Wien-Wahl: blaue Lust, schwarzer Frust – und ein zufriedener SPÖ-Bürgermeister
Während die Republik in einem Staatsakt den 80. Jahrestag ihrer Ausrufung am 27. April 1945 feierte, waren 1,1 Millionen Wienerinnen und Wiener zur Gemeinderatswahl aufgerufen, eine durchaus symbolische Koinzidenz: Besser als mit einer Wahl kann man ein Jubiläum zur Wiedererrichtung der Republik kaum feiern.
Dass Michael Ludwig, SPÖ, Bürgermeister und Landeshauptmann bleiben wird, stand schon vor Wahlschluss fest; dass die FPÖ Zweite wird, ebenso. In den Parteizentralen von ÖVP, Grünen und Neos begann mit der ersten Trendprognose um 17 Uhr das große Zittern. Alle drei hofften, von Ludwig bald zum Juniorpartner erkoren zu werden, und mussten am Wahlabend bangen, ob sich eine Koalition mit der SPÖ mandatsmäßig überhaupt ausgehen würde. profil war dabei.
SPÖ: Aufzug-Musik statt Volksfeier
Dereinst waren die roten Wahlpartys regelrechte Volksfeiern im Festzelt vor der Parteizentrale in der Wiener Löwelstraße. Heute sind sie eine Art Geheimtreffen in den Eingeweiden des Rathauses. Zweiter Stock, drei Räume, mehr Pressekonferenz als Party. Und auch nicht einmal das wirklich: So mancher Journalistenkollege klagt darüber, dass er Tage davor in der Wiener SPÖ telefonisch nicht richtig durchgekommen ist; dass Rückrufe versprochen wurden, die nie kamen; ein anderer Reporter erzählt, dass er nur per Zufall von dieser Zusammenkunft in den Räumen des roten Rathausklubs erfahren hat.
Es gibt Schnitzel, Kartoffelsalat, Gemüselaibchen, Säfte, Mineralwasser und gerade einmal einen Kühlschrank mit Bier. Die SPÖ rechtfertigt die fehlende Party damit, dass die Wahlbeisitzer der SPÖ, rund 3000 Personen, noch den gesamten Abend die Stimmen auszählen müssten. Doch das mussten sie bei den anderen Wahlen ja auch.
Knapp vor den ersten Zahlen um 17 Uhr stärken sich einige Kameraleute noch unter Zitaten an den Wänden von Bruno Kreisky („Man darf Umstände zur Kenntnis nehmen, darf aber nicht bereit sein sie hinzunehmen“) oder von Olof Palme („Der demokratische Sozialismus ist eine Freiheitsbewegung“). An einer Wand ist ein Bücherregal mit den Classics der Wiener SPÖ: Bände über die Kinderfreunde, Werke von Michael Häupl oder Rudolf Edlinger. An den wenigen Stehtischen haben sich einige Mitarbeiter und Funktionäre platziert. Der rote Rathausklub ist an diesem Abend ein bisschen wie eine katholische Kapelle: viel Geschichte, aber wenige echte Menschen.
Die Wiener SPÖ handelt die Wahl mehr ab, als dass sie sie ausficht. Als ginge es um nichts, weil wer Bürgermeister wird, ist eh klar. Einige der wenigen, die hier gemeinsam auf die beiden Fernsehbildschirme schauen, blicken demonstrativ und fast schon ein bisschen beleidigt auf ihre Handys, als die TV-Live-Übertragung die Wahlparty der Grünen in der Ottakringer Brauerei zeigt. Dort wird getrunken und gefeiert. Die SPÖ hingegen müht sich ab, überhaupt genug Leute da zu haben, damit es für TV-Kamerabilder reicht.
Bürgermeister Michael Ludwig ist bei diesem kleinen Treffen nicht anwesend. Er wartet das Ergebnis in seinem Büro ab, heißt es von einer Mitarbeiterin. Als das erste Ergebnis (37 Prozent) über die Schirme flimmert, schnaubt Josef Taucher, Klubobmann der SPÖ im Wiener Landtag regelrecht. Für die Neos gibt es ein wenig Applaus. Barbara Novak, an diesem Abend in rotem Kleid und ausgefallenen Glitzer-Ballerinas, hat die Ehre, die ersten Worte zu richten, während von draußen der Jubel der FPÖ, die ums Eck feiert, so laut ist, dass hier die Fenster geschlossen werden müssen.
Nach der zweiten Hochrechnung (39,5 Prozent) und dem erleichterten Jubel, vertschüssen sich die meisten roten Funktionäre und Mitarbeiter, die für die Live-Schaltungen als Statisten-Publikum dienten. Danach legt der Tontechniker für die Anwesenden Aufzug-Musik auf – „Summer Jazz Music“.
