Wien: Der rote Mythos von der sozialen Durchmischung bröckelt gewaltig
Das ORF-Zentrum in Wien ist vom Trubel der City ziemlich weit entfernt. In der Villengegend am Hietzinger Küniglberg geht es ruhig und beschaulich zu. Was das Leben in der Stadt stressig, anstrengend oder auch verstörend machen kann, kommt für gewöhnlich nicht bis hierher.
Einem ORF-Mitarbeiter, der im weniger entrückten Bezirk Favoriten wohnt, fiel auf dem Weg zur Arbeit jüngst wieder auf, wie krass sich seine beiden Lebenswelten unterscheiden: "14A Station Erlachplatz, Favoriten, Donnerstag halb zwei: die anderen 2 autochthonen Österreicher im vollen Bus sind über 70. Ab dem Gürtel ändert sich das Bild", schrieb der Journalist auf seinem privaten Twitter-Account. Allgemeine Empörung war die Folge. Der Tenor: Er sei wohl ein verkappter Rassist, wenn er im Bus nichts Besseres zu tun habe, als Ausländer und Einheimische zu zählen. Dabei hatte der ORF-Mann nur auf die Realität in Wien hinweisen wollen: "Es ist schlecht, dass wir von Multikulti reden, de facto aber in abgeschlossenen, kaum durchlässigen Blasen leben. Und dieser Trend wird stärker", erklärte er.
Wahrscheinlich hätte die kleine Anekdote in einer anderen europäischen Großstadt weniger böses Blut verursacht. Für einen richtigen Wiener gehört es jedoch zur ideologischen Grundausstattung, die perfekte soziale Durchmischung seiner Stadt zu loben. Paris, London oder Rom mögen ihre Glasscherbenviertel und Banlieus haben - in Wien wohnen Arm und Reich, Einheimische und Zuwanderer seit jeher friedlich Tür an Tür und teilen sich dieselbe Infrastruktur. So weit die Theorie. Auch im soeben entschiedenen Kampf um die Nachfolge von Langzeitbürgermeister Michael Häupl ging es häufig um den angeblich so großartig funktionierenden sozialen Ausgleich in der Stadt. Das Gratisblatt "Heute" veröffentlichte etwa Mitte Jänner einen Wordrap mit den zwei Kandidaten Michael Ludwig und Andreas Schieder. Beide wurden gefragt, welche drei Dinge sie an Wien besonders toll finden. Antwort Ludwig: soziale Durchmischung, Zusammenhalt, Gemütlichkeit. Antwort Schieder: Lebensqualität, öffentliche Verkehrsmittel und, erraten, soziale Durchmischung.
Schon beim Bau der ersten großen Gemeindebauten in den 1920er-Jahren hatte die SPÖ auf eine gute Verteilung im Stadtgebiet geachtet. Deshalb wurde etwa der Karl-Marx-Hof in unmittelbarer Nähe zu den Döblinger Villenvierteln errichtet. Lange Zeit schien dieses Konzept aufzugehen. Doch mittlerweile bröckelt der Mythos vom einträchtigen Miteinander wie der Putz an manchem Sozialbau. "Segregation nimmt in größeren Städten weltweit zu. Auch in Wien hat sich die Situation in den letzten Jahren verschärft", meint Justin Kadi, Assistent an der Technischen Universität mit den Schwerpunkten Stadtentwicklung, Gentrifizierung und soziale Ungleichheit. "Die Politik versucht zwar nach wie vor, die Idee der gemischten Stadt zu implementieren. Aber es funktioniert nicht mehr so wie früher." Kadi macht nicht zuletzt den Wohnungsmarkt dafür verantwortlich. Der Hauptgrund dürfte aber in der starken Zuwanderung der vergangenen Jahre zu finden sein. Seit 2010 wuchs die Stadt um fast 200.000 Menschen - darunter viele sozial Schwache aus anderen Kulturkreisen. Die Zahl der Österreicher ohne Migrationsbezug ging im gleichen Zeitraum zurück, bei den Geburten liegt ihre Zahl schon unter 30 Prozent.
Von Zuständen wie in Paris ist Wien nach wie vor weit entfernt. Aber die Bruchlinien sind schon gut erkennbar. Längst gibt es Gegenden, in denen Österreicher aus Prinzip nicht mehr wohnen wollen. Es gibt Grätzel, in denen die Arbeitslosigkeit weit über 20 Prozent liegt, und solche, in denen fast nur wohlhabende Akademiker wohnen. In Wien-Neubau kann man kaum etwas essen, das nicht "bio","vegan" oder wenigstens "fairtrade" ist. In Favoriten, Rudolfsheim, Teilen Ottakrings und der Brigittenau sollte die Jause vor allem "halal" sein.
