Wie Taliban-Frage die heimischen Afghanen spaltet
Afghanen in Österreich. Sie sind für ÖVP-Innenminister Karl Nehammer in erster Linie - eine Last. "Wir gehören zu den meistbelastetsten Ländern und haben schon jetzt die zweitgrößte afghanische Community in der EU, gerechnet auf eine Million Einwohner. Das bringt große Probleme bei der Integration und in der inneren Sicherheit", twitterte er vergangenen Mittwoch.
Seit dem Umsturz in Afghanistan will der Innenminister auch nur den leisesten Gedanken an eine Aufnahme weiterer Afghanen im Keim ersticken. Sein Motto heißt: Abschieben. Mit dieser simplen Message hat sich die Regierungspartei diplomatisch ins Out gestellt. Doch das innenpolitische Kalkül überwiegt. Es geht darum, bei Wählern zu punkten, die bei Afghanen in erster Linie an den Namen Leonie denken. Jene 13-jährige Österreicherin, die mutmaßlich von mehreren Afghanen vergewaltigt und ermordet wurde. Solche Straftäter seien nach verbüßter Haft abzuschieben, beharrt Nehammer - entweder zu den Taliban oder in ein Nachbarland. Hat er recht?
Schon vor dem schockierenden Mordfall ließ die heimische Kriminalitätsstatistik keinen Zweifel daran, dass es ein Problem mit jungen, männlichen Afghanen gibt. 2020 wurde jeder zehnte Angehörige dieser Volksgruppe straffällig. Dennoch wird der reine Fokus auf Kriminelle dem Leben der Austro-Afghanen nicht gerecht. Schon gar nicht angesichts ihrer persönlichen Betroffenheit.
Die Community ist erstaunlich vielfältig - und nach Volksgruppen unterschiedlich tangiert von den Entwicklungen in Afghanistan. "In Österreich leben rund 10.000 sunnitische Paschtunen, bis zu 25.000 schiitische Hazara, und weitere Tausende sunnitische Tadschiken, Usbeken oder Turkmenen", schätzt Sarrajudin Rasuly, Afghanistan-Experte und Gerichts-Sachverständiger. "Die Taliban waren immer eine Bewegung der Paschtunen unter dem Deckmantel des Islam. Am Land leben die sunnitischen Paschtunen meistens streng nach der Scharia oder dem Ehrenkodex Paschtunwali - unabhängig von den Taliban."
Anders die Hazara. Als Schiiten waren sie lange vor den Taliban eine verfolgte Minderheit in Afghanistan, was Millionen zur Flucht in den Iran trieb. Das erklärt, warum ein guter Teil der afghanischen Migranten, die ab 2015 nach Österreich kam, vorher im Iran lebte oder gar dort geboren ist. Für sunnitische Fundamentalisten gelten Hazara - auch wegen ihrer liberaleren Religionspraxis - als gottlose Sekte.
Im Gym von Ronny Kokert, der Flüchtlinge im Rahmen seines Projektes "Freedom Fighter" trainiert: Der 18-jährige Hazara, Hussein Evazali, bangt um seine Angehörigen. Er kam vor drei Jahren nach Österreich, besucht die HTL und ist zweifacher Staatsmeister im Amateur-Kickboxen. Er hat keinen Telefonkontakt zu Eltern, Geschwistern, Schulfreunden in Afghanistan. Ins Bergdorf südlich von Kabul, Provinz Ghazni, gibt es derzeit kein Durchkommen. Sein Dorf fiel bereits Tage vor Kabul in die Hand der Taliban. "Bei uns gingen sie von Tür zu Tür. Im Nachbarort haben sie 40 Zivilisten getötet. Die USA sprach von Kriegsverbrechen", zeigt er eine Twitter-Meldung der US-Botschaft.
Besonders groß ist seine Angst um Hazara-Frauen. Sie sind kulturell weniger strengen Verhaltensnormen unterworfen (sichtbar am loseren Kopftuch, sofern sie überhaupt eines tragen). Evazali drückte gemeinsam mit Mädchen die Schulbank oder machte mit ihnen Radausflüge. Undenkbar außerhalb der Hazara-Dörfer. Für weibliche Hazara könnte der Rückfall in eine islamische Steinzeit besonders hart ausfallen.
"Meine Oma trägt jetzt Burka. Sie ist 75 Jahre alt"
Neben Frauen, die in Afghanistan ein westliches Leben führten, bangen ehemalige Mitarbeiter internationaler Organisationen um ihre Sicherheit. "Mein Onkel hat für die EU, meine Tante für die NATO gearbeitet. Beide wurden verhaftet. Wir wissen nicht, wo sie sind." Der 22-jährige Ismail Noori ist ein Box-Kollege Evazalis und ebenfalls Doppelstaatsmeister. Der Tadschike lebt seit sechs Jahren in Wien und kocht im Hotel Sacher. Mit Verwandten in Kabul telefoniert Noori fast täglich.
Glaubt man den Taliban, müssen sich weder Frauen noch frühere Feinde fürchten. Noori gibt keinen Deut auf deren Schalmeientöne. Er will Angehörige so rasch wie möglich aus Afghanistan rausholen. "Die Frauen in Kabul trauen sich nicht mehr, ihr Gesicht zu zeigen und haben sich sofort Burkas besorgt. "Meine Oma trägt jetzt Burka. Sie ist 75 Jahre alt."
