Wie gefährlich sind Gefährder?
Ein Drehbuchautor hätte es nicht besser arrangieren können: Seit Jahresbeginn trommelt ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka für eine drastische Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten. Ein vereitelter Anschlag und eine gesprengte Islamisten-Zelle scheinen nun wie bestellt. Doch es war Zufall. Im ersten Fall waren es Hinweise von ausländischen Diensten, im zweiten Fall wurde der Zugriff monatelang vorbereitet.
Sie kamen wie immer in den frühen Morgenstunden, Männer in dunklen Uniformen und Sturmmützen. Sie stürmten ein Dutzend Wohnungen und zwei muslimische Vereinslokale, eines in Graz, eines in Wien. 800 Polizisten, schwer bewaffnete Spezialeinheiten und Verfassungsschützer waren vergangenen Donnerstag in Wien und Graz im Großeinsatz. 14 Verdächtige eines salafistischen Netzwerks, darunter drei Frauen, wurden festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, die Ziele der Terrormiliz "Islamischer Staat" unterstützt, Anhänger rekrutiert und Strukturen eines islamischen Gottesstaats auf österreichischem Boden aufgebaut zu haben. Die Beamten konfiszierten 140 Datenträger und Kisten voller Akten. Eine unmittelbare Anschlagsgefahr sei von diesem Netzwerk bislang nicht ausgegangen, sagte der Innenminister in einer eilends einberufenen Pressekonferenz.
Cobra-Zugriff in Wien-Favoriten
Eine knappe Woche davor, Freitagabend, waren in Wien-Favoriten Beamte der Spezialeinheit Cobra ausgerückt und hatten den 17-jährigen, nun bald 18-jährigen Lorenz K. in der Nähe seiner Wohnung festgenommen. Nach einem Bericht der "Presse" sei dieser Zugriff nicht ganz nach Plan erfolgt. Man hätte den Burschen noch länger beobachtet, wenn nicht "Krone Online" schon berichtet hätte. Der Verhaftete soll einen Terroranschlag auf das U-Bahnnetz der Bundeshauptstadt geplant haben, so der Vorwurf. Die unsichtbare Bedrohung ist auch hierzulande ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Angst vor dem Terror ist greifbar, auch wenn der 17-jährige Möchtegern-Terrorist nach über einer Woche der Ermittlungen nicht mehr ganz so gefährlich wirkt wie noch zu Beginn der Berichterstattung und das Islamistennetzwerk hauptsächlich mit Rekrutierung beschäftigt war.
In Zeiten der unmittelbaren Gefährdung - ob gefühlt oder real -haben sicherheitspolitische Initiativen gesteigerte Erfolgsaussichten. Das weiß auch der Innenminister. "Eine Straftat aufzuklären, ist ein bitterer Erfolg -denn man konnte sie nicht verhindern. Eine Straftat zu verhindern, ist ein voller Erfolg", sagte er bei der Pressekonferenz mit andächtiger Stimme, um sofort auf seine Agenda umzuschwenken: Es brauche einen "zeitgemäßen Rechtsrahmen", um den neuen Bedrohungen gewachsen zu sein. Sobotka sprach von Überwachung und von Maßnahmen gegen "Gefährder".
Solche wünschen sich auch Verfassungsschützer, die Moscheen-Vereine und Treffpunkte in Lokalen observieren; die an Straßenecken stehen, um zu beobachten, wer wann welche Wohnung verlässt oder wie lange jemand bleibt.
Die Personaldecke unter österreichischen Verfassungsschützern ist eher dünn, ihre Ausbildung oft nicht den neuen, stets im Wandel begriffenen Anforderungen gewachsen. Um islamistische Netzwerke unter Beobachtung zu halten, ist ein Verständnis dieser Ideologie und Kultur notwendig. Manche eignen sich das abends nach Dienstschluss an.
Verfassungsschützer haben auch keine besonderen Befugnisse. Für einen Lauschangriff brauchen sie einen richterlichen Beschluss. profil-Recherchen ergaben, dass im Justizministerium noch nie eine Genehmigung für Abhörmaßnahmen in einer Moschee erteilt wurde.
Ob die angeblichen Anschlagspläne des Teenagers Lorenz K. der richtige Anlass sind, um eine Verschärfung des Sicherheitsgesetzes durchzusetzen?