Der neue Wiener Bürgermeister wird ordentlich zu tun haben, wenn er diese Entwicklung aufhalten oder gar umkehren will.
Bildung: Es ist nicht egal, wo ein Kind das Alphabet lernt
Heinz Faßmann, der neue Bildungsminister, hatte einen guten Start. Sein Konzept der Deutschklassen für Kinder, die der Sprache nicht ausreichend mächtig sind, bekam sogar von der SPÖ halbwegs gute Noten. Der Wiener Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky wollte lediglich wissen, woher die Räume für Hunderte neue Vorschulklassen kommen sollen.
Die Frage ist aus Wiener Sicht berechtigt. Zuletzt gab es hier fast 16.000 außerordentliche Schüler - also Kinder, die wegen ihrer mangelnden Deutschkenntnisse nicht benotet werden. Nirgendwo sind die Folgen der starken Zuwanderung so augenfällig wie im Bildungssystem: Die Hälfte aller Schüler in Wien hat eine andere Mutter- und Umgangssprache als Deutsch. In den Volksschulen sind es fast 62 Prozent, in den Neuen Mittelschulen über 75 Prozent, nur in den AHS ist der Wert mit rund 40 Prozent niedriger. Natürlich sind diese Kinder in manchen Schulen mühelos in der Lage, dem Unterricht zu folgen - in anderen auf erschreckende Weise nicht. "Wir sind mehr Volksschule als Hauptschule", sagt ein Lehrer einer Neuen Mittelschule in Favoriten. "Sinnerfassend zuzuhören, fällt meinen Schülern bis zur 4. Klasse extrem schwer." Auch ohne Standesdünkel lässt sich erahnen, dass in der wohlhabenden Josefstadt flüssiger Deutsch gesprochen wird. Doch wenn Bildung der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist, sollten nicht ausgerechnet Kinder aus ärmeren Haushalten an sogenannten Brennpunktschulen zermürbt werden. Und von der Fähigkeit der Eltern, "es sich zu richten", sollte deren Zukunft schon gar nicht abhängen. Tut es aber, im steigenden Ausmaß: "Ich weiß aus dem eigenen Bekanntenkreis, dass manche Eltern ihr Kind bei der Oma anmelden, nur damit es in einem anderen Bezirk in eine bessere Volksschule gehen kann", erzählt die Wiener ÖVP-Gemeinderätin Sabine Schwarz. Das Problem fange in den Kindergärten an. "Anspruch auf ganztägige Betreuung haben nur Kinder, deren Eltern Vollzeit arbeiten. Das ist in Migrantenhaushalten oft nicht der Fall. Genau diese Kinder würden von der Ganztagsbetreuung aber am meisten profitieren."
"Zwei Qualitätsstufen im Wiener Bildungssystem"
Der Fotograf Moritz Schell wollte seine Kinder eigentlich in eine ganz normale öffentliche Schule im 2. Bezirk schicken. Nach schlechten Erfahrungen in einem Kindergarten und dem Besuch einer Volksschule mit nur noch zwei Österreichern in der Klasse entschied sich Schell aber für einen katholischen Kindergarten im 1. und eine Privatschule im 8. Bezirk (Josefstadt)."Es gibt längst zwei Qualitätsstufen im Wiener Bildungssystem", ist er überzeugt. "Aus einem naiven Idealismus heraus mit der Zukunft meiner Kinder zu experimentieren, das kommt für uns nicht infrage." Der Vater will, dass seine Kinder mindestens auf dem Niveau unterrichtet werden, das er selbst aus seiner Schulzeit in der Josefstadt gewohnt war. "Dort gab es außerdem eine lebendige Gemeinschaft zwischen den Eltern. Ich zweifle daran, ob die in muslimisch dominierten Schulen entstehen kann."
Karin B. würde diese Zweifel klar bestätigen. Die Verkäuferin wohnt mit ihrer Familie im eigentlich als bürgerlich geltenden Währing. Doch die sozialen Trennlinien decken sich nicht immer mit den Bezirksgrenzen. Auch im 18. gibt es Gegenden, die keinen Lagezuschlag verdienen.
