Dass sich Abgeordnete von ÖVP und SPÖ in einem Untersuchungsausschuss gut gelaunt austauschen, hat man länger nicht gesehen. Vergangenen Mittwochvormittag war es so weit. Im Ernst-Schrödinger-Lokal des Parlaments tagte erstmals der von der ÖVP im Alleingang eingesetzte „Rot-Blaue Machtmissbrauch-Untersuchungsausschuss“. Erste Auskunftsperson war der Leiter der Finanzprokuratur und Kurzzeit-Innenminister Wolfgang Peschorn. Die Befragung war mitten im Laufen, als sich Andreas Hanger, Fraktionsführer der ÖVP, von seinem Sessel erhob, den weitläufigen Raum durchmaß und sich zu SPÖ-Fraktionsführerin Eva-Maria Holzleitner gesellte. Es folgte – so viel war zu beobachten – ein amikales Kurzgespräch, bevor sich Hanger – lächelnd – wieder zu seinem Platz begab.
Es dürfte mehr als eine Episode gewesen sein. Heimlich, still und leise laufen seit einigen Wochen schwarz-rote Annäherungsversuche. Ausgelotet wird, ob und wie nach der kommenden Wahl eine Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ möglich ist.
Erleichtert wird die Vertrauensbildung durch einen gemeinsamen Gegner: Herbert Kickl. Unter den Pragmatikern in ÖVP und SPÖ hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, die eigene Energie besser in die Auseinandersetzung mit dem FPÖ-Obmann als in schwarz-rote Scharmützel fließen zu lassen. Von „staatspolitischer Verantwortung“ ist dieser Tage in den ehemaligen Großparteien viel zu hören.
Augenfällig ist die Harmonie im U-Ausschuss.
Ziemlich beste Feinde
profil hat ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker und SPÖ-Bundesgeschäftsführer Klaus Seltenheim gefragt, was sie von der jeweils anderen Partei halten.
Die „Schlammschlacht“, die NEOS-Abgeordneter Yannick Shetty vorhersagte, blieb bisher aus. Man könnte annehmen, ÖVP und SPÖ sind darauf bedacht, einander zu schonen. So exerziert die ÖVP bisher einen rein blauen Machtmissbrauch-U-Ausschuss, keinen roten. Offiziell geladen sind allein freiheitliche Auskunftspersonen (die sich vergangene Woche aber verweigerten). Und einziges Thema ist bisher Herbert Kickls Wirken im Innenministerium, zu dem auch mehr Akten geliefert wurden als zu roten Ministerschaften. Hanger und Holzleitner verstehen einander auch außerhalb der eigentlichen Sitzungen gut, heißt es aus beiden Fraktionen. Ob abgesprochen oder nicht: Ein Nichtangriffspakt zwischen ÖVP und SPÖ zeichnet sich ab – und zwar deutlich.
Angespannt ist nach wie vor das Verhältnis zwischen Hanger und Jan Krainer, dem SPÖ-Fraktionsführer im U-Ausschuss zur Gebarung der Covid-19-Finanzierungsagentur, der dazu die mutmaßliche bevorzugte Behandlung von Milliardären und Ex-Milliardären wie Siegfried Wolf und René Benko durch das ÖVP-dominierte Finanzministerium durchleuchtet.
Teilnehmer berichten von wüsten Auseinandersetzungen zwischen Hanger und Krainer bei nicht öffentlichen Sitzungen. Aber noch wurden keine ÖVP-Promis einbestellt. Ein wechselseitiger Verzicht nützt beiden Parteien. Wollte die SPÖ die ÖVP sekkieren, könnte sie den schwarzen Klubobmann August Wöginger laden. Im Gegenzug wäre die Volkspartei versucht, die sozialdemokratische Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures vor den Machtmissbrauch-U-Ausschuss zu bringen, um Postenbesetzungen, Inseratenvergaben und Beratungsverträge aus deren Zeit als Verkehrsministerin zu durchleuchten.
Derzeit sieht es allerdings danach aus, dass die ÖVP sogar auf die Vorladung ehemaliger SPÖ-Spitzenpolitiker wie der beiden Ex-Kanzler Werner Faymann und Christian Kern verzichten könnte. Der inoffizielle Nichtangriffspakt dürfte halten.
Gerade Doris Bures wäre die falsche Person für eine Ladung. Die Nationalratspräsidentin gilt als eine Anhängerin einer Neuauflage der Zusammenarbeit der früheren Großparteien und soll sich im Hintergrund dafür starkmachen. Von 2007 bis 2014 war sie Ministerin in der Großen Koalition. Und sie lebte die rot-schwarze Aussöhnung vor. Als Bundesgeschäftsführerin hatte sie 2006 den ebenso aggressiven wie erfolgreichen roten Wahlkampf gegen den „Lügenkanzler“ Wolfgang Schüssel verantwortet. Nach der Wahl war es vergessen.
