Doppeldeutig: Testimonial für Konzernkritik, unterm Arm ein Amazon-Paket. Warum wirkt sie glücklich? "Entschlossen", entgegnet die SPÖ.
Konzernbilanz

Wie böse – oder gut – sind die multinationalen Unternehmen?

Wie böse – oder gut – sind die multinationalen Unternehmen?

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Was beim Aufmarsch der SPÖ am heurigen 1. Mai an Parolen über den Wiener Rathausplatz wehte, war kein Lüfterl von Klassenkampf, sondern eine steife Brise. Eine Auswahl: Die ÖVP/FPÖ-Regierung verstehe sich als "Vertretung der Superreichen und Konzerne". Die Gewerkschaften würden "auf Zuruf der reichen Kanzlerfreunde in der Industrie" geschwächt. Der "soziale Zusammenhalt" sei gefährdet. Zu den schärfsten Kritikern gehörte der SPÖ-Spitzenkandidat für die EU-Wahl, Andreas Schieder: "Kämpfen wir gemeinsam für ein gerechteres Europa. Kämpfen wir gemeinsam für ein Europa der Menschen statt der Konzerne."

In der Welt, wie Andreas Schieder sie derzeit wahlkampfbedingt sieht, spielen "die Konzerne" eine fast so unsägliche Rolle wie "rechte Hetzer, Brandstifter und Nationalisten". Die Großunternehmen haben es laut dieser Sichtweise abgesehen auf "unseren sozialen Wohnbau","unser Wasser","den Gemeindebau" und den "öffentlichen Verkehr". Und - Schieders Klassiker - "jedes Gasthaus" müsse "Steuern zahlen", während "große Konzerne Mittel und Wege finden, um sich durchzuschummeln". Der ansonsten bedächtige Präsident der Industriellenvereinigung, Georg Kapsch, machte seinem Ärger ob der SPÖ-Attacken auf die Konzerne vergangene Woche Luft: "Diese völlig undifferenzierten Attacken gegen diejenigen, die Arbeitsplätze schaffen - und der Herr Schieder hat noch keinen Arbeitsplatz geschaffen in seinem Leben -, die sind für uns wirklich inakzeptabel."

Was Schieder unter "Konzern" versteht, ist nicht ganz klar. Einen echten Global Player hat Österreich nicht, im Gegensatz zur Schweiz mit Nestlé, ABB oder Novartis. Selbst die größten heimischen Industriebetriebe wie Voestalpine und OMV rangieren im internationalen Vergleich als Nischenunternehmen. Im österreichischen GmbH-Gesetz heißt es: "Sind rechtlich selbständige Unternehmen zu wirtschaftlichen Zwecken unter einheitlicher Leitung zusammengefasst, so bilden sie einen Konzern." Dieser "Konzern"-Begriff sagt nichts über die Größe eines solchen Konglomerats aus. Die EU-Kommission - und mit ihr die Wirtschaftskammer Österreich -definiert "Großunternehmen" so: über 250 Mitarbeiter, über 50 Millionen Euro Umsatz, Bilanzsumme höher als 43 Millionen Euro. Nach dieser Definition gibt es in Österreich etwa 1200 Großunternehmen. Das profil-Schwestermagazin "trend" veröffentlicht jährlich eine Liste der 500 größten Unternehmen des Landes, von der Porsche Holding auf Platz 1 bis zum Brillenhersteller Silhouette auf Platz 500, darunter finden sich Industriebetriebe (wie Siemens Österreich), Handelskonzerne (wie Spar) und Dienstleistungsriesen (wie die Erste Bank).

Zahlen Konzerne keine oder zu wenig Steuern?

