Wien: Der Mythos von der bestverwalteten Stadt bröckelt
Zu Michael Häupls größten Tugenden zählt seine Unerschütterlichkeit. Was immer auch passiert, der Wiener Bürgermeister kommt garantiert nicht ins Schleudern oder wirft die Nerven weg. Das bewies er jüngst wieder in einem Interview: "Den Ruf der bestverwalteten Stadt sehe ich nicht angepatzt“, erklärte Häupl der Tageszeitung "Die Presse“. Natürlich gebe es in einer Millionenstadt Fehlleistungen. "Den Großteil decken wir aber selbst auf.“
Man muss schon sehr in sich ruhen, um das so zu sehen. Weniger resiliente Charaktere könnten in Versuchung geraten, aus der Argumentation des Bürgermeisters den Umkehrschluss zu ziehen: Sollte Wien tatsächlich die bestverwaltete Stadt der Welt sein, wird es höchste Zeit, aufs Land zu ziehen.
Zuletzt verging kaum eine Woche ohne schlechte Nachrichten aus der Bundeshauptstadt. Betroffen sind ausnahmslos Bereiche, auf die Wien besonders stolz ist: die Gesundheitsversorgung, die Kindergärten, der geförderte Wohnbau, das Sozialsystem. Lediglich die Müllabfuhr, ein weiterer Pfeiler der urbanen Eitelkeit, blieb bis dato weitgehend sauber. Aber das Jahr ist ja noch jung.
Die Liste der amtsbekannten Missstände fällt indes auch so schon beachtlich aus:
- Das Gesundheitssystem erreicht offensichtlich diverse Kapazitätsgrenzen. Selbst Krebspatienten müssen unter Umständen Monate auf wichtige Untersuchungen und Behandlungen warten. Von einem Herzinfarkt oder einem schweren Verkehrsunfall am Wochenende ist dringend abzuraten: Zuletzt waren wegen Personalmangels in ganz Wien nur zwei Notärzte im Einsatz. Hat man es doch irgendwie ins Spital geschafft, ist das Risiko hoch, in einem Gangbett zu landen.
- Die Wiener Kindergärten gelten bei moralisch flexiblen Unternehmerpersönlichkeiten offenbar als Selbstbedienungsladen. Mehrere Millionen Euro Fördergelder sollen rechtswidrig verwendet worden sein. In einigen Fällen wird auch noch wegen islamistischer Umtriebe und anderer pädagogischer Verirrungen ermittelt.
- 32 Mitarbeiter von "Wiener Wohnen“ stehen unter Betrugsverdacht. Sie sollen die Qualität von Handwerkerleistungen bei der Renovierung von Gemeindebauten gar nicht oder nur sehr nachsichtig geprüft und dafür allerlei nette Gaben erhalten haben. Der Schaden dürfte im zweistelligen Millionenbereich liegen. Und es ist keineswegs das erste Mal, dass Mitarbeiter der größten Hausverwaltung Europas mit unorthodoxen Geschäftspraktiken auffallen.
- Genüsslich zerpflückte die "Kronen Zeitung“ jüngst einen Rohbericht des Rechnungshofs über die Vergabe der Mindestsicherung in Wien. Demnach wurde womöglich Geld für Kinder ausbezahlt, die gar nicht existieren. Die Stadt dementiert den Großteil der Vorwürfe, hat aber vorsichtshalber eine aus zwölf Personen bestehende Taskforce eingesetzt, um sich das System einmal in Ruhe anzuschauen. Außerdem wurde die Leiterin der für die Mindestsicherung zuständigen MA40 mit sanfter Gewalt zum Rücktritt gedrängt. Die Dame ist nun leitende Juristin bei der - siehe oben - ebenfalls gebeutelten Berufsrettung. Dort kann sie wenigstens nicht mehr viel falsch machen, wird sich ihr Arbeitgeber gedacht haben.
Schwierigkeiten mit Selbstkritik
Vielleicht hat Wien im Moment einfach Pech und die unheimliche Häufung von "Fehlleistungen“, wie der Bürgermeister das nennt, ist bis zu einem gewissen Grad Zufall. Jeder kennt dergleichen aus dem Privatleben; es gibt Phasen, in denen alles schiefgeht und ein Missgeschick dem anderen folgt. Allerdings hilft es in solchen Fällen, nicht grundsätzlich von der eigenen Unfehlbarkeit auszugehen. Doch mit Selbstkritik tut sich vor allem die SPÖ der Bundeshauptstadt seit jeher schwer. Das liegt nicht zuletzt an der urbanen Legende, wonach Wien in so gut wie allen Lebensbereichen ein Vorbild für die Welt sei. Das Mantra von der bestverwalteten Stadt des Globus hält sich seit Jahrzehnten und wird nicht nur in Wahlkämpfen bemüht, sondern auch sonst bei jeder Gelegenheit. Es ist beinahe unmöglich, mit einem Mitglied der Wiener SPÖ über irgendeine Sachfrage zu debattieren, ohne mindestens einmal darauf hingewiesen zu werden, dass es sich erwiesenermaßen nirgendwo besser, schöner, sicherer, glücklicher, umsorgter und wohlorganisierter wohnen lässt als in Wien.
