Wien-Wahl: Die Psychologie des Stammtisches
Diese Reportage erschien ursprünglich in der profil-Printausgabe Nr.40/2015 vom 28. September.
Der Sack mit den warmen Pullovern in einer Tierarztpraxis in Oberösterreich, abgestellt neben einer Tür und hier stehen geblieben, ist ein stilles, aber besonders treffendes Bild für eine Gemütslage, die zwei Landtagswahlen prägt. Susanne Platzer (Name von der Redaktion geändert), 47, hat den Sack für Flüchtlinge hergerichtet und schafft es nun nicht mehr, ihn auch zu spenden.
Ihr Impuls zu helfen erstarrte, als sie die Syrer im Fernsehen sah, gut angezogen, gebildet, und wie sie fand "lässig zurückgelehnt“. "Heidi kennen wir“, "Mozart“ und "schön ist es hier“ haben sie gesagt. Sie wurden mit Luftballons und Klatschen begrüßt von freiwilligen Helfern, die seit Wochen am Wiener Westbahnhof ausharren, um erschöpfte Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Eritrea mit Wasser, Mannerschnitten und freundlichen Worten aufzurichten. Der Oberösterreicherin kommt es "innerlich hoch“, wenn sie daran denkt: "Sind diese Leute wirklich so blauäugig?“
Platzer, die mit ihrem Mann gemeinsam die Tierarztpraxis führt, sagt, in ihrem Bekanntenkreis drehten sich die Gespräche pausenlos darum, wohin das alles führen soll. Zwei befreundete Ehepaare stritten beim Fortgehen und reden nun nicht mehr miteinander. Als Platzer ihren Kindern am Mittagstisch davon erzählte, seien auch sie sich in die Haare geraten.
Verwirrt und grimmig schaut die Oberösterreicherin auf "nicht und nicht versiegende Ströme“, beobachtet Flüchtlinge, wie sie beim Textildiskonter neue Sachen kaufen, hört, in den Lagern werde ihnen Biokäse serviert, und liest, ein paar von ihnen hätten Polizisten Wurstsemmeln ins Gesicht geworfen. "Viele, die da jetzt kommen, sind 50 und älter. Die werden wir durchfüttern müssen. Gleichzeitig wird in Österreich überall gekürzt“, sagt Platzer. Wer koche für die Obdachlosen im eigenen Land, wer pflege die Alten, wer helfe dort, "wo keine Kameras sind“?
Susanne Platzer ist keine Hassposterin. Sie wählt nicht einmal die FPÖ. Ihre Kinder sind fast erwachsen und wollen studieren. Die 47-Jährige hat sich darauf eingestellt, bis ins hohe Alter zu arbeiten. Ihr Mann scherze oft, dass er "sicher einmal hinter einer Kuh sterben wird“. Er wähle blau, wie dieses Mal viele in Platzers Umfeld: "Quer durch die Bildungsschichten geht das.“ Sie aber sorge sich, dass es nach dem Rechtsruck "zu extrem“ werden könnte. Also bleibe sie bei der ÖVP, "mit Zähneknirschen“.
Hilfe, ja gerne, aber nicht lebenslang und nicht in dieser Menge! (Susanne Platzer, Tierärztin)
Die Oberösterreicherin bittet, ihren Namen zu ändern. Vor einigen Wochen mailte sie, profil möge "nicht nur syrischen Familien, sondern auch Österreichern“ eine Stimme geben und schloss ihre Nachricht mit: "Hilfe, ja gerne, aber nicht lebenslang und nicht in dieser Menge!“ Platzer ist auch nicht das, was man gemeinhin unter einer Stammtisch-Wählerin versteht. Sie wirkt überfordert damit, die epochalen Bilder und Nachrichten in ihre festgezimmerte, überschaubare Welt einzufügen. Je länger überzeugende Antworten auf sich warten lassen, umso ratloser und verunsicherter werden große Teile der Bevölkerung. Das Vertrauen in Handlungsfähigkeit und Krisenmanagement der Politik schmilzt. "Es entsteht ein Gefühl von Verwundbarkeit, das vor allem der FPÖ zugute kommt, obwohl viele, die sie wählen werden, genau wissen, dass sie keine Lösungen hat“, sagt der Politikwissenschafter Fritz Plasser.
