Wien am Bosporus
Wie viele Gastarbeiter-Combos haben schon ihr Heimweh herausgeschrien, doch nichts stimmt so traurig wie der Klub der armen Türken, den man zufällig entdeckt, wenn man den 15. Wiener Gemeindebezirk durchstreift, einen traditionellen Zuwandererbezirk mit Mietkasernen und immer noch Substandard-Wohnungen. Die Tür zum Kellerlokal steht offen. Das Erste, was man sieht, ist eine Österreichfahne mit Bundesadler, daneben die türkische. Ein Weißhaariger sitzt in der Würde seines Alters an einem wachstuchbedeckten Tisch und starrt gebannt auf den Fernsehschirm: Recep Erdogan, Soldaten im Nackengriff mit Spuren von Misshandlungen, geschwungene Fäuste, hassverzerrte Gesichter.
Eine andere, versunkene Welt, zeigt ein riesiges Poster an der Wand, eine alte Fotografie seiner Heimatstadt Kirsehir in Zentralanatolien. Die Farben sind verblasst, aber sein Herz ist dort geblieben. In Kirsehir. Seine Töchter sind in die Türkei zurückgegangen. Die erste Gastarbeiterwelle hat ihn nach Duisburg zu Mannesmann gespült, 1992 kam er nach Österreich. Wie auch seine jüngeren Freunde, mit denen er hier Tee trinkt, einige von ihnen arbeitslos. Freitags gehen sie in die salafistische Moschee im Nachbarhaus, die von Arabern betrieben wird.
Experten schätzen, dass mehr als die Hälfte der etwa 300.000 türkischstämmigen Menschen in Österreich Recep Erdogan ziemlich gut finden.
Ihren Klub gibt es seit 2004. Da war Recep Erdogan gerade türkischer Premier geworden und die Organisierung seiner Landsleute im Ausland wurde von der türkischen Regierung damals gezielt in Angriff genommen.
Sie alle besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft; Deutsch haben sie nie richtig gelernt, bei den Kollegen am Bau oder am Fließband. Erdogan gut. MHP (eine rechtsextreme Partei, besser bekannt als "Graue Wölfe“) auch gut. Kurdenpartei nein. "Wir sind auch Kurden“, sagt einer. AKP sehr gut. Politik schlecht. Er senkt den Daumen nach unten. Feytullah Gülen (der Prediger in den USA, der laut Erdogan den Putsch angezettelt haben soll) ganz schlecht. Todesstrafe ja. Was die österreichische Politik betrifft, herrscht allergrößte Verwirrung. Strache gut, SPÖ gut. Nicht wissen, ob Strache oder SPÖ. Frauen und Töchter Strache gewählt. Vielleicht falsch? Man zuckt mit der Achsel und schaut weiter gebannt türkisches Fernsehen. Was heute in der Türkei geschieht, lässt ihr Herz brennen.
Experten schätzen, dass mehr als die Hälfte der etwa 300.000 türkischstämmigen Menschen in Österreich Recep Erdogan ziemlich gut finden.
Auch in Wien folgten sie einer in den sozialen Netzwerken verbreiteten Erdogan-Order "Schlaf nicht, kümmere dich um deine Heimat“
Das war nicht immer so. Die ersten türkischen Gastarbeiter aus den 1960er-Jahren wollten bloß Geld verdienen und sparen, um später daheim etwas aufbauen zu können. Doch das zog sich. Die Frauen folgten, Kinder kamen, und die Familie blieb. Erste Klubs und Vereine wurden gegründet, für die Freizeit, auch zum Beten. An den hohen islamischen Feiertagen schickte die türkische Regierung türkische Imame nach Österreich. Mit der Gründung des Auslandsvereins "ATIB“ ("Türkisch-islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich“), geleitet von einem türkischen Botschaftsrat, wurde das professionalisiert. Bis zum Beschluss des neuen Islamgesetzes unterstanden die ATIB-Imame der türkischen Religionsbehörde, wurden von dort bezahlt.
ATIB ist in den vergangenen Jahren - wie auch alle anderen türkischen Moschee-Vereine - parallel zur Entwicklung der AKP unter Erdogan immer konservativer geworden. Koran und Hadithe, die Prophezeiungen des Propheten, auf die sich salafistische Hassprediger so gern berufen, gelten als unveränderbare Wahrheiten. Die "Türkische Föderation“ ("Graue Wölfe“), früher nur nationalistisch und rechts, hat sich islamisiert. In Deutschland haben sich einige ihrer Anhänger der IS-Terror-Organisation in Syrien angeschlossen. Einen politischen Islam vertritt auch die "Islamische Föderation“ (IF), die in Deutschland unter dem Namen "Milli Görüs“ unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. All diese Vereine werden mehr oder weniger aus der Türkei finanziert. Über "UEDT“, der europaweit aktiven Lobby-Organisation der Erdogan-Partei AKP, sind jederzeit Tausende Türken zu mobilisieren. Auch in Wien folgten sie einer in den sozialen Netzwerken verbreiteten Erdogan-Order "Schlaf nicht, kümmere dich um deine Heimat“ und zogen mit Allahu-Akbar-Rufen vor das Parlament. Über die UEDT wurden auch Denunziationsaufrufe verbreitet: Wiener Türken sollten Namen von Oppositionellen und Gülen-Anhängern an türkische Regierungsstellen weiterleiten.
