Wie Niederösterreich Kindergartenpädagogen in Wien abwirbt
Die öffentlichen Kindergärten in Wien verzeichnen derzeit 740 unbesetzte Stellen – ein Rekordhoch. In den privaten Einrichtungen fällt die Situation ähnlich aus: Die Wiener Kinderfreunde und die St. Nikolausstiftung melden zusammen fast 300 offene Stellen. Der Großteil der Jobs wird derzeit mit Assistentinnen und Assistenten besetzt, das sind Personen ohne formalen Abschluss. So soll verhindert werden, dass einzelne Kindergartengruppen schließen müssen. Wegen Krankenständen mussten jedoch einzelne Einrichtungen Eltern bitten, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. Es fehlt so viel Personal, wie noch nie zuvor. Warum? Ein Grund ist lange bekannt: die Pensionierungswelle. Gleichzeitig ist der Nachwuchs seltener bereit, sofort eine Kindergartengruppe zu leiten. Was Wien ebenfalls stark spürt: aggressive Abwerbe-Aktionen aus Niederösterreich. „Jenen, die von Wien nach Niederösterreich wechseln, werden zusätzliche Urlaubstage angeboten und mehr Dienstjahre angerechnet. Außerdem sind für viele die Öffnungszeiten um einiges attraktiver als in Wien“, sagt Manfred Obermüller von der Gewerkschaft younion.
„Strafzahlungen“ werden übernommen
Einige niederösterreichische Gemeinden würden auch mit finanziellen Angeboten locken, sagt der Gewerkschafter: „Wer in Wien an der Bildungsanstalt für Elementarpädagogik die Ausbildung macht, bekommt finanzielle Unterstützung von der Stadt, geht aber gleichzeitig eine Vereinbarung ein, für fünf Jahre in Wien zu arbeiten. Wer sich nicht daran hält, muss mit einer Abschlagszahlung bis zu 9500 Euro rechnen. Es gibt Gemeinden, die den abgeworbenen Kräften das Geld rückerstatten, wenn sie schon vor Ablauf der Frist wechseln.“ Die Zahl der abgeworbenen Fachkräfte ist schwer zu ermitteln. Jährlich hören etwa 400 Beschäftigte in städtischen Kindergärten auf. Pensioniert wurden bis Oktober 70. Der Rest hat Job, Bundesländer gewechselt oder aus anderen Gründen aufgehört.
Familiennachzug bringt System ans Limit
Wiens städtische Kindergärten sind mit bis zu 25 Kindern pro Gruppe knackevoll. Das darf angesichts des starken Familiennachzugs aus Syrien eigentlich nicht verwundern. Pro Monat kamen bis zu 300 Kinder zwischen drei und sechs Jahren in die Stadt. Als profil das Phänomen im Frühjahr breit beleuchtete, hieß es aus dem Büro von Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (NEOS) noch: „Im Kindergarten gibt es kein Problem, da ein Überangebot an Plätzen besteht.“ Warum ist nur sechs Monate später alles anders?
Als Grund wird das verpflichtende Kindergartenjahr für Kinder ab dem fünften Lebensjahr angeführt. Seit dem Frühjahr seien vermehrt Fünfjährige nach Wien gekommen, die einen verpflichtenden Kindergartenplatz benötigten. Der banalste Grund für die Personalnot in Wien: Es gehen viel mehr Kinder in den Kindergarten. Fast 50 Prozent besuchen bereits im Alter bis zwei Jahren eine Einrichtung. Steiermark und Oberösterreich sind Schlusslicht mit 21 beziehungsweise 22 Prozent. Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) versprach durch eine Finanzspritze von 4,5 Milliarden Euro bis 2030 rund 50.000 Kinderbetreuungsplätze zu schaffen. Die Zahl der ganztagsbetreuten Kinder ist seither leicht gestiegen. Die Frage, woher das Personal kommt, wurde offenbar zu wenig gestellt.