Wie türkischstämmige Österreicher den Israel-Konflikt sehen
Aufgrund ihrer geographischen Lage und ihrer Nato-Mitgliedschaft galt die Türkei lange als Vermittler zwischen Israel und den Palästinensern. Mit dieser Rolle sei es seit dem Wochenende vorbei, meint der Soziologe und Politikberater Kenan Güngör, der das Forschungsbüro „think.difference“ betreibt. Im Gespräch mit profil analysiert er die Rede des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zum hundertjährigen Bestehen der türkischen Republik. „Die Vermittlerrolle, die er hätte haben können, hat er durch die Rede völlig verwirkt. Er ist ein Teil des Problems und kein Teil der Lösung“, so Güngör.
Denn Erdoğan schlug sich in der Geburtstagsrede auf die Seite der Hamas. Die Terroristen seien laut Erdoğan „Freiheitskämpfer“, der „Westen” Schuld und Israel Kriegsverbrecher.
„Sein Signal war entscheidend, er hat Israel als Dämon dargestellt und ihnen ihr Existenzrecht abgesprochen. Zugleich bezeichnete er eine Terrororganisation wie die Hamas als Freiheitskämpfer und Mujahideen. Wenn das von einem Politiker kommt, dann ist das das größte Reinwaschen, das die Hamas bekommen kann“, kritisiert Güngör.
Doch der Präsident ist nicht der erste türkische Politiker, der sich mit Gaza solidarisiert. Kemal Kılıçdaroğlu, Oppositionsführer und Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP sprach bereits Unterstützung für Gaza aus. Auch der ehemalige Ministerpräsident und Oppositionelle Ahmet Davutoğlu sagte, er würde den Widerstand der Palästinenser unterstützen.
So sehen Austrotürken den Konflikt
Sich auf der „Seite“ der Palästinenser zu positionieren, ist in der Türkei weit verbreitet. „Im ‚Westen‘ ist man eher pro Israel, im ‚Osten‘ gibt man die Schuld den Israelis. Es stehen zwei unterschiedliche Perspektiven im Raum“, so Güngör.
Während streng gläubige Türken den „Westen“ und somit auch Israel, als Bedrohung für den Islam sehen, befürchten Nationalisten, dass der „Westen“ eine Bedrohung für das „Großtürkentum“ sei. Linke Türken solidarisieren sich wegen ihrer antiimperialistischen Haltung gegen den Kapitalismus und Amerika mit Palästinensern.
Auch der kurdische Teil der Bevölkerung hätte besonders viel Verständnis für Palästina, lehnt die Hamas – eine Terrororganisation – jedoch strikt ab. „Kurden kämpften in der Vergangenheit gegen den Islamischen Staat“, merkt Güngör an.
Das Verständnis für Israel nimmt jedoch immer weiter ab. „Die meisten Türken unterstützen die Hamas nicht, machen Israel jedoch für das Morden der Zivilisten verantwortlich. Das zu kritisieren ist völlig legitim, jedoch entsteht dadurch eine Wut, die den Antisemitismus befeuert. Dieses antisemitische Feindbild würde Erdoğan schaffen wollen“, warnt Güngör.
„Kritisiert, was er mit kurdischer Bevölkerung macht“
Erdoğan Rede sei in Güngörs Augen besonders heuchlerisch: „Das, was Erdoğan an Israel kritisiert, ist, was er de facto mit seiner kurdischen Bevölkerung macht. Diese Verlogenheit muss man sichtbar machen, er ist die stärkere Militärmacht, die Kurden unterdrückt. Er ähnelt seinem Gegner (Anm: Israel) viel mehr, als er sich von ihm unterscheidet.“