Das zähneknirschende "Ja, aber“ einer zwischen aggressiven Rechten und zivilgesellschaftlicher Aufopferung eingeklemmten, verdrossenen und verunsicherten Mitte beschert den Freiheitlichen Aufwind, in Oberösterreich ebenso wie in Wien, wo am 11. Oktober gewählt wird. Um diese "Wo bleiben wir?“-Stimmung einzufangen, sprach profil mit Menschen, die sich als Angehörige der schweigenden Mehrheit verstehen. So wie der junge Installateur, der mit seiner Lebensgefährtin und seinen zwei Kindern in ein Haus in Gänserndorf gezogen ist, wo die Baugründe noch günstig sind. Oder die pensionierte Reiseveranstalterin aus der bürgerlichen Wiener Josefstadt, der 30-jährige Fassadentechniker aus Oberösterreich oder die Lehrerin aus dem Wiener Arbeiterbezirk. Manche schrecken davor zurück, die FPÖ zu wählen. Manche geben nicht zu, dass sie diesmal erstmals Blau ankreuzen. Sie wären bereit, Geld und Pullover für Flüchtlinge herzugeben, stehen aber der Willkommenskultur auf den Bahnhöfen verständnislos gegenüber. Und sie haben keine Lust, das laut zu sagen, "weil man so schnell im Verdacht steht, ausländerfeindlich zu sein“. Irgendwann fällt dieser Satz in fast allen Gesprächen.
Die Flüchtlinge drücken auf wunde Punkte. Fast immer, wenn das Gespräch mit den Hunderttausenden beginnt, die nach Europa gekommen sind und den Millionen, die angeblich noch auf ihre Gelegenheit warten, landet es bei unsicheren Arbeitsplätzen, Leistungsdruck, steigenden Mieten, verlorengehenden Tugenden und schmerzlich vermisstem gesellschaftlichen Zusammenhang. Nicht immer sind die Ängste an objektiven Tatbeständen festzumachen. Auf schwankendem Boden kann sich auch ein Beamter im abgesicherten Ruhestand fühlen. "Dass die Bedingungen in den vergangenen 20 Jahren sehr viel härter geworden sind, Arbeitslosigkeit und Lebenskosten steigen und selbst Menschen, die Arbeit haben, fürchten müssen, sie zu verlieren, spüren alle“, sagt der Soziologe Jörg Flecker. "Mir hilft auch keiner!“ Die Klage schlüpft schnell über die Lippen, wenn Menschen erfahren oder auch nur meinen, dass sie auf sich allein gestellt sind.
Der Verdruss über Politik und Medien sitzt tief. Nicht alle Gesprächspartner kommen mit Namen vor. Manche dürfen sich ohne offizielle Sprecherlaubnis gar nicht äußern oder fühlen sich mit Genehmigung nicht frei, zu sagen, was sie wirklich denken. Andere fürchten, ins rechte Eck gestellt zu werden, wo sie sich nicht sehen. Einige sagten zu und zogen sich wieder zurück. Manche zögerten und überwanden sich letztlich doch.
Dienstag vor zwei Wochen in Thomasroith, einer Ortschaft mit 500 Einwohnern in der Gemeinde Ottnang in Oberösterreich. Das orange angemalte ehemalige Arbeiterheim, in dem vor Jahrzehnten die Bergleute beisammen saßen, ist das einzige Gasthaus. Die Schotterstraße von anno dazumal ist asphaltiert. Braunkohle wird im Hausruck schon seit 20 Jahren nicht mehr abgebaut. Aber immer noch hängt im großen Saal ein Gemälde der Heiligen Barbara, Schutzherrin der Knappen. Eva, die Chefin im "Wia z’Haus“, sperrt das Stüberl für profil und die Diskutanten auf.
Seit die Medien nur mehr voll mit Flüchtlingen sind, werde ich beschimpft und persönlich angegriffen, sogar von Leuten, mit denen ich aufgewachsen bin und nie Probleme hatte. (Nina Thell, OP-Schwester)
In Thomasroith sagt man auch zu den Auswärtigen "Du“, außer man kann sie nicht leiden. Jeder kennt hier jeden. "Es gibt noch ein Zusammenhalten“, sagt Nina Thell, 36. Das war auch der Grund, warum die OP-Schwester nach ihrer Scheidung mit ihren beiden Kindern, sechs und neun Jahre alt, wieder hierher zog. Wenn sie im Krankenhaus in Vöcklabruck Nachtdienst hat, können ihre Eltern, ihre Schwester und Tanten einspringen. Thell will für die SPÖ in den Gemeinderat einziehen. Neuerdings muss sie sich rechtfertigen, warum sie nicht bei den Blauen ist: "Seit die Medien nur mehr voll mit Flüchtlingen sind, werde ich beschimpft und persönlich angegriffen, sogar von Leuten, mit denen ich aufgewachsen bin und nie Probleme hatte.“ Verwandtschaftliche Bande reißen. Thells jüngere Schwester Theresa Papst, 22, die in Salzburg Jus studiert, erkennt ihren Cousin kaum wieder: "Wenn es um Flüchtlinge geht, dreht er durch.“ Ihre Oma war als Sudetendeutsche aus Tschechien geflohen. Sie nehme es "vielleicht ein wenig persönlich“, wenn sich die Jungen in der FPÖ sammeln, in kurzen, abgehackten Sätzen reden und in Frakturschrift posten, ihr Hoamatland müsse erhalten werden. Jeden Tag werde die Liste ihrer Facebook-Kontakte kürzer.