Was stimmt, was nicht? In einem ehemaligen Fabriksgebäude im 12. Bezirk in Wien absolvieren afghanische Frauen einen Lehrgang für Online-Videojournalismus. Der Workshop des Interkulturellen Entwicklungszentrums (IEZ) wirkt wie eine strenge Antithese zur Taliban-Welt, in der Frauen in der Öffentlichkeit möglichst unsichtbar und stumm sein sollen. Es ist der Tag nach dem Fall Kabuls. Einige Frauen sind völlig übermüdet, weil sie aus lauter Sorge die Nacht am Handy verbrachten. Sie diskutieren besonders heftige Videos aus Afghanistan, die auf Social Media kursieren. "Mädchen werden mit einem Serum betäubt und in Soldatensärgen aus dem Land geschmuggelt." Eine Paschtunin wendet ein: "Wir dürfen nicht alles glauben." Gerade im Journalismus müsse man solche Quellen besonders genau checken.
"Das könnte mich treffen, wäre ich dort"
Aus erster Hand weiß die 19-jährige Spogmai Rahmani zu berichten: "Verwandte haben mir erzählt, dass die Taliban in ihrem Dorf von Haus zu Haus gehen und Mädchen mitnehmen. Das könnte mich treffen, wäre ich dort." Ihr bekannte Journalisten seien verprügelt, eine Journalistin vom Arbeitsplatz nach Hause geschickt worden. Die Taliban dementierten solche Machenschaften. Sarina Rahman (20), die in Österreich geboren ist, sagt: "Aktuell scheint es, als würden die Taliban mit der Gesellschaft kooperieren. Sie knüppeln Frauendemos in Kabul weder nieder, noch veranstalten sie dort öffentliche Hinrichtungen. Wie es am Land aussieht, ist allerdings schwerer zu checken. Die Taliban haben offensichtlich einen Deal mit den USA und wollen, dass man sie auch im Westen akzeptiert. Mal sehen, wie lange."
"Was sagst du zu den Taliban?" Beim McDonald's am Bahnhof Wien Meidling diskutieren junge Afghanen die Lage in der alten Heimat. "Was die Taliban in ihrer ersten Regierungszeit von 1996 bis 2001 angerichtet haben, das entspricht nicht dem Islam. Aber damals kämpfte jeder gegen jeden. Jetzt ist eine andere Zeit unter einer anderen Führung. Ich bin vorsichtig abwartend. Ein Sprichwort sagt: Im ruhigen Gewässer erkennt man den Jäger." Abdul Haseeb Adalatyar ist 22 Jahre alt und seit 18 Jahren in Österreich. Der Amateurfußballer beim Wiener Sportclub, studiert islamische Theologie und Jus. Sein Vater, Nassim Adalatyar, ist eine bekannte Person in der Community. Er hat die erste afghanische Moschee in Wien gegründet und dort als Imam gepredigt.
"Die Taliban sind bekannt dafür, dass sie ihr Wort nicht halten", sagt der 22-jährige Mohamad S. Der Angestellte ist ein gebranntes Kind. Während der ersten Taliban-Herrschaft schickte die Mutter seine Schwestern zur Sicherheit ins Ausland, er musste nach der Geburt zehn Tage von Wasser und Zucker leben. Was beide verbindet: Sie sind froh, dass die Amerikaner raus sind aus Afghanistan. "Bei einem Angriff der Amerikaner auf eine Hochzeit starben 47 Zivilisten. Alles Verwandte von mir", sagt Adalatyar. Was die beiden Freunde noch verbindet: Sie sind beide praktizierende Moslems. Dadurch haben sie ein Grundverständnis für Kleidervorschriften im Alltag. In islamischen Ländern sollten Frauen Kopftuch tragen, aber auch Männer nicht ihren Oberkörper oder ihre nackten Knie zeigen, meinen sie. Sex vor der Ehe ist für beide tabu. "Der typische junge Afghane in Österreich hat einen Bezug zur Religion, geht nicht fort, wohnt bei den Eltern." Man wüsste genau, wer Partys macht und wer nicht, erzählen die beiden, ohne dies zu verurteilen. Ein Kindheitsfreund von Adalatyar ist so ein Party-Macher. Der Student wollte an dem Gespräch mit profil teilnehmen, sagte dann aber doch ab. "Er war ein großer Freund der Amerikaner und fühlt sich emotional angegriffen, weil ich die neue Entwicklung in Afghanistan differenziert sehe", erzählt Adalatyar.
"Nur der Islam hält Afghanistan zusammen"
Wie sieht sein Vater die neuen Herrscher am Hindukusch? Sind die Taliban Muslime? "Von den Grundprinzipien her, ja. Aber es geht ihnen zu sehr ums Bestrafen. Dabei zur Selbstjustiz zu greifen, das ist nicht mit dem Islam kompatibel." Das Streben nach Wissen sei im Islam außerdem Pflicht - für Männer und Frauen. "Mädchenschulen sollte man fördern, nicht verbieten." Nassim Adalatyar hat in den 1980er-Jahren gegen die sowjetischen Besatzer gekämpft. Er ist Delegierter der früheren Mudschaheddin-Partei Hizb-i Islami, die bis zu einem Friedensabkommen 2017 auch gegen die Amerikaner und die afghanische Regierung kämpfte. Für Adalatyar ist klar: "Nur der Islam hält Afghanistan zusammen, deswegen muss auch die Politik islamisch sein." Er wünscht sich in Afghanistan Frieden, durch eine demokratische Regierung, die sich an der Scharia orientiert. "Wenn die Taliban mit Gewalt gegen alle anderen regieren, wird meine Partei sie in Afghanistan genauso politisch bekämpfen wie damals die Russen oder später die Amerikaner", erzählt er in seinem Wiener Wohnzimmer im 4. Bezirk.