"Ein Problemkind"
Der Jugendliche ist kein Unschuldslamm. In seiner früheren Heimatstadt, dem niederösterreichischen Neunkirchen, erzählt man sich, Lorenz K. sei immer schon "ein Problemkind" gewesen. Bereits im Alter von 15 Jahren habe er gekifft, sei faul in der Schule gewesen und als Teil einer Gang auf den Straßen der Kleinstadt unterwegs gewesen. "Die hatten richtig Spaß daran, Scheiße zu bauen", erinnert sich ein Jugendlicher aus einer anderen Clique. Vor zwei Jahren stand Lorenz K. wegen zweifachen Raubes, einmal unter Beteiligung eines Kampfhundes, vor Gericht. Damals war er 15 Jahre alt. Es setzt eine Haftstrafe. Ein paar Monate in der Justizanstalt Wiener Neustadt wurden ihm zum Verhängnis. Ein Zellengenosse weckte in K. die Begeisterung für den Islam -obwohl seine Eltern, albanische Migranten, orthodoxe Christen sind. Sein Instant-Islam wird nach seiner Enthaftung durch Videos des inzwischen verurteilten Hass-Predigers Ebu Tejma alias Mirsad O. befeuert. K. dockt übers Internet an andere Islamisten seiner Altersklasse an, auch solchen aus Deutschland. Er treibt sich in Chatforen herum, in denen die Predigten von Mirsad O. besprochen, empfohlen und debattiert werden.
"Hätte er auf mich gehört", klagt der Bruder von Lorenz K. gegenüber profil verbittert. "Er hat viel über den Islam geredet. Ich hab ihm gesagt, dass er seinen Glauben für sich behalten soll, weil die Leute sehr empfindlich darauf reagieren."
Seine Eltern, er Fabrikarbeiter, sie Krankenschwester, sind zusammengebrochen. Sie erleben, was viele Familien, deren Kinder in die Radikalisierung abdriften, erfahren. Man scheut sich, Freunde aufzusuchen. Man wird von der Gesellschaft schuldig gemacht für eine Entwicklung, die unter Umständen nichts hätte aufhalten können - außer staatliche Zwangsmittel.
Es ist die Geschichte eines gescheiterten Jugendlichen, der in die Kriminalität abgedriftet ist, eines Irrgeleiteten. Sein Bruder bezeichnet Lorenz K. als einen, der "auf die schiefe Bahn" geraten sei. Aber ist K. auch ein kaltblütiger Terrorist?
Die Beweislage für einen Anschlag ist - soweit bekannt - eher dünn: Waffen, Sprengstoff oder konkrete Pläne konnten die Ermittler nicht sicherstellen. Die Verdachtsmomente leiten sich aus Gesprächen und Chatverläufen ab. Bei seiner Verhaftung trug Lorenz K. einen Ring mit den Insignien des IS. Der entscheidende Hinweis kam aus dem Ausland. Demnach hatte sich K. in der deutschen Stadt Neuss (Nordrhein-Westfalen) mit islamistischen Jugendlichen getroffen und über Anschlagsziele beraten.
Zwischen Lorenz K. und dem Islamisten-Netzwerk in Graz und Wien bestehen nach bisherigem Ermittlungsstand keine Verbindungen.
"Wir sind nicht dazu da, das Gute im Menschen zu sehen", sagt ein Verfassungsschützer gegenüber profil: "Unsere Arbeit basiert auf einer generellen Grundskepsis." Das heißt: Beobachten, Gefahrenpotenziale analysieren, Netzwerke durchleuchten -und eingreifen, wenn Gefahr droht.
Auf Verfassungsschützern lastet große Verantwortung. Übersehen sie ein Detail, missachten sie einen entscheidenden Hinweis, kann das schwere Folgen haben. Anis Amris, der im vergangenen Dezember in Berlin einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verübte, war von den Behörden zuvor schon als "Gefährder" eingestuft worden. Er stand unter Beobachtung. Die deutschen Sicherheitskräfte mussten in der Folge viel Kritik einstecken.