B.s Tochter Emilia schloss im vergangenen Sommer die Kooperative Mittelschule ab - unter nicht ganz einfachen Bedingungen: Das Mädchen und ein Mitschüler waren die Einzigen in ihrer Klasse mit deutscher Muttersprache. Ob der Unterricht darunter gelitten hat, will Karin B. nicht beurteilen. "Ich kenne es ja nicht anders. Die Kinder haben auch fast alle Deutsch gesprochen, nur die meisten Eltern halt nicht." Mangels Alternativen ließ sich Frau B. zur Elternvertreterin wählen. Viel zu tun gab es ohnehin nicht. "Ich hatte so gut wie keinen Kontakt zu den anderen Eltern."
SPÖ-Stadtrat Jürgen Czernohorszky leugnet nicht, dass es an vielen Standorten Probleme gibt. "Aber im Vergleich mit anderen Millionenstädten stehen wir gut da", glaubt er. Das Ziel aller Bemühungen müsse der soziale Ausgleich sein. "Wenn man so will, geht es darum, dass Margareten (ein Bezirk mit hohem Migrantenanteil, Anm.) mehr wie Hietzing werden soll."
Wohnen: Warum im 15. Bezirk nur noch sechs von zehn Bürgern wählen dürfen
Geschichte und Gegenwart des Wiener Gemeindebaus sind buchstäblich bis zum letzten Grashalm dokumentiert: "1.800.000 Sträucher wachsen auf unseren Grundstücken, das entspricht der Anzahl an Bäumen und Sträuchern, die bei der Aufforstung der Donauinsel gepflanzt wurden." So steht es auf der Website von Wiener Wohnen.
Das Imperium der Gemeinde Wien umfasst rund 2000 Gebäude mit 220.000 Wohnungen für 500.000 Menschen. Keine andere Stadt auf der Welt schafft es, so viele Menschen in eigenen Immobilien unterzubringen. Lange Zeit gelang es dadurch, die Mietpreise in der Stadt relativ niedrig zu halten. Doch der letzte Gemeindebau wurde im Jahr 2004 gebaut. Ein weiterer ist seit Jahren in Planung; über einen Spatenstich kam man bisher nicht hinaus. Die Sache scheitert weniger am Willen als am Geld. Ein Geschäft war der soziale Wohnbau noch nie.
Mehr und mehr übernimmt deshalb der private Wohnungsmarkt die Verteilung. Und die sieht im Prinzip so aus: Menschen mit Geld wohnen zentrumsnah innerhalb des Gürtels und in ein paar angenehmen Vierteln am westlichen Stadtrand, der Rest muss auf Favoriten, Simmering, Teile Ottakrings, Meidlings, Rudolfsheim und Brigittenau ausweichen. Wer neu kommt und kein Geld hat, ist gleich mehrfach im Nachteil. Neue Mietverträge sind deutlich ungünstiger als alte, und für eine Gemeindewohnung muss man mindestens zwei Jahre in Wien gemeldet sein.
Vor allem Zuwanderer aus dem Ausland sammeln sich bevorzugt in Gegenden, in denen schon Landsleute wohnen. TU-Forscher Justin Kadi hat sich angesehen, in welche Bezirke welche Immigranten zwischen 2007 und 2012 hauptsächlich zogen. Ein Ergebnis: Türken, Mazedonier, Bulgaren und Bosnier zogen überproportional häufig nach Favoriten - wo die Wohnungen vergleichsweise billig sind und viele Landsleute leben. Solche Ballungsräume müssen nicht grundsätzlich ein Nachteil sein und können die Integration sogar erleichtern, meint der Experte: "Die Effekte sind sehr unterschiedlich. Infrastrukturell schlecht ausgestattete Gegenden können aber vom benachteiligten Gebiet zu einem benachteiligenden Gebiet werden." Wenn seine Schüler das "Österreich außerhalb des Bezirks kaum kennen", wie der Hauptschullehrer aus Favoriten beklagt, liegt mehr als ein Hauch von Ghetto in der Luft. Die fehlende Wahlberechtigung von immer mehr Wienern dämpft das Interesse am Geschehen in der Republik zusätzlich: In Rudolfsheim-Fünfhaus, einem Bezirk mit besonders hohem Ausländeranteil, sind etwa 40 Prozent der Bewohner mangels Staatsbürgerschaft von der Wahlurne ausgeschlossen.