FPÖ: Feier mit Schnösel-Faktor
Zur Stimmabgabe erschien Dominik Nepp in seinem Wahllokal in Währing in Begleitung seiner Gattin Barbara und der zwei Dackel Hanni und Otto. Der FPÖ-Spitzenkandidat konnte als einziger Parteichef wirklich entspannt in den Wahltag gehen. Das Positive an einer krachenden Niederlage ist ja, dass es beim nächsten Mal fast garantiert Zugewinne geben wird. 2020 erreichte die FPÖ als Folge des Ibiza-Skandals nur noch 7,1 Prozent.
Ihre Wahlparty feiert die FPÖ in einem Weinlokal in der Wiener Lichtenfelsgasse im ersten Bezirk, unmittelbar beim Rathaus. Auch Dackel Otto ist dabei, sein Herrchen noch nicht. Die erste Trendprognose kurz nach 17 Uhr verheißt der FPÖ fast 23 Prozent. Begeisterung!
Auf einer kleinen Bühne nimmt eine Schar adretter junger Burschen mit FPÖ-Tafeln für die ersten Live-Einstiege der TV-Teams Stellung und skandiert „Dominik, Dominik“. Sie tragen, was man „Smart Casual“ nennt, und wirken insgesamt wie das Jungherren-Komitee des Akademikerballs. Die FPÖ-Wahlparty zeigt wieder einmal: Die FPÖ ist jene Partei, in der die Kader ein bis zwei Gesellschaftsklassen über ihren Wählern stehen. Sie feiern in der Innenstadt nicht nur ihre Wahlpartys, sondern statten sich hier auch aus.
„Früher war die FPÖ eine Honoratiorenpartei mit zehn Abgeordneten“
Einige der Anwesenden wären für Herbert Kickls Geschmack vielleicht zu – wie es der FPÖ-Chef nennt – „schnöselig“: Hornbrillen, teures Sportschuhwerk, Sommerdaunenjacken, Accessoires aus dem gehobenen Segment. Joachim Kappel, 65, war Unternehmensberater und wirkt – geschwungen mittellanges weißes Haar, legeres Sakko über hellblauem Pullover – wie ein italienischer Landadeliger auf dem Weg zum Bootsausflug am Comer See. „Früher war die FPÖ eine Honoratiorenpartei mit zehn Abgeordneten“, sagt er. Einzelne seiner Bundesbrüder von der Burschenschaft Suevia Innsbruck würden so elitär denken, dass sie keine Partei wählen, die mehr als zehn Prozent hätte. Er selbst bevorzugt die Breitenwirkung des Herbert Kickl. Dominik Nepp sei ein guter Mann, sagt Kappel, auch wenn ihn manche in der Partei für ein wenig langweilig halten.
„Wir Freiheitlichen sind eine soziale, aber keine sozialistische Partei“, sagt der Nationalratsabgeordnete Markus Tschank, Obmann der FPÖ im ersten Bezirk, im Zivilberuf Rechtsanwalt. Wie die anderen anwesenden FPÖ-Spitzenpolitiker, darunter der EU-Mandatar Harald Vilimsky und die Abgeordnete Dagmar Belakowitsch, muss sich Tschank von der „2015er-Frage“ der Journalisten nerven lassen: Warum denn die FPÖ bei der Wahl nicht annähernd ihr Ergebnis von 2015 mit damals 30,8 Prozent erreichte?
Stimmungsmäßig verläuft der Abend volatil. Nach der erfreulichen Trendprognose von 17 Uhr sorgt die erste Hochrechnung mit knapp über 20 Prozent für einen leichten Dämpfer. Später am Abend, nach Abschluss des Interviewmarathons im Rathaus nebenan, stößt auch Spitzenkandidat Dominik Nepp mit Herbert Kickl zur blauen Party. Dackel Otto ist da schon weg.
ÖVP: Eineinhalb Stunden Hoffnung
Eineinhalb Stunden lang konnte sich die ÖVP gerade freuen, und vielleicht schmerzt der Moment, ab dem alles vorbei ist, deswegen ganz besonders. Als die erste Hochrechnung in der Parteizentrale gezeigt wird, schlägt eine Funktionärin ungläubig die Hand vor den Mund. Ein anderer schüttelt fassungslos den Kopf. Ein einstelliges Ergebnis, nur eine Spur besser als die historische Niederlage im Jahr 2015. Der Raum hält kollektiv den Atem an – und es gibt niemanden, der ihnen die Fassungslosigkeit mit aufmunternden Worten nehmen kann. Nicht einmal Landtagsabgeordnete wollen zunächst offiziell etwas zu dem Ergebnis sagen, sie verweisen lieber auf den Dritten Landtagspräsidenten Manfred Juraczka.