Wirklich Angst haben müssen derzeit Anhänger der Gülen-Bewegung.
Türkische Demonstranten verwüsteten am Tag nach dem niedergeschlagenen Putsch in der Türkei den Schanigarten eines kurdischen Restaurantbetreibers. Videos zeigen einen aufgebrachten jungen Mob und türkisch-österreichische Bürger, die nicht selbst Hand anlegen, aber offenbar nichts dabei finden. Immer wieder Grüppchen, die ihre Finger zum berüchtigten "Wolfsgruß“, dem Zeichen der "Grauen Wölfe“ spreizen.
Kurdische Vereinslokale wurden schon vor einigen Wochen systematisch beschmiert. Die einzige kurdische Abgeordnete im Parlament, die Grün-Politikerin Berivan Aslan, wurde als "PKK-Groupie“ diffamiert. Ihr Foto auf einer Plakattafel im Demonstrationszug der türkischen Verbände mitgetragen, SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder auf dieselbe Weise als "PKK-Lobbyist“ vorgeführt.
Die linken Kurden in Wien, die sich im Dachverband "Feykom“ sammeln, und Terrorismus ablehnen, werden bei ihren Informationsständen immer wieder von Türken, die den "Wolfsgruß“ machen, provoziert. Einer der älteren Kurden-Funktionäre sagt: "Ihre Rache ist wie Kristallnacht.“
Wirklich Angst haben müssen derzeit Anhänger der Gülen-Bewegung. Wie viele es in Österreich gibt, darüber herrscht Schweigen. Die wie eine Sekte organisierte, im Bildungsbereich aktive konservativ-islamische Gruppe, die bis vor drei Jahren mit Erdogan im Gleichschritt marschierte, gibt sich bedeckt. profil sprach mit einem Funktionär der Bewegung, der sich zur Zeit in der Türkei aufhält. Der Putschversuch hat ihn im Urlaub überrascht. Er hofft, wieder auszureisen zu dürfen.
Mittlerweile haben in der Aktivistenszene junge Heißsporne das Sagen. Die feindlichen Energien werden zunehmen.
An der Eskalation ist die Politik nicht unschuldig. Während die FPÖ jahrelang gegen den Islam und jede neue Moschee hetzte und so die türkischen Vereine den Radikalen zutrieb, praktizierten SPÖ und ÖVP Schönrednerei und ließen unsaubere Zustände zu, wohl mit der Hoffnung, sie würden bei Wahlen davon profitieren.
Eine AKP-nahe Zeitung, die in Wien erscheint, wurde 2013 bis 2015 durch Inserate im Wert von 100.000 Euro seitens der Stadt Wien und Wiener Wohnen gesponsert, weitere AKP-Medien im Zuge der Hofburg-Wahl. Das wurde durch eine Anfrage der NEOS im Wiener Gemeinderat bekannt.
Im 15. Wiener Gemeindebezirk betreibt etwa die "Islamische Föderation“ ("Milli Görüs“) ein islamisches Privatgymnasium. Der Obmann des dazugehörigen Schulerhaltervereins ist gleichzeitig im Schulamt der Islamischen Glaubensgemeinschaft (IGGiÖ) als Fachinspektor für konfessionelle Schulen tätig. Kontrolle sieht anders aus. Der Präsident der "Islamischen Föderation“, Mehmet Arslan, war vorher Bezirksrat der SPÖ. Bei den Gemeinderatswahlen 2015 kandidierte er wieder für die SPÖ, an unwählbarer Stelle. Auf Facebook hat er in diesen Tagen ein Posting geteilt, in dem die Todesstrafe in der Türkei gerechtfertigt wird ("Präsident Erdogan kann nicht gegen den Willen des Volkes handeln“).
Birol Kilic, Obmann der alevitischen "Türkischen Kulturgemeinde“, hat den Umgang der etablierten Parteien mit den Organisationen des politischen Islam schon vor Jahren kritisiert: "In die Politik schaffen es nur überangepasste Türken, die immer lächeln, sich als Super-Türken verkaufen, jedes Jahr drei Zentimeter mehr Bauchumfang haben, und nie offen reden. Unter dem Vorwand des Dialogs wird die Unwissenheit österreichischer Politiker über den politischen Islam ausgenutzt.“ Das war 2009.
Mittlerweile haben in der Aktivistenszene junge Heißsporne das Sagen. Die feindlichen Energien werden zunehmen. Die politische Situation schreit danach. Manche warnen vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Doch sei an eines erinnert: Einmal schon gab es in Wien ein türkisches Fahnenmeer. Und das war nicht wegen Erdogan. Das war während der Fußballeuropameisterschaft in Wien 2008.