Rede in die johlende Menge: „Ich verstehe überhaupt nicht, wie einer, der Ariel heißt, so viel Drec kam Stecken haben kann.“ Gemeint war Ariel Muzicant, damals Präsident der IKG. Haiders Redenschreiber hieß damals Herbert Kickl.
 

Salzburg, 9. November, Elisabeth-Vorstadt

Am Gehsteig glänzt ein Stolperstein, jemand muss ihn geputzt haben. Darauf steht der Name Anna Pollak. Während der Großteil der Salzburger Juden schon in den Wochen nach dem „Anschluss“ an das „Deutsche Reich“ das Land verlassen hatte, gab Pollak ihr Geschäft in der Rainerstraße im Stadtteil Elisabeth-Vorstadt nicht auf. In der Nacht des 9. November wurde es geplündert.

Es gibt ein Foto von Pollak, aufgenommen am Morgen des 10. November. Man sieht sie, wie sie sich bemüht, Ordnung in ihr Geschäft zu bringen. Das Bild hängt in der Kollegienkirche in der Salzburger Altstadt. Dort findet am Donnerstag eine Gedenkveranstaltung einer Schule statt. Wie aufgeladen die aktuelle Situation ist, beweist die Rede des Schulleiters. Mit brechender Stimme erklärt er, dass er sich „aufs Glatteis wagen“ muss. Sein Herz sei nicht nur bei den Hinterbliebenen der mörderischen Hamas-Angriffe, sondern auch bei den palästinensischen Zivilisten im bombardierten Gazastreifen.
 

Graz, 8. November, Freiheitsplatz

Am Freiheitsplatz in der Grazer Innenstadt sind alle versammelt, wenn auch manche nur symbolisch. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat ein paar Zeilen geschickt. „Wir müssen aus unserem tiefsten Herzen gegen jede Form des Antisemitismus auftreten.“ Der steirische Landeshauptmann Christopher Drexler, ÖVP, hat den Ehrenschutz übernommen. Bei einer anderen Veranstaltung am selben Abend wird er sagen: „Dass Juden wieder Angst haben müssen, mitten in Europa, ist erschreckend und in jeder Hinsicht inakzeptabel.“ Bürgermeisterin Elke Kahr, KPÖ, ist persönlich anwesend. Sie steht in der Menge, neben den Kerzen, die über den Platz verteilt wurden. Ansprache hält sie keine, vor Ort sollen keine Politikerinnen und Politiker zu Wort kommen. Ein überparteiliches Komitee hat breit zur Mahnwache „gemeinsam* gedenken“ eingeladen. Historikerin Edith Zitz erinnert an die Gräuel der Nationalsozialisten, gibt den Anwesenden eine weiße Rose und einen Stein mit –in Anlehnung an die jüdische Tradition - Steine auf Gräber zu legen, und als Symbol für Widerstand, Respekt und Neuanfang. Zitz mahnt für die Zukunft: Es sei wichtig, gegen alle Formen des Antisemitismus aufzutreten.

Wer eingeladen war, konnte weiter in die Grazer Synagoge. Kahr zählte nicht dazu, sie und ihre Partei wurden im Vorfeld von der jüdischen Gemeinde ausgeladen. Die Positionierung zum jüdischen Staat, die pro-palästinensische Haltung hatte die IKG schon in der Vergangenheit kritisiert. Trotzdem war die KPÖ jedes Jahr bei der  Gedenkfeier dabei. Als die KPÖ aber nach dem Angriff der Hamas gegen das Hissen der israelischen Flagge am Grazer Rathaus stimmte, wurde der Präsident der jüdischen Gemeinde Graz, Elie Rosen, deutlich. „Es war schon in den letzten Jahren mein Ansatz, dieses Gedenken nicht zu einem historischen Rückblick zu machen“, sagt er zu profil, „natürlich hat das in einem Jahr wie diesem eine neue Dimension bekommen.“ Kahr antwortete, dass sie den Schritt respektiere, aber nicht verstehe. „Wir erinnern auch daran, dass Kommunistinnen und Kommunisten damals an der Seite der Verfolgten standen“, schrieb die KPÖ in einem Brief.

Dass sie an den Kampf der Kommunisten gegen den Faschismus und Nationalsozialismus erinnerte, reicht Rosen nicht, vor allem nicht „im Lichte des von links kommenden, israelorientierten Antisemitismus und des Antisemitismus des politischen Islams“. Manchmal, sagt Rosen, „gibt es eben nur Schwarz und Weiß“, es gehe um das Überleben eines Staates und die Sicherheit seiner Bürger.

Die Israel-Fahne wurde trotzdem am Rathaus gehisst. In der Nacht auf Donnerstag beschädigten sie zwei Männer mit einem Messer.
 

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.