Für gewöhnlich gibt es für solche Zeitpunkte einen hochrangigen Parteifunktionär, der sich vor die Mandatare und die Kameras stellt. Das war in den vergangenen eineinhalb Stunden noch Landesgeschäftsführer Peter Sverak, ehe er weitergezogen ist. Das war noch vor dem Stimmungsumschwung, in der Zeit, als die ÖVP noch glaubte, eine Option für die Regierung zu sein.
Blick zurück: Um 16:57 Uhr reibt sich Peter Sverak die Hände, bevor er seine Fernseh-Pose einnimmt: breiter Stand, Hände gefaltet, Finger verschränkt und vor allem: fester Blick. Wenn die Kameras auf ihn gerichtet sind, weicht er nur kurz davon ab: Sobald das erste Umfrageergebnis der SPÖ am Bildschirm erscheint, schnaubt er, er schüttelt den Kopf über die ersten Zahlen für die FPÖ, er lacht mit seinen Parteikollegen bei Heinz-Christian Strache, und sobald die für ihn wichtigste Zahl erscheint, nickt er heftig und klatscht: elf Prozent für die Wiener Volkspartei.
Jemand reicht Sverak ein Mikrophon und einen Zettel, hinten mit ÖVP-Aufdruck, vorne mit handschriftlichen Notizen. Zwei wichtige Botschaften hat er für alle Anwesenden hier. Die erste soll die Enttäuschung über das Wahlergebnis lindern: Als konservative Partei hatte man es in Wien nie leicht, das Ausnahme-Jahr 2020 einmal abgesehen. Die zweite soll Mut machen: „Mit den Pinken geht es sich nicht aus. Mit uns aber geht es sich aus.“ Diese Botschaft hält die ÖVP-Party am Leben: Michael Ludwig hat derzeit nur zwei Optionen für eine Koalition: die Grünen und die ÖVP.
Bis zur nächsten Schalte für den ORF aus der Parteizentrale geht sich noch eine Zigarette aus, Sverak bleibt bei seinem Wording: Dass die ÖVP das Rekordergebnis von 2020 nicht halten konnte, war klar. Dass sie jetzt regieren will, ist es auch.
Und eineinhalb Stunden später? Vermutlich Platz fünf, wahrscheinlich einstellig, sicher nicht der erste Ansprechpartner für eine Koalition. Die ersten Menschen verabschieden sich von der Party. Wer sich umhört, stößt auf sehr viel Frust und Fassungslosigkeit. Jemand trinkt einen „Gute Laune“-Tee, zum Aufwärmen.
Ironischer Kommentar: „Den sollten sie hier allen anbieten.“
Grüne: Verdammt lang her
Es ist lange her, dass die Grünen etwas zu feiern hatten, doch heute ist es wieder soweit: Ein klarer zweiter Platz und fast das beste Ergebnis der Parteigeschichte lösen nach der ersten Hochrechnung ohrenbetäubenden Jubel aus, die Anhänger der Öko-Partei fallen sich jubelnd in die Arme. Man merkt: Nach vielen schmerzhaften Wahlniederlagen brauchen die Grünen diesen Abend.
Mit dem ersten Lied nach der ersten Hochrechnung stellen sie sich schon auf die Verhandlungen mit der SPÖ ein: „Been there, done that, messed around“, trällert das englische Synth-Pop-Duo La Roux, fast als Erinnerung an die zehn Jahre grüner Regierungsbeteiligung in Wien, und kündigt an: „This time, baby, I'll be bulletproof.” Nach dieser Wahl fühlen sich die Grünen kugelsicher.
„Been there, done that, messed around.“
Der Erfolg war hart erkauft. Keine Partei hat im letzten Monat vor der Wahl so viel Geld in Social-Media-Werbung gesteckt wie die Grünen: 317.859 Euro flossen aus dem grünen Wahlkampfbudget an Google, Instagram und Facebook, dreimal mehr als bei jeder anderen Partei. Passend dazu feiert die Öko-Partei in einer angesagten Party-Location: der Wiener Ottakringer Brauerei. Scheinwerfer färben die rostig-braunen Stahlbalken der Fabrikhalle grün ein, eine einsame Nebelmaschine trübt die Sicht vor der Bühne und das meterlange Buffet ist voller vegetarischer und veganer Optionen, bietet aber auch klassisches Erdäpfelgulasch als Grundlage für den Alkohol an der Bar.