Sonja Müller, 67, kennt in der Ortschaft so gut wie alle. Eingeweihte wissen, dass die Frau mit dem Flinserl im Ohr seit zehn Jahren in Pension ist. Von außen zu erkennen ist das nicht. Die gebürtige Thomasroitherin managt den örtlichen Fußballklub, hält den Pensionistenverein in Schuss, chauffiert die Kinder mit dem Bus in die Schule, und eben hat sie eine Viertelstunde lang draußen vor dem Gasthaus am Telefon auf einen bekennenden Blauen eingeredet, doch zur Runde zu stoßen. Vergeblich. Erst am Vormittag hatte sie mit ihm über Flüchtlinge gestritten. Das Gespräch ist hitzig geworden. Er sehe überall nur "Wirtschaftsflüchtlinge, die es auf unseren Wohlstand und unsere Jobs abgesehen haben“.
Kurt Knoll, 73, hat es sich angewöhnt, junge Blaue zu löchern - "Was fehlt dir? Was möchtest du geändert haben?“ -, um ihnen ungeachtet dessen, wie die Antwort ausfällt, darzulegen, dass es gescheiter wäre, "ihre Ängste und Ansinnen an die Sozialisten heranzutragen, statt einer Partei nachzulaufen, die für den Arbeiter noch nie etwas gemacht hat“. Als eines von sieben Kindern eines Bergmanns wurde Knoll in eine Welt hineingeboren, in der die staatliche Wolfsegg-Traunthaler Kohlenwerks AG für alles sorgte: Kindergarten, Schule, Wohnungen, ein Badehaus, Kino, eine Sauna. Holz und Gas zum Heizen und Kochen gab es für die Grubenarbeiter gratis, ihre Buben wurden mit dem Werkslaster zum Fußballtraining gebracht. 40 Jahre lang arbeitet Knoll als Fahrdienstleiter in Vöcklabruck. Mit seiner ÖBB-Pension kommen er und seine Frau Franziska, 75, über die Runden. In der Welt der beiden Eheleute sind an so gut wie jeder Fehlentwicklung "die Amerikaner“ schuld. Die ins Land kommenden Flüchtlinge "dienen nur den Kapitalisten“, sagt Kurt Knoll. Der Arzt müsse sich nicht sorgen, "aber für den Arbeiter sind die Asylanten Konkurrenten. Am Ende zahlt er immer drauf.“ Schon deshalb will er nicht, dass die Flüchtlinge auf Dauer bleiben: "Einem Asylanten gehört Asyl gewährt, solange er in Gefahr ist. Ein Bleiberecht aber darf es nicht geben.“
Wolfgang S., 65, der seit Norbert Stegers Zeiten der FPÖ die Treue hält, passt mit seiner brummigen Art besser zum knorrigen Sozialisten Knoll als zu den aggressiv-aufgedrehten Jungspunden der eigenen Partei. Auch ihn beschäftige es sehr, "dass uns die Wirtschaft über den Ami ins Zwicken nimmt“. S. arbeitete seit seinem 15. Lebensjahr als Elektromechaniker und Prozessleittechniker für AEG, die Voest, eine Druckerei und zuletzt für ein Sub-Unternehmen der Lenzing Chemiefaser. Und natürlich beschäftigen ihn die Flüchtlinge. "Man hätte die Griechen und die Italiener unterstützen müssen“, sagt er. Am liebsten wäre ihm, sie blieben zu Hause. Wären sein Großvater und sein Vater im Krieg davongerannt, wie heute die Syrer, Iraker und Afghanen, "ich hätte nichts gehabt“.
