Muss sich nicht in jedem Beziehungsgefälle einer unterordnen, um das Konstrukt aufrechterhalten zu können?
Wille-Helbich
Nein, optimal ist es eine Win-win-Situation für beide, wo sich niemand unterordnen oder unterwerfen muss. Beide müssen etwas davon haben. In der Politik ist das natürlich weitaus komplexer, weil ja nicht nur zwei Parteien involviert sind, sondern auch andere Interessensgruppen sowie die jeweiligen Landesregierungen, die natürlich auch abweichende Meinungen haben.
Jede Beziehung ist eine Art von Machtgefälle, wobei einer stärker als der andere ist. Zumindest ist das die Theorie vieler Experten.
Wille-Helbich
Macht spielt in allen Beziehungen eine Rolle. Per se ist Macht nichts Schlechtes. Macht bedeutet, im positiven Sinn Verantwortung zu übernehmen, im besten Fall human zu handeln. Es ist ja nicht so, dass die Machtverteilung in einer Konstellation immer gleich bleibt. In der Sexualität ist zum Beispiel derjenige der Mächtigere, der Nein sagt.
Aber die Weltverbesserung vulgo humane Handlungen – das rangiert im politischen Spiel nicht oft an vorderster Front.
Wille-Helbich
Ein Machthaber wie Putin denkt natürlich vor allem daran, Russland seine alte Stärke zurückzugeben, alles andere ist ihm egal. Diese Verantwortung trägt er seiner Ansicht nach gegenüber dem russischen Volk.
Claudia Wille-Helbich, 62,
ist Ärztin und Psychotherapeutin. Seit über 30 Jahren widmet sie sich in ihrer Wiener Praxis den Schwerpunkten Paar- und Sexualtherapie. Ihre Berufsstationen umfassen analytisch orientiertes Arbeiten in Kriseninterventionszentren, Aus- und Fortbildung(en) in unterschiedlichen psychotherapeutischen Richtungen, unter anderem integrative Gestalttherapie, Psychodrama, systemische Familientherapie und Hypnotherapie.
Putin füttert aber mit seiner sogenannten Spezialoperation in der Ukraine sicherlich auch seinen Narzissmus. Nicht umsonst hat er eine Statue von Peter dem Großen auf seinem Schreibtisch stehen. Ein Herrscher, der seinen eigenen Sohn öffentlich auspeitschen ließ, weil er gegen ihn Widerstand geleistet hatte.
Wille-Helbich
Natürlich spielt der Narzissmus eine Rolle, aber eben auch das Gefühl der Verpflichtung, Stärke für das Volk wahren zu müssen.
Den letzten großen Krach in Österreichs aktueller Regierungskonstellation gab es, als Umweltministerin Leonore Gewessler auf EU-Ebene der Renaturierung zustimmte, was Kanzler Karl Nehammer als Verfassungsbruch empfand. Könnte eine derartige Vorgangsweise auch als Akt einer bewussten Provokation interpretiert werden?
Wille-Helbich
Natürlich fühlt sich der andere so entmachtet. Solche Alleingänge bedürfen dann wenigstens im Nachhinein einer Erklärung und einer Entschuldigung. Wichtig ist eine Konsensfindung im Vorfeld zur Frage: Was entscheiden wir gemeinsam und was nicht? Dazu eine Geschichte eines seit 40 Jahren glücklich verheirateten Paars. Sie erklärt das Geheimnis dieser Ehe so: „Anfangs haben wir vereinbart, dass er die großen und ich die kleinen Entscheidungen fälle.“ Er: „Und ich frage sie bei allen Dingen: Ist das jetzt eine kleine oder große Entscheidung? Meistens lautet ihre Antwort: eine kleine.“
In partnerschaftlichen Beziehungen, egal ob politisch oder privat, sind Konflikte programmiert. Gibt es da taugliche Präventionsstrategien?
Wille-Helbich
Erstaunlicherweise kommen junge Paare, die vor einer Hochzeit oder einer Familiengründung stehen, immer mehr in meine Praxis. Auch Patchwork-Konstellationen sind ja oft schwierig. Da erarbeiten wir zum Beispiel Konfliktbewältigungsmodelle, entwickeln Handwerkszeuge für schwierige Situationen. Inzwischen hat sich in der jüngeren Generation herumgesprochen, dass eine Scheidung – nicht nur aus finanziellen Gründen – sehr schmerzhaft sein kann. Und dass eine Beziehung Arbeit erfordert und kein Selbstläufer ist.