Die alte Fabrikhalle hat auch ihre Mankos: Für die Live-Einstiege der TV-Sender müssen die Grünen stillhalten. Wird zu laut gejubelt, hört man die Fragen nicht mehr. Die Vize-Nationalratsabgeordnete Meri Disoski mahnt daher Disziplin ein, die grüne Anhängerschaft folgt und schweigt bis zum letzten Wort der Interviews.
Bei der ersten Hochrechnung gibt es aber kein Halten mehr: „14,7 Prozent!“ ist alles, was Disoski in die Menge schreit, ihre Worte gehen ohnehin im Jubel der Öko-Partei unter. Die Grünen verlieren ein Mandat – und feiern wie Sieger.
Dabei spricht die rote Machtpolitik gegen die Grünen: Um mit der SPÖ zu regieren, wären weniger Stimmen für die Öko-Partei womöglich besser gewesen. Denn nun dürfte den Grünen ein zweiter Stadtratsposten zustehen, ÖVP und Neos jeweils nur einer. Somit ist die Öko-Partei aus Sicht der SPÖ der teuerste Koalitionspartner, für Teile der Wiener Sozialdemokratie die wichtigste Variable.
Sorgen von morgen, denkt man sich in der grün gefärbten Ottakringer Brauerei. Die Grünen sind im Siegestaumel und blicken auf ihre Battlegrounds: Mit Neubau, Währing und der Josefstadt will man drei Bezirkschefs halten und hofft, im Alsergrund einen dazuzugewinnen. So mancher Grüner hofft dabei auch auf die demografische Veränderung: Ältere, traditionell der Volkspartei nahestehende Wählerinnen und Wähler würden in der Josefstadt weniger, gleichzeitig habe etwa das Studentenheim in der Pfeilgasse seit der letzten Wahl wieder eröffnet. Und im Alsergrund zählt man auf die EU-Bürgerinnen und Bürger. Die Grünen sind bei ihnen traditionell stark, dazu hatten sie diese Gruppe als einzige Partei im Wahlkampf aggressiv umworben.
Egal, wie die Bezirke fallen: Die Grünen feiern. Die designierte neue Grünen-Chefin Leonore Gewessler sieht ihre Partei schon in der Stadtregierung: „Mit dieser Kraft werden wir den Wiener Bürgermeister anstecken“, kündigt sie „ein Comeback Rot-Grün“ an.
Als Gewessler von der Bühne steigt, singt US-Popstar Chappell Roan „Good Luck, Babe“ – „Viel Glück!“.
Neos: Zirkus in Pink
Fernab aller anderen Parteien feiern die Neos an diesem Abend ihren klaren Erfolg. Im Zelt „Mirage“ im Prater, weit entfernt vom Rathaus, herrscht eine ausgelassene Stimmung. Dass das WLAN hier kaum Empfang hat, ärgert vor allem die anwesenden Journalistinnen und Journalisten, die auf die Drahtlosverbindung angewiesen sind – nicht jedoch die Gäste. Die sind jung, überwiegend männlich und behalten trotz der drückenden Zeltluft unerschütterlich ihre eng sitzenden Sportsakkos über den Oxfordhemden an. Selbst die Ralph-Lauren-Caps bleiben fest auf den Köpfen, während der Schweiß von den Schläfen rinnt.
Denn schwitzen müssen die Neos trotz ihres Erfolgs. Die zehn Prozent (und zehn Mandate), die sie nach der ersten Hochrechnung erreicht haben, rücken die Fortsetzung einer rot-pinken Koalition mit der SPÖ in greifbare Nähe – knapp, aber doch.
Im pinken Partyzelt herrscht Feierlaune. Wem man das zu verdanken hat? Offensichtlich nicht den beiden Frontfrauen Selma Arapović und Bettina Emmerling. Die bleiben den Abend über fast unsichtbar. Arapović ist zwar von Anfang an im Zelt, aber abgesehen von ein paar flüchtigen Worten und einem freundlichen „Hallo, schön, dass du da bist“, bekommt man von ihr wenig mit.
Selbst nach der ersten Hochrechnung, als Bundesparteichefin Beate Meinl-Reisinger sich bei einem bedankt, „der das alles möglich gemacht hat“, Christoph Wiederkehr, bleibt Arapović der Bühne fern. Stattdessen ist es der neue Bildungsminister und frühere Wiener Vizebürgermeister, der das Wort ergreift. Emmerling hielt währenddessen im Rathaus die Stellung. Dort funktioniert auch das WLAN.