Kundgebung der SPÖ: Dir rote Welt in Favoriten ist längst nicht mehr heil

Wien-Wahl: Mitten im Zehnten

Wien-Wahl: Mitten im Zehnten

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Ein Auftritt auf dem Viktor-Adler-Markt ist Pflicht für jeden, der in Wien Bürgermeister werden oder bleiben will. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache war schon vor ein paar Wochen im Einsatz, Michael Häupl wartete bis zuletzt. Erst am Samstag war es so weit.

In der Favoritenstraße, einer der ältesten Fußgängerzonen Wiens, herrscht am Vormittag kurz vor zehn der normale Einkaufsbetrieb. Auf der Bühne der SPÖ bemühen sich „The Free Men Singers“ um Stimmung, davor hat sich eine kleine Menschenansammlung gebildet. Viel mehr als 200 Zuhörer sind es wohl nicht. Und diese Zahl steigt nicht wesentlich, als der Chef die Bühne betritt. Michael Häupl trägt einen roten Pullover und eine rot-schwarze Regenjacke. Er sieht erschöpft aus. „Der Wahlkampf hat mir noch nie so viel Spaß gemacht wie diesmal“, behauptet er trotzig. Dann rühmt er die Schönheit Wiens, gibt zu, dass „manches auch schiefgegangen ist“, und warnt vor der FPÖ. „Schenkt der Zukunft dieser Stadt zehn Minuten. Geht’s wählen und wählt’s richtig“, bittet Häupl am Schluss seiner Rede – die ebenfalls kaum zehn Minuten gedauert hat.

Während der Bürgermeister durch das Publikum spaziert, wendet sich eine zierliche ältere Dame an einen Polizisten. Neulich, in der Kurkonditorei Oberlaa, sei etwas Arges passiert, erzählt sie dem Beamten. „Beim Rausgehen sagt der Kellner zu uns Pensionisten: ‚Und ned vergessen Herrschaften, die FPÖ wählen!‘“ Eine Frechheit sei das, findet auch der Polizist.

Doch wie sich zeigte, ist der Kellner nicht der Einzige, der von der SPÖ genug hat. Ausgerechnet in der früheren roten Hochburg Favoriten lag die FPÖ bei der Gemeinderatswahl fast gleichauf. Beide Parteien blieben knapp unter 41 Prozent.

Ich hatte bisher keinen Grund, meinen Umzug zu bedauern. Es geht mir gut im Zehnten. Aber ich kann verstehen, dass es vielen meiner neuen Nachbarn nicht mehr so gut geht.

Ich kenne den Viktor-Adler-Markt und seine Umgebung nicht nur von Wahlkampfveranstaltungen. Seit ein paar Monaten wohne ich im Zehnten, nicht weit von den Marktständen entfernt. In meinem beruflichen und privaten Umfeld macht mich die Postleitzahl 1100 zu einem Sonderfall. Favoriten genießt nicht den allerbesten Ruf. Die meisten Journalisten, Pressesprecher, Parteifunktionäre und Politiker wohnen in nobleren Gegenden, die meisten meiner Freunde auch. Ich hatte bisher keinen Grund, meinen Umzug zu bedauern. Es geht mir gut im Zehnten. Aber ich kann verstehen, dass es vielen meiner neuen Nachbarn nicht mehr so gut geht.

Favoriten ist eine Großstadt in der Großstadt. Fast 190.000 Menschen leben hier, mehr als ein Zehntel aller Wiener. Der „zehnte Hieb“ gilt als Arbeiterbezirk. Und die statistischen Daten passen dazu: Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf ist (nach der Brigittenau) das zweitniedrigste der Bundeshauptstadt, die Akademikerquote liegt bei nicht einmal zwölf Prozent, halb so hoch wie im Wien-Schnitt. Weil hier schon immer hauptsächlich ärmere Leute wohnten, gibt es keine prächtigen Palais. Mit der Aufzählung von architektonischen Juwelen ist man schnell fertig; außer dem Amalienbad fällt kaum ein Gebäude ins Auge. Das Straßenbild wird dominiert von schmucklosen Wohnbauten aus der Nachkriegszeit. Einige wurden saniert, viele noch nie.

Der Bezirk ist nicht schön, aber er hat seine Reize. Viel Grün zum Beispiel. So dicht verbaut manche Grätzeln auch sein mögen, in den nächsten Park ist es garantiert nicht weit. Am prächtigsten ist der Kurpark Oberlaa. Er wurde 1974 eröffnet – also zu einer Zeit, als die Wiener SPÖ bei Großprojekten noch niemanden um Erlaubnis fragen musste, nicht einmal die „Kronen Zeitung“. Vegane Lokale, Designerläden für Babymode und andere Zeugnisse der innerstädtischen Bobo-Kultur wird man in Favoriten vergeblich suchen. Der Zehnte ist eine ehrliche Haut, urban auf eine ganz direkte, schnörkellose Art. Hier muss keiner posieren oder der Welt etwas vorgaukeln.