Richtig ist: Bilden ÖVP und FPÖ eine Koalition, haben Steuergeschenke für die Industrie Hochkonjunktur. 2005 schuf die Regierung unter ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel ein günstigeres Modell der Gruppenbesteuerung und senkte die Körperschaftsteuer (KöSt) von 32 auf 25 Prozent. Im Hinblick auf das Wahljahr 2022 stellt die türkis-blaue Regierung unter ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz nun 23 Prozent in Aussicht, ab 2023 schließlich 21 Prozent. Laut Arbeiterkammer profitieren die Großkonzerne von der KöSt-Senkung im Vergleich zu den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) allerdings überproportional. Nach ihrer Schätzung werden vier Fünftel der Steuersenkung auf die bestverdienenden fünf Prozent unter den Unternehmen entfallen, sprich auf die Großkonzerne. Im internationalen Vergleich erscheint der neue KöSt-Satz nicht ungewöhnlich. Das sozialdemokratisch geprägte Schweden besteuert die Gewinne von Unternehmen aktuell mit 21,4 Prozent, die Schweiz mit 17 Prozent. Regelrechtes Steuer-Dumping betreiben Irland (12,5 Prozent) und Ungarn (neun Prozent).

Der nominale Steuersatz sagt noch nichts über die tatsächliche Versteuerung nach Ausschöpfung aller Gestaltungsmöglichkeiten aus. Die Arbeiterkammer kommt in einer Auswertung der 700 größten Kapitalgesellschaften des Landes auf einen effektiven Steuersatz von 20 Prozent für 2017. Für die heimischen Banken lässt sich aus den Ertragsdaten der Nationalbank ein effektiver Steuersatz von 11,2 Prozent im Jahr 2018 herauslesen. Das ist kein Minusrekord: Für die Jahre 2008 und 2009 hatte die OeNB eine effektive Steuerbelastung der Banken von unter zehn Prozent errechnet.

Die Vertreter der Unternehmen sind bemüht, ihre Gesamtsteuerlast ins Treffen zu führen. Laut einer bisher unveröffentlichten Aufstellung der Industriellenvereinigung führen die heimischen Betriebe neben neun Milliarden Euro aus der KöSt weitere 42 Milliarden Euro an unternehmensbezogenen Steuern und Abgaben ab, darunter Sozialversicherungsbeiträge, Mineralölsteuer, Bankenabgabe oder Alkoholsteuer. Einer Studie der Weltbank und des Beratungsunternehmens PricewaterhouseCoopers zufolge zählt Österreich in Bezug auf die Unternehmensabgaben zu den Hochsteuerländern unter den EU-und OECD-Staaten; nur in Frankreich und Belgien sind die Betriebe noch stärker belastet.

Eines steht dabei allerdings außer Streit: Große Unternehmen können ihre Steuern kreativer gestalten als kleinere. 2016 beklagte EU-Steuerkommissar Pierre Moscovici nach der sogenannten "Lux-Leaks"-Affäre die "bis zu 30 Prozent höhere Steuerlast" der KMU im Vergleich zu Großkonzernen. Durch Steuerdumping entgingen der EU jährlich rund 100 Milliarden Euro, schätzte die EU-Kommission damals. Heute beziffert die EU-Kommission den Steuerentgang sogar auf mehr als 800 Milliarden Euro.

Am tollsten treiben es US-Giganten wie Facebook, Google, Apple, Amazon & Co., die laut Österreichs Finanzminister Hartwig Löger in Europa überhaupt nur zwischen null und neun Prozent an Ertragsteuern abführen. Gegenmaßnahmen für mehr Fairness scheitern regelmäßig an EU-Mitgliedstaaten wie den Niederlanden und Irland. Beide Länder profitieren vom internationalen Steuerkarussell. Und die Konzerne holen sich, was ihnen die Politik zugesteht.

Beuten Konzerne ihre Arbeitnehmer aus?