Wäre das auch eine Methode knapp nach Regierungsbildungen?
Wille-Helbich
Da bräuchte man einen Großgruppen-Analytiker, der Erfahrung mit der Komplexität solcher Konstrukte hat.
Wovon hängt der Grad der Lernfähigkeit eines Menschen ab?
Wille-Helbich
Von der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Wenn die intakt ist, geht man gesünder, reifer und reflektierter in neue Beziehungen und kann sich von seinen Wiederholungszwängen befreien.
Sprache ist eine Macht. In welche Rhetorikfallen kann man tappen?
Wille-Helbich
Wichtig sind Ich-Botschaften. Man sollte bei sich und seinen Bedürfnissen bleiben und nicht den anderen darauf aufmerksam machen, was er oder sie falsch macht. Generalisierungen durch Worte wie „immer“, „ständig“, „jedes Mal“ sind besser zu vermeiden, weil es immer Ausnahmen gibt. Ein Mensch kann sich nur für einen anderen ernsthaft interessieren, wenn er sich nicht angegriffen fühlt. Auch Interpretationen sind übergriffig, wie zum Beispiel: „Du machst das, weil du Aufmerksamkeit brauchst.“ Anmerkungen wie „Mein Therapeut/Freundinnen finden das genauso“ sind überflüssig. Wenn zwei Parteien verhandeln, haben solche Außenansichten hier nichts verloren.
Wir alle fallen in unseren Beziehungen gern in die Muster unserer Kindheit.
Wille-Helbich
Wenn Defizite oder Kränkungen aus unserer Kindheit in einer Beziehung getriggert werden, schlittern viele in Gefühle von Ohnmacht oder Hilflosigkeit, die sie schon als Kind in bestimmten Situationen empfunden haben. Unbewusst hoffen wir, dass wir die Verletzungen von damals richtiggestellt bekommen. Das muss man sich bewusst machen. Man sollte lernen, sich in solchen Situationen selbst zu beruhigen. Wut zu haben, ist schon okay, aber sie ungebremst auszuagieren, schafft Probleme. Besser „Ich bin wütend, weil“ anstelle von „Du hast mich schon wieder so wütend gemacht …“.
Wenn wir die klassischen Beziehungsphasen auf unsere Regierung transponieren, wo sind wir jetzt?
Wille-Helbich
Stecken geblieben im Machtkampf. Nach dem Realitätsaufprall kommt eine Phase der Enttäuschung. Die Grünen sind aber nicht in der Enttäuschung verharrt, sondern haben sich dem Machtkampf gestellt.
Authentizität ist ein wichtiger Faktor im Wahlkampf.
Wille-Helbich
Im Wahlkampf wird für Politiker dafür wenig Raum sein.
Was passiert mit Menschen, die sich ständig verstellen müssen?
Wille-Helbich
Das ist wahnsinnig anstrengend. Auf die Dauer macht es krank, wenn es nur um Schein statt Sein geht. Dieser Stress kann Depressionen, Panikattacken zur Folge haben, aber auch körperliche Konsequenzen nach sich ziehen wie Hautprobleme, Herzkrankheiten, Rückenschmerzen.
Kann man überhaupt Erfolg haben ohne Narzissmus?
Wille-Helbich
Natürlich gibt es auch Alphaweibchen oder Alphamännchen ohne narzisstische Anteile.
Nach welchem Typ Mensch sollte man denn Ausschau halten, egal ob im Privaten oder in der Politik?
Wille-Helbich
Da schwenken wir zu den Bindungstheorien. Der Idealfall ist ein Mensch, der eine liebevolle, sichere Kindheit erlebt hat.
Und wenn es nicht so märchenhaft gelaufen ist?
Wille-Helbich
Da gibt es dann den ängstlich-ambivalenten Typen, der im Glauben ist, dass mit dem richtigen Menschen alles gut wird. Aber dann natürlich sieht, dass die Realität solchen Erwartungen nicht standhält. Das ist einer, der gerne streitet, sich wieder versöhnt usw. Dann wäre da noch der vermeidende Typ: Das ist jemand, der eine karge Kindheit hinter sich hat und im Bewusstsein lebt, auf sich selbst schauen zu müssen. Er vermeidet Nähe und bleibt auf Distanz.