Wie die ÖVP auf ihrem Reformparteitag vermeintlich ihre Mitte fand
Die vergangenen Wochen waren für die ÖVP wie Life Ball und Song Contest zusammen: Mitte April beging sie ihr 70. Gründungsjubiläum mit Messe und Festakt im Wiener Schottenstift. Dienstag und Mittwoch vergangener Woche gab sie sich auf einem Parteitag ein neues Grundsatzprogramm – Höhe- und Endpunkt des im April 2014 gestarteten Reformprojekts „Evolution Volkspartei“. Parteiobmann Reinhold Mitterlehner – als Berufssarkast normalerweise nur bedingt euphoriefähig – ließ seinen Gefühlen in der Wiener Hofburg freien Lauf: „Das war einer der schönsten Tage in der Politik. Ich habe in meinem Leben noch nie einen so positiven Parteitag erlebt.“
Mit 70 lässt offenbar auch das Kurzzeitgedächtnis einer Organisation kollektiv nach. In keiner einzigen der 139 Wortmeldungen am Parteitag wurde jener Mann genannt, der den nun so gefeierten Prozess „Evolution Volkspartei“ initiiert hatte: Michael Spindelegger. Auch Reinhold Mitterlehner verzichtete in seinem Grundsatzreferat auf die Erwähnung seines Vorgängers. Nichts ist vergänglicher als die Erinnerung an einen gescheiterten ÖVP-Bundesparteiobmann.
Querlesen, weglegen, vergessen
Grundsatzprogramme sind die Glaubensbekenntnisse von Parteien. In der Praxis werden sie wie die Bedienungsanleitung für ein neues Haushaltsgerät verwendet: querlesen, weglegen, vergessen. Erst wenn etwas passiert, sucht man in allen Schubladen wieder danach und muss vielleicht erkennen, dass Gerät und Anleitung nicht mehr brauchbar sind.
So ähnlich muss es den ÖVP-Kadern nach dem Wahlfiasko im September 2013 gegangen sein: Nur 24 Prozent hatten die Schwarzen geschafft – das schlechteste Ergebnis der Parteigeschichte. Nach dem Wahltag setzten sich ein paar Funktionäre zusammen, um über die Zukunft zu diskutieren, darunter Dietmar Halper, der Leiter der Parteiakademie, und der niederösterreichische Agrarlandesrat Stephan Pernkopf.
Der eine befasst sich von Berufs wegen mit Grundsatzprogrammen, der andere war früher Kabinettschef von Josef Pröll und betreute dessen Projekt zur Parteierneuerung. Heute nennen sie es „Evolution“, unter Pröll hieß es „Perspektiven“. Der Unterschied: Pröll versuchte, die Partei von oben zu reformieren. Diesmal begann das ÖVP-Generalsekretariat unter seinem Chef Gernot Blümel mit einem Massen-Brainstorming an der Basis. Rund 13.000 Reformvorschläge und Anregungen brachten die Mitglieder der 15 Teil- und Landesorganisationen ein. Die Bünde gingen mit unterschiedlichem Ernst an die Sache heran: Mehr als die Hälfte aller Beiträge kamen vom Seniorenbund, wobei der Eifer der schwarzen Pensionisten weniger durch deren Tagesfreizeit erklärbar ist als durch die Mobilisierungsanstrengungen von Seniorenbund-Präsident Andreas Khol.
Leitkultur und Leistung
Wenn es feierlich oder traurig wird – wie bei Jubiläen, Begräbnissen und Konventen –, bezeichnen sich Parteien gern als „Wertegemeinschaft“. Der dazugehörige Wertekanon ist von links bis rechts der gleiche: Gegen Demokratie, Menschenwürde, Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Rechtsstaat, Nachhaltigkeit und Solidarität lässt sich auch wenig einwenden. Aber nur die ÖVP und die FPÖ subsumieren diese Werte unter „europäische Leitkultur“. Außenminister Sebastian Kurz lehnte den umstrittenen Begriff als Integrationsstaatssekretär im Mai 2011 explizit ab. Im neuen Grundsatzprogramm der ÖVP taucht er zwei Mal auf, an einer Stelle durchaus imperativ: „Wer unsere Leitkultur grundsätzlich ablehnt, soll auch nicht von ihren Leistungen profitieren.“
Umstritten ist, wie ein solches Grundsatzprogramm primär wirkt. Als Credo nach innen, das Parteimitglieder verbindet und verpflichtet? Oder nach außen als „Werbeinstrument“ für Wähler und Bürger, wie der Politologe Anton Pelinka vergangene Woche in der „Zeit“ ausführte?
Dass eine Partei ihr Grundsatzprogramm im Zweifel weniger als „Werbeinstrument“ begreift, sondern als Ausdruck eigener Befindlichkeit, zeigt das Kapitel „Europa und die Welt: Modell Österreich“. In einem Zwischenentwurf wurde auf die Erwähnung der Schutzfunktion Österreichs für Südtirol mangels Relevanz im 21. Jahrhundert verzichtet, was prompt einen Aufstand in Tirol unter Führung von Andreas Khol auslöste, der nur mit der erneuten Aufnahme Südtirols in das ÖVP-Grundsatzprogramm befriedet werden konnte.