Wer diesen Mythos einst in Umlauf gebracht hat, ist nicht mehr zu eruieren. Bernhard Görg, in den 1990er-Jahren Chef der Wiener ÖVP und Vizebürgermeister, hegt allerdings einen konkreten Verdacht: "Ich vermute, Helmut Zilk hat das in die Welt gesetzt. In seinen besten Zeiten hat man ihm ja fast alles geglaubt.“ Wie tief das Eigenmarketing im städtischen Bewusstsein verankert war, konnte Görg selbst feststellen. Im Wahlkampf ließ er Kritik an der hochgelobten Stadtverwaltung plakatieren. "Sauteuer, aber es wirkt nicht“, lautete der Slogan. "Daraufhin hat mir eine Reihe von Magistratsbeamten nicht mehr die Hand gegeben“, erzählt Görg.
Auch die politische Opposition von heute kämpft gegen den Nimbus, wonach in Wien selbst das weniger Gute noch deutlich besser sei als anderswo. "Seit ich denken kann, höre ich, dass man nichts ändern kann und darf, weil Wien so toll verwaltet wird“, erzählt Beate Meinl-Reisinger, Landeschefin der NEOS. Wer trotzdem Kritik übe, stoße nicht selten auf stupende Arroganz. "Wir haben einmal eine Anfrage zu der für uns nicht nachvollziehbaren Erhöhung der Wassergebühr gestellt. Die Antwort von Stadträtin Ulli Sima war, wir sollen uns einmal anschauen, was eine Flasche Römerquelle kostet.“
Die langgediente Stadträtin Renate Brauner argumentiert besonders gerne mit der herausragenden Qualität des städtischen Verwaltungskörpers - zuletzt etwa bei einer Pressekonferenz anlässlich der Abschaffung der Vergnügungssteuer. Also müssten die Mitarbeiter ihres Büros eigentlich wissen, auf welche irdische Instanz sich die Chefin dabei beruft. Heike Hromatka-Reithofer, Sprecherin von Brauner, erklärt auf Anfrage, dass es verschiedene internationale Rankings gebe, in denen Wien zuverlässig auf einem der vorderen Plätze lande. "Das deckt sich auch mit unserer subjektiven Wahrnehmung, wenn wir im Expat-Club mit den Leuten reden“, sagt Hromatka-Reithofer.
Spitzenreiter in Mercer-Studie
Die für das Selbstbewusstsein der Wiener Genossen mit Abstand wichtigste Untersuchung wird alljährlich von der Unternehmensberatung Mercer vorgenommen und führt zuverlässig zu Jubelmeldungen der Rathauskorrespondenz. Im "Quality of Living“-Ranking landete Wien zuletzt achtmal hintereinander auf dem ersten Platz. Dahinter lagen bei der bisher jüngsten Erhebung 2016 Zürich, Auckland, München und Vancouver. Auf dem letzten Platz landete die irakische Hauptstadt Bagdad, was ziemlich plausibel klingt. Das Problem dabei: Die Mercer-Studie vergleicht die Lebensumstände von Managern internationaler Konzerne, nicht jene von ganz normalen Leuten. Letztlich geht es also um den Komfort einer Bevölkerungsgruppe, die dem klassenkämpferischen Arm der Wiener SPÖ eigentlich nicht sonderlich am Herzen liegt. Aber eine Ausnahme darf man ja ruhig einmal machen. Etwas näher an der Realität der Massen ist das Eurobarometer der EU-Kommission. Die bisher aktuellste Erhebung des "Quality of life in European Cities“ aus dem Jahr 2015 brachte Wien den 20. Platz. In den Punkten Sauberkeit, Zustand der Straßen und Zufriedenheit mit dem öffentlichen Verkehr sei Wien aber deutlich weiter vorne gelegen, betont man im Rathaus.
Beim Wettlauf um die vordersten Plätze beweist die Hauptstadt mindestens so viel Ehrgeiz wie Österreichs Skifahrer. Jüngst wurde im Gemeinderat das sogenannte "Reinhaltegesetz“ beschlossen. Für das Wegwerfen einer Bierdose oder eines Zigarettenstummels können künftig bis zu 90 Euro Strafe fällig werden. Das mag sich kleinlich und geldgierig anhören, dient aber der Pflege eines weiteren Superlativs: "Wien zählt zu den saubersten Städten der Welt“, erklärte Gemeinderat Erich Valentin. Und das solle auch so bleiben.
Dabei wäre es vielleicht klüger, weniger dick aufzutragen. Die Bürger würden ihrer Stadt mehr verzeihen, wenn man ihnen nicht ständig sagen würde, dass sie im Paradies leben. Perfektion wird auf Erden nun mal nicht geboten, das weiß sogar der Wiener Bürgermeister. Die Korruptionsfälle unter seinen Beamten erklärte er jüngst wie folgt: "Nicht einmal Klöster sind vor Bestechlichkeit gefeit.“
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 10 vom 6.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.