Arbeitsmarkt: Die schlechten Jobs gehören den Ausländern
In der AMS-Wien-Zentrale im 3. Bezirk streckt ein Mann mittleren Alters dem Mitarbeiter beim Empfang wortlos einen Zettel entgegen. Dieser verdeutlicht ihm mit Händen und Füßen, dass er erst eine Nummer ziehen und sich anstellen muss. Ein AMS-Mitarbeiter mit österreichischem Namen, der einen Ausländer mit nicht vorhandenen Deutschkenntnissen serviciert - ein Abbild des geteilten Arbeitsmarktes in Wien. 50 Prozent der Mindestsicherungsbezieher und 43 Prozent der Arbeitslosen sind Migranten. Zählt man Österreicher mit ausländischen Wurzeln hinzu, steigt der Anteil auf fast zwei Drittel. Hinter den Schaltern haben nur rund zehn Prozent der 1500 AMS-Berater ausländische Wurzeln, ein beträchtlicher Teil davon sind gut ausgebildete Osteuropäer.
Der stellvertretende Chef des AMS-Wien, Winfried Göschl, teilt den Wiener Arbeitsmarkt in 60 Prozent geordnete und 40 Prozent instabile bis höchst prekäre Jobs ein. Die Verteilung ist höchst ungerecht und Gift für den sozialen Austausch: Das Prekariat wird zu zwei Dritteln von Migranten mit geringer Bildung gestellt. Sie hängen in der Drehtüre zwischen Job und AMS fest und sind im Durchschnitt eines Berufslebens 20 Jahre lang ohne Job. "Diese Menschen fallen immer öfter und länger wieder zurück in die Arbeitslosigkeit", sagt Göschl.
"Migranten rennen uns nicht gerade die Tür ein"
Die 60 Prozent der geordneten Jobs besetzen vorwiegend Österreicher ohne Migrationshintergrund. Bei der Polizei liegt der Migrationsanteil noch weit unter dem AMS, obwohl die Exekutive seit zehn Jahren gezielt mehrsprachige Migranten sucht. In beiden Fällen sind mangelnde Sprachkenntnisse ein Haupthindernis. Aber nicht das einzige: "Migranten rennen uns nicht gerade die Tür ein", sagt der Sprecher des AMS-Wien. "Möglicherweise herrscht ein gewisser Argwohn gegenüber den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft."
Unter den 65.000 Mitarbeitern der Stadt Wien sorgen Pfleger, Schwestern, Rettungsfahrer für einen Mix, der die Zuwanderungsmetropole besser repräsentiert. Ohne Krankenanstaltenverbund sinkt der Migranten-Anteil allerdings wieder auf 16 Prozent, bei den Führungskräften der Stadtverwaltung auf rund vier Prozent. So wird das Rathaus selbst zum Beleg für ausbaufähige soziale Durchmischung.
Auch die Unterschiede unter den Zuwanderern verstärken sich: Auf der einen Seite massiver Zuzug von Deutschen und gut ausgebildeten Osteuropäern - auf der anderen Seite die alte Gastarbeitergeneration und ihre Nachkommen. "Die neuen Migranten aus dem Osten verdrängen die alten aus der Gastarbeitergeneration", sagt AMS-Mann Göschl. Mit 75 Prozent liegt die Beschäftigungsquote der EU-Ausländer annähernd auf dem Niveau der Ur-Österreicher (80 Prozent). Bei Zuwanderern aus Drittstaaten sank die Beschäftigungsquote seit 2010 hingegen deutlich auf 56 und bei Frauen auf unter 50 Prozent.
Sicherheit: Wer fürchtet sich vor den jungen Männern?
Das Leben ist gerecht: Bewohner des 1. Wiener Gemeindebezirks haben zwar im Schnitt mehr Geld, bessere Bildung und schönere Wohnungen, aber sie leben auch gefährlicher. Nirgendwo sonst in Wien wurden 2016 - proportional zur Einwohnerzahl - so viele Gewaltdelikte angezeigt wie in der City. Trotzdem hat wohl kaum jemand Angst davor, nachts über den Stephansplatz zu spazieren, während die Simmeringer Hauptstraße nach Geschäftsschluss durchaus als Mutprobe durchgeht. Subjektives Sicherheitsempfinden nennt man das. Richtig Grund zum Fürchten gibt es aber nirgends. Die Kriminalitätsstatistik für 2017 werde einen deutlichen Rückgang der Anzeigen ausweisen, versprach der Wiener Polizeipräsident Gerhard Pürstl jüngst.