In der Mitte gibt es bekanntlich weder Ecken noch Kanten
Spektakuläre Zäsuren waren von „Evolution Volkspartei“ von Anfang an nicht zu erwarten – so weit reichten die Fremdwortkenntnisse der politischen Beobachter. „Wir haben gar nicht den Anspruch, alles Alte über Bord zu werfen. Das Alte hat uns schließlich zum Erfolg geführt“, sagte Mitterlehner am Parteitag, ohne auszuführen, welche Erfolge er genau meinte. Die programmatischen Fundamente bleiben: „Grundlage unserer Politik ist das christlich-humanistische Menschenbild“; „Wir lehnen den Schwangerschaftsabbruch ab“; „Wir bekennen uns zum Gymnasium“; „Wir wollen den Erwerb von Eigentum fördern“.
Interessanterweise bemüht sich das Programm nicht um eine Definition „bürgerlicher“ Politik. „Bürgerlichkeit“ als zentraler Terminus wird durch eine altbekannte Lokalisierung ersetzt: „Wir sind die Partei der politischen und gesellschaftlichen Mitte.“ In der Mitte gibt es bekanntlich weder Ecken noch Kanten. Worüber die ÖVP sogar froh zu sein scheint – denn: „Wir stehen für eine politische Kultur der Mäßigung und Vernunft.“
Verdichtet bietet das neu kodifizierte schwarze Weltbild eine Mischung aus liberalen Aufholmanövern, selbst gewählten Sekundärtugenden und unüberwindbaren Vorurteilen.
Es ist der Volkspartei durchaus anzurechnen, wenn sie in ihrem Grundsatzprogramm festhält, „den Menschen nicht vorzuschreiben, wie sie zu leben haben“, die verschiedenen Religionen „als Wertequellen“ nahezu gleichsetzt und sich den Möglichkeiten „der Biotechnologie am Beginn des menschlichen Lebens“ stellt. Man war zuvor deutlich verbohrter.
Die Werte der „schwäbischen Hausfrau“
Wahrscheinlich liegt es an der Skandalwelle der vergangenen Jahre (Buwog, Telekom, Hypo Alpe-Adria), dass die Programmautoren die jahrhundertealte Figur des „ehrbaren Kaufmanns“ und dessen Tugenden wie „Fleiß und Leistungswillen“ nicht nur in der Wirtschaft, sondern gleich „in allen gesellschaftlichen Bereichen“ zum „Leitbild“ erhöhen. Auch die Freunde in der deutschen CDU – und die sind immerhin Kanzlerpartei – beschwören gern die Werte der „schwäbischen Hausfrau“. Oder in den Worten von Parteichef Mitterlehner: „Die ÖVP steht für alle, die in der Früh aufstehen und anpacken.“ „Trittbrettfahrer-Mentalität“ wird im Programm „in allen Bereichen“ abgelehnt.
Künstler gelten ja gemeinhin als Langschläfer, weshalb die Skepsis der ÖVP im Kapitel „Bildung und Kultur“ nachvollziehbar ist: „Wir lehnen es ab, dass staatliche Kulturförderung zu politischen Abhängigkeiten der Kulturschaffenden führt.“ Interpretierende profil-Übersetzung: „Wenn wir wieder das Kulturressort haben, werden die linken Staatskünstler nicht mehr mit Steuergeldern dafür subventioniert, dass sie die ÖVP anbrunzen.“
Tatsächlich Schärfe zeigt das neue schwarze Grundsatzprogramm in der Festlegung des Verhältnisses des Bürgers zum Staat, die bereits im Anfangssatz erfolgt: „Der Staat ist für die Bürgerinnen und Bürger da. Und nicht umgekehrt.“ Daraus folgt: mehr „Eigenvorsorge“ und weniger „staatlich verbürgte Solidarität“; „Privatisierung staatlicher Unternehmungen, die nicht der Daseinsvorsorge dienen“; mehr „Bürgergesellschaft“ statt „Monopol des Staates in der Sozialpolitik“. ÖVP-Staatssekretär Harald Mahrer sprach in seiner Wortmeldung am Parteitag von „Staatsfetischisten“ und nannte das neue Programm „eine Entziehungskur von der Droge Staat“.
Bundesländer gelten bei der ÖVP offenbar nicht als Droge, nicht einmal als weiche: „Wir vertreten einen modernen Föderalismus.“ Einen Absatz zuvor fordern die Programmautoren freilich ein „schlankes Staatswesen“ und „sparsamen Umgang mit Steuergeld“.
Dieser Widerspruch sollte dringend im nächsten Grundsatzprogramm aufgelöst werden.