Manchmal finde ich das bunte Treiben auf der Favoritenstraße auf eine angenehme Art exotisch. Es gibt aber auch Tage, an denen ich mir deplatziert vorkomme zwischen so vielen Menschen aus der Türkei und vom Balkan.

Der Ausländeranteil liegt über 32 Prozent. Das ist zwar kein Spitzenwert, in manchen Wiener Bezirken gibt es deutlich mehr Zuwanderer. Aber Favoriten hat auch so etwas wie Nobelgegenden, in denen fast nur Österreicher leben, das verzerrt die Statistik. In den Straßen südlich des neuen Hauptbahnhofs ist dafür deutlich mehr los. Hier wurde Realität, wovor die FPÖ so oft warnt: Die Einheimischen sind – jedenfalls optisch – in der Minderheit. Und das fühlt sich seltsam an. Auch für Zuzügler wie mich, deren Alltag sich nach wie vor großteils woanders abspielt.

Manchmal finde ich das bunte Treiben auf der Favoritenstraße sehr unterhaltsam und auf eine angenehme Art exotisch, ähnlich wie im Urlaub. Es gibt aber auch Tage, an denen ich mir deplatziert vorkomme zwischen so vielen Menschen aus der Türkei und vom Balkan, mit denen die Verständigung nicht nur an der Sprache scheitert. Denn eines lernt man schnell in Favoriten: Der gemeinsame Wohnort macht aus unterschiedlichen Lebensrealitäten noch keine multikulturelle Sause. Das stellt sich die linke Elite in der City oder in Neubau nur gerne so vor. In Wirklichkeit grenzt man sich ab und geht einander aus dem Weg. Da können der türkische Schuster oder die Verkäuferin aus Serbien noch so freundlich sein: Mehr als ein geschäftlicher Kontakt ergibt sich nicht.

Der massive Zuzug konzentrierte sich auf die vergangenen zehn, 15 Jahre. Zugleich zogen junge Österreicher weg. Übrig blieben viele Pensionisten, die nicht ohne Grund das Gefühl haben, aus ihrer Heimat allmählich verdrängt zu werden. Die Angst vor dem Fremden, um die es in der Asyldebatte so oft geht, ist eben nicht immer die Angst vor dem Unbekannten. Manchmal wissen die Ängstlichen ganz genau, wovor ihnen graut.

Die Realität vor der eigenen Haustür lässt sich schwer ausblenden. Auch ich habe festgestellt, dass mich die Fernsehbilder von Flüchtlingen, die über europäische Grenzen strömen, mehr stören, wenn ich vorher ausgiebig im Bezirk unterwegs war. Die Bilder ähneln sich einfach zu sehr: In Favoriten wie in Nickelsdorf sieht man große Mengen junger Männer, die dominanter auftreten, als ihnen wahrscheinlich zumute ist, und viele Frauen in muslimisch-züchtiger Verhüllung.

Wenn sich die SPÖ rühmt, dass ihre kluge Politik die Bildung von Ghettos verhindert habe, vergisst sie auf manche Teile von Favoriten. Die FPÖ hat natürlich auch keine Lösung parat.

Margarethe Turecek ist 72 Jahre alt und verkauft seit 56 Jahren Geflügel auf dem Viktor-Adler-Markt. Sie erlebte den Wandel unter anderem bei ihren Stammkunden. „Die haben jetzt alle schon ein gewisses Alter, und Junge kommen fast keine mehr nach“, erzählt sie, während sie für einen Kunden zehn Eier in einer Karton schlichtet. Von 137 Ständen auf dem Markt gehört nicht einmal mehr ein Zehntel den Kollegen von früher. Viele Verkaufslokale werden jetzt von Türken geführt. „Ich versteh mich gut mit den Ausländern hier“, sagt Turecek. Aber so eng, wie es einmal war, sei das Verhältnis unter den Standbesitzern halt nicht. „Vor 20 Jahren haben wir gemeinsam Faschingsumzüge organisiert und hatten eine Stammtischrunde. Das gibt es alles nicht mehr.“ Wohnen möchte Margarethe Turecek in Favoriten übrigens auf keinen Fall. „Das wäre nix für mich. Allein, dass auf der Straße jeder seinen Dreck wegschmeißt. Das ist einfach eine andere Kultur.“

Die Quellenstraße ist eine der Hauptachsen im Bezirk. Etwa drei Kilometer lang führt sie schnurgerade von Ost nach West mitten durch das Zentrum. Es gibt türkische Friseure, türkische Bäckereien, türkische Supermärkte und türkische Fleischhauer mit „Halal“-Zertifikat an der Scheibe. Österreichische Geschäfte sind kaum noch übrig, die Parallelgesellschaft wird hier von den Einheimischen gebildet. Wenn sich die SPÖ rühmt, dass ihre kluge Politik die Bildung von Ghettos verhindert habe, vergisst sie auf manche Teile von Favoriten. Die FPÖ hat natürlich auch keine Lösung parat. Aber sie tut wenigstens so, als würde sie das Problem erkennen.