Diskrete Gespräche soll Michael Ludwig führen. Längere Zeit grollte der Wiener Bürgermeister, weil die ÖVP die Affäre um Milliarden-Veranlagungen der Wien Energie parteipolitisch ausgeweidet hatte. Doch nun scheint wieder alles gut. Ludwig betreibt bereits eine inoffizielle Koalition mit der ÖVP auf kommunaler Ebene. Sein Partner in der Bundeshauptstadt ist der Präsident der Wiener Wirtschaftskammer und Obmann des Wiener ÖVP-Wirtschaftsbunds Walter Ruck. Auch Ruck macht aus seiner Präferenz für eine Zusammenarbeit mit der SPÖ kein Hehl.
Ludwig nützt seine Beziehungen zu den ÖVP-Landeshauptleuten. Offen will keiner der Beteiligten darüber sprechen, aber ein langgedienter Landespolitiker meint zur schwarz-roten Kontaktaufnahme: „Ich habe schon sehr viele Wahlkämpfe im Bund verfolgt. Dass schon so früh sondiert wird, gab es noch nie.“
Noch vor einem halben Jahr war das Verhältnis zwischen ÖVP und SPÖ auf Bundesebene vergiftet. Angesichts der deutlichen Führung der FPÖ in den Umfragen scheinen sich jetzt die Pragmatiker – und nicht die schwarzen Sozifresser und roten Klassenkämpfer – durchzusetzen.
Ich habe schon sehr viele Wahlkämpfe im Bund verfolgt. Dass schon so früh sondiert wird, gab es noch nie.
Ein langgedienter Landespolitiker
findet die frühe schwarz-rote Kontaktaufnahme auffällig.
Allerdings, so heißt es aus beiden Parteien, gehe es noch nicht um Inhalte. Im Vordergrund steht die Vertrauensbildung. In der Steiermark, in Kärnten und Tirol ist die Große Koalition bereits das bewährte Modell. In Graz und Innsbruck reagiert jeweils ein ÖVP-Landeshauptmann mit der SPÖ, in Klagenfurt der SPÖ-Landeshauptmann mit der Volkspartei. Für den steirischen Landeshauptmann Christopher Drexler ist Schwarz-Rot beziehungsweise Rot-Schwarz ein Zukunftsmodell: „Man muss einen unbelasteten Neustart wagen und die alten gegenseitige Vorbehalte mit neuem Gestaltungswillen durchbrechen.“
Auch eine Ebene unter den Landeshauptleuten wird an einer Großen Koalition gebastelt. Hört man sich um, fällt der Name des Wiener SPÖ-Finanzstadtrats Peter Hanke. Dieser hat ein besonderes Verhältnis zu Kanzler Karl Nehammer. Die Familien sind seit Langem befreundet. Hanke gilt – neben Doris Bures – auch als möglicher roter Kanzler oder Vizekanzler, sollte SPÖ-Vorsitzender Andreas Babler eine Zusammenarbeit mit der ÖVP verweigern. SPÖ-intern ist zu hören, Hanke würde – neben dem früheren ORF-Chef Alexander Wrabetz – auf den Posten des Finanzministers spitzen.
Andreas Bablers Verhältnis zu Nehammer gilt als vergleichsweise gut. Als es während der Pandemie zu einem Corona-Ausbruch im Flüchtlings-Erstaufnahmezentrum Traiskirchen kam, kooperierten der SPÖ-Bürgermeister und der damalige ÖVP-Innenminister vertrauensvoll. Auch Nehammer soll aktiv das Gespräch zur SPÖ suchen, um eine Zusammenarbeit nach der Nationalratswahl auszuloten. Eine Kooperation mit FPÖ-Obmann Herbert Kickl hat Nehammer dezidiert ausgeschlossen. Will er Kanzler bleiben und sein Wort halten, braucht er die SPÖ.
