Wie religiös sind die Österreicher?
Im Land wird nicht mehr so viel gebetet wie früher, und in vielen Orten bleiben am Sonntag die Kirchen halb leer. „Die religiöse Praxis erodiert weiter“, sagt Regina Polak, Professorin am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien. Seit 1990, der ersten Welle der Europäischen Wertestudie (European Values Study, EVS) in Österreich, erforscht sie das religiöse Leben der Österreicherinnen und Österreicher.
Der aktuelle Befund: Noch vor zehn Jahren deklarierten sich 73 Prozent der Befragten als römisch-katholisch; 2018 sind es 63 Prozent. Die Entwicklung bei Personen ohne Bekenntnis verlief spiegelbildlich (2008: 16 Prozent; 2018: 21 Prozent). 1990 raffte sich noch jeder zweite Christ ein Mal im Monat auf, den Gottesdienst zu besuchen, inzwischen ist die fromme Schar um 14 Prozentpunkte dezimiert (36 Prozent). Nur mehr 16 Prozent räumen der Religion in ihrem Leben einen „sehr wichtigen“ Platz ein, 1990 waren es noch 27 Prozent.
Nächstes Jahr erscheint eine vom Soziologen Max Haller herausgegebene Migrantenstudie. Sie zeigt, so Haller, dass Zuwanderer religiöser sind als die Einheimischen, „allerdings weniger religiös als die Bevölkerung in den Herkunftsländern, wobei türkischstämmige Befragte deutlich religiöser sind als Zuwanderer aus Ex-Jugoslawien“. Und: Mit steigender Bildung wird die Beziehung zu Gott weniger wichtig, die Aufenthaltsdauer hat indes keinen Einfluss.
63 Prozent bezeichnen sich als religiöse Person
Dass mit der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft die Abwendung von der Kirche weitergeht, war zu erwarten. Zumal der Umgang mit Missbrauchsfällen und umstrittene Bischofsernennungen Wasser auf die Mühlen von Kritikern gossen. Umso erstaunlicher ist, dass die Religiosität der Bevölkerung im Sinne einer unverbindlichen Weltanschauung kaum darunter litt: 73 Prozent der Österreicher sagen 2018, dass sie an Gott glauben.
63 Prozent bezeichnen sich als „religiöse Person“, nicht einmal jeder dritte Befragte gibt an, nicht religiös zu sein (29 Prozent), und nur vier Prozent verstehen sich als „überzeugte Atheisten“. Große Unterschiede fand Polak, die mit der Soziologin Lena Seewann den Religionsteil der neuen Wertestudie verantwortet, zwischen den Altersgruppen: Bei über 50-Jährigen bezeichnen sich 71 Prozent als religiös, bei den unter 30-Jährigen sind es 47 Prozent.
Mehr Engagement in kirchennahen Einrichtungen
Noch bemerkenswerter und ziemlich neu ist der steigende Zulauf zu religiösen Organisationen sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. 2008 engagierten sich zwölf Prozent in Pfarren und kirchennahen Einrichtungen, heuer war es plötzlich mehr als ein Drittel (35 Prozent). Studienautorin Polak geht davon aus, dass hinter diesem Boom vor allem Freiwillige stehen, die sich im Zuge der Flüchtlingskrise vor drei Jahren bei der Caritas, der Diakonie und in Pfarren einbrachten. Allein die Caritas konnte damals auf 50.000 private Helferinnen und Helfer zählen, davon waren im Vorjahr 30.000 noch aktiv. „Man will dazugehören, wie man vor allem dort sieht, wo Kirchen sozial aktiv sind“, so Polak. In Deutschland, wo Kirchen in der Flüchtlingsdebatte klar Stellung bezogen, vermeldet man inzwischen mehr Ein- als Austritte.
Die Religionswissenschafterin hat aber noch eine weitere Erklärung für das christliche Revival: „Die Religion wird für Teile der Bevölkerung zu etwas Identitätsstiftendem, so wie Lederhose oder Dirndl.“ Dieses „Kulturchristentum“ ist nicht ganz neu, erfährt aber – wohl auch in Abgrenzung zu den jüngeren Islamdebatten – eine Wiederbelebung. Polak stellt sich angesichts der Befunde allerdings auf Konflikte ein, zumal ein anderer Teil der Bevölkerung – vor allem junge, gebildete Männer – mit Religion gar nichts anzufangen weiß. Polak: „Wir stecken mitten in einem Prozess, mit dem die Rolle der Religion in der Gesellschaft neu ausgehandelt wird.“
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