Aktion "Palmyra"
In Österreich geht man lieber auf Nummer sicher. Der Einsatz vom vergangenen Donnerstag war lange geplant. Ebenso wie die Aktion "Palmyra" vor zweieinhalb Jahren. Damals wurden etliche Verdächtige nach einigen Tagen wieder entlassen, weil sich der Verdacht nicht erhärtet hatte. Doch ein gutes Dutzend wurde angeklagt oder steht vor einer Anklage. Vor allem wurde damals Mirsad O. aus dem Verkehr gezogen. Der charismatische Prediger, der in Medina studiert hatte und in Wien einmal islamischer Religionslehrer gewesen war, hatte einen Kreis von mindestens 50 Jugendlichen um sich geschart. Mehr als ein Dutzend dieser Jugendlichen sind heute vermutlich tot, in Syrien verschollen. Mirsad O. wurde vor einem Jahr zu 20 Jahren Haft verteilt. Am Tag der Urteilsverkündung saßen viele seiner jugendlichen Anhänger im Gerichtssaal. Sie waren empört. Im Internet waren Initiativen "Free Ebu Tejma" entstanden, die Geld sammelten für seine sechsköpfige Familie und seine Predigten immer wieder ins Netz stellten. Auch die Prozesse rund um Ebu Tejma, deren sich ein Grazer Staatsanwalt annimmt, der damit an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit geht, haben einen Einblick in die islamistische Parallelgesellschaft in Graz gegeben: Arrangierte Vielehen, Predigeraustausch, Koranverteilungsaktionen, Sozialbetrug. Über allem die Drohung: Wer ausschert, werde es bitter bezahlen. Fast in jedem dieser Prozesse gab es Zeugen, die zuvor bei der Polizei ausgesagt hatten und nun plötzlich von Amnesie befallen waren. Im Gerichtssaal konnten sie sich an nichts mehr erinnern. Zwei Zeugen wurden vor ihrer Aussage per Handy bedroht, doch die SMS konnten nicht zurückverfolgt werden.
Von Sicherheitsbehörden werden Syrien-Rückkehrer als "Gefährder" eingestuft. Doch wer gehört noch dazu?
Österreichische Sicherheitskräfte verwenden den schwammigen Terminus seit zwei Jahren, um ihnen namentlich bekannte potenzielle Straftäter zu benennen. Das Gesetz kennt allerdings keine "Gefährder ". In Deutschland musste das Innenministerium schon 2006 eine Definition vorlegen: "Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung ( ) begehen wird."
Im Dezember 2016 sprach das deutsche Bundeskriminalamt von 549 "Gefährdern".
In Österreich gibt es noch keine einheitliche Definition und keine Fallzahl. Nur so viel: Es sind nicht nur die 296 Austro-Dschihadisten, die im Fokus des Verfassungsschutzes stehen. Auch Rechtsextreme, Linksextreme und vereinzelt Mitglieder von staatsleugnenden Gruppierungen, den sogenannten Souveränen, werden observiert. Zu schaffen macht den Ermittlern, dass sich kleinkriminelle Milieus zusehends radikalisieren, allerdings ohne besonderen religiösen Anspruch. Abseits von neuralgischen Punkten wie Moscheen sind diese deutlich schwerer unter Beobachtung zu halten.
Seit einem halben Jahr gilt das neue Staatsschutzgesetz, das etwa den Aufbau von Vertrauensleuten in der überwachten Szene erlaubt.
Geht es nach Innenminister Sobotka, könnten bald noch mehr Befugnisse dazukommen. Er will "Gefährder" dauerhaft überwachen lassen - mittels elektronischer Fußfessel. Die Fessel wäre dann kein Instrument des Strafvollzugs mehr, sondern eine Präventivmaßnahme. Die Unschuldsvermutung würde einer Schuldvermutung weichen - ein Novum in unserer Rechtsordnung. Weshalb Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk schwere Bedenken anmeldet. Er sieht einen grundsätzlichen Widerspruch zur Verfassung, die den Schutz der persönlichen Freiheit vorschreibt. Dennoch: Am "Gefährder-Paragrafen" wird hinter den Kulissen eifrig gefeilt.
Update: Das neue Koalitionsabkommen, auf das sich die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP am vergangenen Wochenende geeinigt haben, sieht eine Fußfessel für Gefährder vor – trotz Bedenken von Verfassungsexperten.