Laut einer Statistik der Wirtschaftskammer Österreich sind nur 0,4 Prozent aller Betriebe in Österreich Großunternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten. Bei diesen arbeiten allerdings 34 Prozent aller unselbstständig Beschäftigten. Aber zu welchen Bedingungen? Die detaillierteste Untersuchung über die Gagen der Österreicher liefert der Rechnungshof (RH) in seinem aktuellen Einkommensbericht 2018. Das mittlere Brutto-Jahreseinkommen (Median) eines unselbstständig Beschäftigten beträgt demnach 27.545 Euro. Laut RH zahlen Energieversorger, Finanzund Versicherungsdienstleister sowie die Informations-und Kommunikationssparte die höchsten Gehälter, also Branchen, in denen Großunternehmen dominieren. Am schlechtesten zahlen Unternehmen aus den Bereichen Beherbergung und Gastronomie, also meist Kleinbetriebe. Ein (mutmaßlich in einem Konzern beschäftigter) Industriemaschinenmechaniker verdient mit 39.938 Euro Brutto-Jahresgehalt deutlich mehr als ein (mutmaßlich in einem kleinen oder mittleren Gewerbebetrieb angestellter) Heizungsinstallateur (34.397 Euro). Handelsangestellte (darunter überproportional viele Frauen) befinden sich im unteren Einkommensdrittel, wohl unabhängig von der Größe des Unternehmens. 2014 setzte die Gewerkschaft einen Mindestlohn von 1500 Euro brutto im Handel durch.

Die am stärksten umstrittene arbeitsrechtliche Maßnahme der türkis-blauen Regierung, die Flexibilisierung der Arbeitszeit, betrifft tendenziell eher nicht die Großunternehmen. Denn in vielen Konzernen waren die Arbeitszeiten durch Betriebsvereinbarungen oder in den Kollektivverträgen schon bisher flexibel gestaltet. Die neuen Arbeitszeitregeln gelten seit September 2018. Die von ÖGB und AK befürchtete Beschwerdeflut der Arbeitnehmer blieb aus -was auch an den begleitenden Maßnahmen liegen dürfte: So setzten die großen Fach-Gewerkschaften als Ausgleich zum möglichen 12-Stunden-Tag und der 60-Stunden-Woche 100-prozentige Zuschläge, bezahlte Pausen oder das Recht auf eine 4-Tage-Woche durch.

Der Einfluss der Gewerkschaften und Betriebsräte steigt mit der Größe des Konzerns. Die mächtigsten Personalvertreter finden sich bei Österreichs größten Betrieben wie den ÖBB (40.000 Beschäftigte) und der Voestalpine (24.000 Mitarbeiter in Österreich). Generell gilt: Große Betriebe haben mit Sicherheit einen Betriebsrat, kleine eher nicht. In einer Studie der Arbeiterkammer aus dem Jänner 2017 ("Mitbestimmung im Betrieb") heißt es, "dass in größeren Unternehmen der gewerkschaftliche Organisationsgrad wesentlich höher ist als in kleineren Betrieben".

Fazit: Bezahlung und Rechte von Beschäftigten in Großunternehmen sind gewiss nicht schlechter als in kleinen und mittleren Betrieben, eher besser. Frauen sind in den Konzern-Führungsetagen allerdings nach wie vor unterrepräsentiert. Für Aufsichtsräte von Unternehmen, die börsennotiert sind oder mehr als 1000 Mitarbeiter beschäftigen, gilt seit Jänner 2018 allerdings eine Frauenquote von 30 Prozent. Wenn der Wille fehlt, greift der Gesetzgeber ein.

Machen Konzerne in Österreich Politik?

An der politischen Schlagkraft von Industrie und Großunternehmen besteht kein Zweifel. Die jüngste Steuerreform zeigt ihren Einfluss deutlich auf - aber auch dessen Grenzen. Eine Reform ohne Senkung der Unternehmenssteuern hatte die Regierung zwar angedacht, aber nicht umzusetzen gewagt. Die angekündigte Senkung der Körperschaftsteuer kommt erst mit Verspätung im Jahr 2022. Die Arbeitnehmer werden schon 2021 bedacht.

Dass die Arbeitgeber ihre Interessen in einer bürgerlich geführten Regierung effektiver durchsetzen als unter einem sozialdemokratischen Kanzler, liegt auf der Hand. Dank der ÖVP/FPÖ-Neugestaltung der Gebietskrankenkassen wird die Macht in den Gremien zugunsten der Arbeitgeber umverteilt. Auch die Änderungen im Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz und das neue Standortentwicklungsgesetz, das die Genehmigungsverfahren bei Infrastrukturprojekten (wie der dritten Piste am Flughafen Wien oder die 380-kV-Leitung in Salzburg) beschleunigen soll, kann die Industrie auf der Habenseite verbuchen.