Michael Mrkvicka ist Bezirksvorsteher-Stellvertreter im Zehnten, ein FPÖ-Mann. Er vermisse in der Bezirkspolitik unter anderem den Hausverstand, sagt er. „Man könnte doch ein bisschen darauf schauen, dass in der Quellenstraße nicht nur türkische Geschäfte aufmachen oder drei Friseure nebeneinander.“ Hermine Mospointner, SPÖ-Bezirkschefin seit 21 Jahren, könnte dazu sicher eine Menge sagen. Leider hat sie keine Lust. Vor der Wahl werde sie keine Interviews mehr geben, lässt sie mir über einen Mitarbeiter ausrichten.

Bei all seinen Problemen kann Favoriten auch ein warmer, heimeliger Ort sein.

Früher fuhr die SPÖ im Bezirk Wahlergebnisse um die 70 Prozent ein. Der Zehnte galt lange als sichere Bank, gebucht für die Ewigkeit. Fast 50 Gemeindebauten stehen hier, darunter riesige Anlagen wie der George-Washington-Hof und die Per-Albin-Hansson-Siedlung. In den vergangenen paar Jahren investierte die Stadt einen Haufen Geld in den Aufbau eines neuen Wohnviertels beim ebenfalls neuen Hauptbahnhof. Noch wirken die paar Straßenzüge ein wenig steril und künstlich. Aber wenn alles fertig ist, werden 13.000 Menschen im Sonnwendviertel leben, es wird Schulen geben, Geschäfte, Grünflächen. Außerdem wird derzeit die U-Bahnlinie 1 bis nach Oberlaa verlängert. Trotzdem verlor die SPÖ jetzt acht Prozentpunkte.

Da die anderen Parteien hier fast keine Rolle spielen, wird das politische Match ausschließlich zwischen Rot und Blau ausgetragen. Schon 1996 kamen die Freiheitlichen auf über 30 Prozent. Damals gab es viel weniger Ausländer. Aber die Favoritner hatten wohl schon vor 20 Jahren das Gefühl, dass alles, was in der Stadt schiefläuft, bei ihnen ganz besonders schiefläuft.

Das Endergebnis der Bezirksvertretungswahl lag zu Redaktionsschluss noch nicht vor. (Anmerkung: Die SPÖ erreichte mit 40,40 Prozent den ersten Platz vor der FPÖ mit 38,18 Prozent.)Vielleicht kann Hermine Mospointner von der SPÖ noch eine Amtszeit anhängen. Aber eine Stärkung war der Wahltag auch für sie nicht.

Bei all seinen Problemen kann Favoriten auch ein warmer, heimeliger Ort sein. Es gibt Gasthäuser, in denen die Zeit nicht einfach stehenblieb, sondern mutwillig angehalten wurde. Touristen verirren sich selten in den Zehnten. Man muss auf ihre Vorlieben also keine Rücksicht nehmen und kann alles so lassen, wie es schon immer gut funktionierte. Das Weinhaus Aellig etwa hält in der Quellenstraße die Stellung. Am Mittwoch vergangener Woche wird als Menühauptspeise Schweinsbraten mit Waldviertler Knödeln angeboten. In der schönen alten Gaststube sitzen zwei alte Herren, denen zu Hause keiner etwas kocht, einige Paare mittleren Alters und Arbeitskollegen auf Mittagspause. An der Schank stehen die ersten Biertrinker des Tages. Der Kellner kennt die meisten Gäste mit Namen und persönlichen Vorlieben. „Das Menü is heut nix für Sie. Wollen S’ vielleicht a Bauernomelett?“, fragt er einen Senior. Auf jedem Tisch steht ein Aschenbecher, an der Decke hängt eine zarte Rauchfahne. Im zehnten Bezirk wird noch eifrig gequalmt. Gesundheitsterror funktioniert besser in Gegenden, in denen die Leute über Ampelpärchen, gegenderte Strafzettel und ähnlichen Schnickschnack diskutieren.

Es ist ruhig und erholsam in diesen kleinen Oasen. Manchmal braucht man das dringend in Favoriten. Als ich meine neue Wohnung zum ersten Mal besichtigte, traf ich vor dem Haustor eine ältere Dame, die seit Jahrzehnten hier lebt. Im Haus sei alles in Ordnung, erzählte sie mir. „Aber da draußen geht es zu wie in Indien.“ Inder gibt es im Grätzel zwar kaum, aber mittlerweile weiß ich, was sie meinte. Am Reumannplatz und in den angrenzenden Gassen herrscht fast permanent Hochbetrieb, Massen von Menschen sind hier unterwegs. Und an den warmen Sommerabenden tobten die Kinder bis spät in der Nacht auf dem Spielplatz. Der Zehnte ist halt nichts für Sensible.

Rosemarie Schwaiger