Rotes Misstrauen
Andreas Babler ist in die schwarz-roten Annäherungsversuche kaum eingebunden. Er duldet sie, wobei nicht klar ist, ob er immer über alle Gespräche informiert wird. Denn ausgerechnet der SPÖ-Chef gilt als Hindernis für eine Wiederauflage der Großen Koalition. Mehrfach hat Babler die Zusammenarbeit mit der ÖVP ausgeschlossen. Dass seine klassenkämpferischen Umgangsformen taktisch nicht gerade hilfreich sind, beklagen intern SPÖ-nahe Industriemanager – aber auch Spitzengewerkschafter wie der Vorsitzende der Bauarbeiter Josef Muchitsch. Diesen zitierte die „Kleine Zeitung“ im Februar mit den Worten, Andreas Babler dürfe nicht „als Schreckgespenst der Wirtschaft dastehen“, die SPÖ müsse in die Mitte rücken, Vermögensteuern sollten kein Muss für eine rote Regierungsbeteiligung sein. Und Muchitsch bestätigte auch, dass es hinter den Kulissen Gespräche für eine schwarz-rote Zusammenarbeit gebe. Allerdings, so Muchitsch: „Man spürt: Die ÖVP zieht es zur FPÖ. Weil die billiger für den Machterhalt ist.“
Mag die SPÖ-Elite wieder die Nähe zur ÖVP suchen, ist Misstrauen in der Breite der Partei dennoch weitverbreitet. Bestätigt wurde die Skepsis durch die Koalitionen, die die ÖVP vergangenes Jahr mit den Freiheitlichen in Niederösterreich und Salzburg einging. „Jede demokratische Partei ist besser als die ÖVP“ – auch die Kickl-FPÖ, erklärte Noch-Nationalrat Klaus Köchl Anfang März in der „Kleinen Zeitung“. Auf profil-Nachfrage schwächt er seine Aussagen bezüglich Kickl ab, bleibt, was die Volkspartei betrifft, aber dabei: „Die ÖVP gehört einfach einmal auf die Oppositionsbank.“
Die ÖVP gehört einfach einmal auf die Oppositionsbank.
SPÖ-Nationalrat Klaus Köchl
Spätestens mit der Machtübernahme von Sebastian Kurz habe die ÖVP ihr Gewissen verloren – und es seitdem nicht mehr gefunden, lautet die rote Erzählung. Die Gewerkschaft verzeiht türkise Einschnitte wie den 12-Stunden-Tag oder den Umbau der Krankenkassen nicht. Dass Sebastian Kurz zudem die rot-schwarze Regierung erst als Staatssekretär sabotierte und sie 2017 gänzlich platzen ließ, haben führende Rote nicht vergessen. Und im Nationalrat fühlen sich die Oppositionsabgeordneten seit Jahren von der türkisenen Regierungsmannschaft herablassend behandelt. Vor allem im Bund sei die Partei noch von Kurz türkis geprägt. „Die ÖVP muss inhaltlich und im Stil erst wieder zeigen, dass sie koalitionsfähig ist“, sagt SPÖ-Bundesgeschäftsführer Klaus Seltenheim.
Dass Karl Nehammer diese Kehrtwende vollbringt, können sich nur wenige Rote im Bund vorstellen. Für wahrscheinlicher halten es die Genossinnen und Genossen, dass ÖVP und FPÖ nach der Nationalratswahl auch im Bund zusammenfinden.
Einerseits ist das eine rote Mobilisierungstaktik, ein Hilfeschrei an die eigene Wählerschaft. Andererseits gibt es gebrannte Genossinnen und Genossen: In Niederösterreich hätte Sven Hergovich nur zu gerne mit Johanna Mikl-Leitner koaliert. Doch er pokerte zu hoch, und die schwarze Landeshauptfrau entschied sich für die Freiheitlichen unter Udo Landbauer. Hergovich gilt allerdings auch nicht als Adressat des neuen schwarzen Werbens. Die Beziehungen der ÖVP zu den roten Bürgermeistern wie St. Pöltens Matthias Stadler sind weitaus besser.
Die SPÖ-Pragmatiker – vor allem auch die Gewerkschafter – wollen vermeiden, dass es ihnen im Bund wie den Genossen in Niederösterreich geht und sie für weitere Jahre in der Opposition stranden. Da es die Partei bei einer Kooperation mit der FPÖ zerreißen würde und sich eine Mehrheit mit Grünen und NEOS wahrscheinlich nicht ausgeht, bleibt als taktische Alternative nur die ÖVP.
Mehr als fraglich ist derzeit, ob ÖVP und SPÖ gemeinsam überhaupt eine stabile Mehrheit bei der Nationalratswahl im Herbst (voraussichtlich am 29. September) erreichen. Der Dritte im Bunde wären wohl die NEOS, denn die Lust auf eine Zusammenarbeit mit den Grünen ist in der ÖVP nach fünf Jahren Ehe geschwunden. Auch eine schwarz-rot-pinke Koalition hätte aus jetziger Sicht, wenn überhaupt, nur eine knappe Mehrheit.
Das Management einer Dreierkoalition ist wesentlich komplexer. Angesichts der Labilität einer solchen Allianz würden manche Vertreter in ÖVP und SPÖ sogar eine Zweierkoalition befürworten, selbst wenn das Gegenüber den Regierungschef stellt. Eine lose Willensbildung soll es in diesem Zusammenhang schon geben. Die stärkere Partei nach der Nationalratswahl bekommt den Bundeskanzler, die andere den Finanzminister.
In der FPÖ – viele Freiheitliche rechnen fix mit einer ÖVP-SPÖ-Zusammenarbeit – denkt man daher ein halbes Jahr vor der nächsten Wahl bereits an die übernächste. Das wohl nicht ganz unberechtigte blaue Kalkül: Eine reine Kickl-Verhinderungskoalition würde nicht lange halten.
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.