Erfolg macht übermütig. So forderte die Industriellenvereinigung jüngst eine Senkung der Arbeiterkammer- Umlage und damit indirekt die Schwächung der AK. An der traditionellen österreichischen Sozialpartnerschaft ist den Großunternehmen offenbar nicht mehr viel gelegen. Sie wollen den Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern von der übergeordneten politischen Ebene von Wirtschaftskammer und Gewerkschaft in die Betriebe verlagern.

Auch in Brüssel zeigt sich ein klares Machtgefälle. Laut AK kommen auf 100 Lobbyisten der Wirtschaft zwei Interessenvertreter der Arbeitnehmer. Der Einfluss der Großkonzerne bildet sich auch im politischen Personal der Republik ab. Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck war CEO der A1 Telekom Austria, Finanzminister Hartwig Löger Vorstandsvorsitzender der Uniqa Österreich. SPÖ-Kanzler Christian Kern kam von der Chefetage der ÖBB (dreizehntgrößter Konzern Österreichs) in die Politik. Der Personalaustausch funktioniert in beide Richtungen. Nach Ende ihrer Karrieren wechseln Spitzenpolitiker gern zu Großkonzernen. So heuerten die früheren Wiener SPÖ-Stadträtinnen Brigitte Ederer und Sonja Wehsely bei Siemens an.

Zerstören Konzerne unsere Umwelt?

Der renommierte Energie-und Umweltexperte Stefan Schleicher stellt der heimischen Industrie eine "exzellente" Öko-Bilanz aus. Die Unternehmen der Papier-, Stahl-und Zementerzeugung seien europäische Musterbeispiele dafür, wie sich die schadstoffreiche Industrie seit den 1980er-Jahren wandelte. Für Österreichs schlechte Noten beim Klimaschutz sei nicht die Industrie, sondern in erster Linie der Privat-und Güterverkehr verantwortlich. Beim Lieferverkehr etwa der Supermärkte sieht Schleicher allerdings noch viele Verbesserungsmöglichkeiten: "Nicht jedes Milchpaket muss im 40-Tonner transportiert werden." Der Schweizer Migros-Konzern beliefere seine Filialen zum Teil mit Brennstoffoder Wasserstoff-Fahrzeugen. "Viele Großunternehmen sind sehr ambitioniert beim Klimaschutz. Wir haben aber nicht bei allen den Eindruck, dass sie die Zeichen der Zeit erkannt haben", meint ein Sprecher des WWF. Bei wichtigen Maßnahmen wie einem ökologischeren Steuersystem würden Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung bremsen.

Kann die Macht der Konzerne beschränkt werden?

In seinem verbalen Kampf gegen US-Giganten wie Google und Amazon packt Andreas Schieder gern den Bihänder aus: "Am besten wäre es, wenn man die Internetkonzerne zerschlagen könnte." Verstaatlichungsfantasien, wie sie der deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert gegen BMW & Co. hegt, kursieren hierzulande nicht. Die Vorsitzende der österreichischen Jungsozialisten, Julia Herr, schlägt vor, bei zukünftigen Privatisierungen eine Rückkauf-Option einzubauen, um "Fehlentscheidungen von Vorgängerregierungen zurücknehmen zu können". Herrs Vorschlag ist wohl genauso realitätsfern wie Schieders Zerschlagungsgelüste. Zudem ist das rote Konzern-Bashing nicht immer schlüssig. In der ORF-Diskussionssendung der EU- Spitzenkandidaten vergangenen Mittwoch meinte Schieder, "Europas Kraft" liege nicht im Militär, sondern "in seiner Wirtschaftskraft". Ohne Konzerne würde diese Kraft wohl ausgehen.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.