Trotzdem verstehen Experten, dass viele Stadtbewohner verunsichert sind. "Wenn etwas passiert, ist mehr Gewalt im Spiel als früher", sagt Michael Mimra, stellvertretender Leiter des Landeskriminalamts Wien. Michael Lepuschitz, Stadthauptmann in Favoriten, kann das nur bestätigen: "Die ganz normale Wirtshausrauferei gibt es fast nicht mehr. Wenn ein Streit eskaliert, wird schnell eine Messerstecherei draus." Zugenommen haben auch die Aggressionen gegen Beamte. Im Jahr 2017 wurden fast 500 Polizisten durch fremde Gewalteinwirkung im Dienst verletzt -das ist der höchste Wert seit Jahren. Nicht zuletzt deshalb leidet die Wiener Polizei unter Abwanderung: Zwischen 100 und 200 Beamte pro Jahr lassen sich in andere Bundesländer versetzen. In St. Pölten oder Eisenstadt ist der Dienst weniger riskant.
Während die Kriminalität insgesamt eher zurückgeht, steigt der Anteil ausländischer Täter. "Die Einheimischen sind im Schnitt älter als die Zuwanderer, das ist sicher ein Grund dafür", meint Michael Lepuschitz. Um die Einheimischen zu verstören, muss aber gar nichts Schlimmes passiert sein. Es kann schon reichen, wenn junge Männer in größeren Gruppen die Straßen und Parks bevölkern.
Neben den neuen Grätzelpolizisten wäre es sicher auch hilfreich, wenn der Polizeiapparat selbst ethnisch bunter wäre. Doch trotz gezielter Werbung in den Communities steigt der Anteil von Beamten mit Migrationshintergrund nur sehr langsam. "Unter den Polizeischülern haben sieben bis acht Prozent Migrationshintergrund", sagt Manfred Reinthaler von der Landespolizeidirektion. Unter den 7500 aktiven Beamten sind es indes nur zwei Prozent.
Gesundheit: Wer nicht warten will, der zahlt
Die Rettung lädt Menschen im Minutentakt in der Notaufnahme des Wilhelminenspitals im 16. Bezirk ab. Die Leiden reichen vom einfachen Schnupfen über Tinnitus und Panikattacken bis hin zu Wehen, Verletzungen nach Schlägereien oder Schlaganfällen. Die Zuteilung zu den Fachärzten ist schwierig. Über 50 Prozent der Kranken sprechen schlecht Deutsch, manche Patienten können nicht einmal die Sprache benennen, die sie sprechen.
Ein lang dienender Arzt im Wilhelminenspital im 16. Bezirk schildert den "Horror" in Stoßzeiten der Notfallaufnahme. Wartezeiten bis zu acht Stunden seien keine Seltenheit, selbst für 90-Jährige. Entsprechend aufgeheizt ist die Stimmung. Jede Nacht gehen Menschen aufeinander los oder rütteln an den Plastikwänden, die das Personal am Schalter abschirmen. Manche Patienten haben die Großfamilie im Schlepptau. Es wird durcheinandertelefoniert und -geredet. "Kollegen, die nebenbei eine eigene Ordination betreiben, schicken ihre Patienten mit akuten Leiden lieber nach Döbling als ins eigene Spital. Das wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen", sagt der Arzt.
"Wir verzeichnen einen deutlichen Patientenzuwachs", sagt Julian Hadschieff. "Der Druck im öffentlichen Gesundheitssystem steigt, und wir sind die Alternative." Er ist Vorsitzender einer Holding, die neben Döbling auch das Goldene Kreuz betreibt. Allein in diesen beiden Privat-Kliniken finden bereits zwölf Prozent aller Wiener Geburten statt.
Als Döbling die Ambulanz für AkutFälle 2017 eröffnete, sprach Thomas Szekeres, der Präsident der Wiener Ärztekammer, von einem "weiteren Schritt in die Zweiklassen-Medizin". Für den Arzt an der Front des Wilhelminenspitals existiert diese längst. "Die Qualität in den öffentlichen Spitälern fährt seit zehn Jahren runter. Die Zahl der Wahlärzte steigt. Wer auf Qualität und kurze Wartezeiten Wert legt, zahlt." Das Kleingeld dafür haben eher die Müllers und Maiers aus der Josefstadt als die Özgürs aus Favoriten.
Im Mai wird Michael Häupl den Bürgermeistersessel nach 24 Jahren verlassen. Vielleicht wird der Mythos von der sozial durchmischten Millionenstadt mit seiner Ära enden.