Wenn es in der Runde lauter wird, sitzt Daniel W., 30, mit einem kleinen Lächeln daneben. Der Sohn eines Polizisten hatte nach der HTL als Konstrukteur in einer Fassadenfirma zu arbeiten begonnen und danach an einer Fachhochschule Produktion und Management studiert. "Klar muss man die Leute unterstützen, wenn sie vor dem Krieg flüchten“, sagt er: "Aber dass Grenzen überrannt werden, passt auch nicht ganz. Ordnung und Struktur sollten schon sein.“ Er finde es nicht richtig, wie in Ungarn gegen Flüchtlinge vorgegangen wird. "Aber es haben unsere Leute auch gewisse Ängste, wenn sie hören, dass die Flüchtlinge aus einem Gebiet kommen, wo der IS werkt.“
Ausländer werden gegen die Unsrigen stark unterstützt. Jetzt kommen wieder so viele und kriegen eine Arbeit. (Annemarie S., Pensionistin)
Annemarie S., 75, ist eine der wenigen Zugereisten in der Runde. Die gebürtige Linzerin hatte als Urlaubsvertretung in der Post in Thomasroith ausgeholfen und war der Liebe wegen hier hängen geblieben. 1956, als die Ungarn-Flüchtlinge ins Land kamen, arbeitete sie in einer Schneiderei. Sie beschäftigte ein paar Flüchtlinge, einige Jahre später gingen sie zurück, sagt S.: "Und wenn das heute Wirtschaftsflüchtlinge sind, müssen sie auch zurück. Uns geht es auch nicht so rosig, wir haben genug Arbeitslosigkeit.“ S. hat eine Pension, die zum Leben reicht. Ihr Mann ist vor neun Jahren gestorben, und es ärgert sie maßlos, wie viel der Staat von ihrer Witwenpension abzieht. Ihre beiden Söhne haben ihren Weg gemacht, ihre Enkel, 23 und 26, aber suchen seit Monaten Arbeit. Sie könne sich des Eindrucks nicht erwehren, "dass Ausländer gegen die Unsrigen stark unterstützt werden. Jetzt kommen wieder so viele und kriegen eine Arbeit.“ Vielleicht seien ihre Enkel zu wenig qualifiziert, sagt sie. Einer sei gelernter Schlosser, der andere wolle jetzt Lehrer werden. Politisch "nirgends dabei, aber auch mit niemandem zufrieden“ wird S. am Wahlsonntag trotzdem irgendwo ihr Kreuzerl machen.
Die junge Jus-Studentin Theresa Papst fragt sich, wie "weit das noch geht mit den Einsparungen“. Als Mädchen habe sie von einem Haus mit Garten geträumt und von den Erwachsenen gehört, dass man studieren muss, um wirtschaftlich auf der sicheren Seite zu sein. Eine Lehre kam nicht infrage. Sie sagt, sie habe über all die Jahre in der Schule immer eine unbestimmte Angst gespürt, "mein Leben später einmal nicht bewältigen zu können“. Die Pensionen der Jungen seien schon so oft gekürzt worden. "Wir könnten uns in der Schule viel Geld ersparen, wenn wir die Schulbücher weitergeben“, sagt der FPÖler S. Franziska Knoll springt ihm bei: "Wenn etwas nichts kostet, ist es nichts wert.“
In manchen Momenten wirkt die Runde im Extrazimmer des "Wia z’Haus“ in Thomasroith wie ein lebendiges Museum. "Die Menschen, die sich heute fragen, wo sie bleiben, fragen sich das ja völlig zu Recht“, sagt der Netzwerk-Soziologe Harald Katzmair. In der digitalen Ökonomie des 21. Jahrhunderts, wo die Regeln von Google und Facebook gemacht werden, wirken Grubenarbeiter, Fahrdienstleiter und Krankenpfleger seltsam deplaziert. Ihr Ethos der harten Arbeit verträgt sich nicht mit dem risikofreudigen Experimentieren der neuen Ökonomie. Die Konkurrenz durch ausländische Leiharbeiter, die um zehn Euro in der Stunde arbeiten, bilden sich der Fassadenkonstrukteur und die Fabriksarbeiterin nicht bloß ein. Sie bekommen sie am eigenen Leib zu spüren.
"Die besondere Infamie der FPÖ besteht darin, dass sie so tut, als könnte sie den Leuten am Übergang von der Industriegesellschaft zum Digialkapitalismus eine Atempause verschaffen, während sie die Krise in Wirklichkeit beschleunigt“, so Katzmair. Massive Enttäuschungen sind programmiert. Mit rot-weiß-roten Fähnchen, Trachtenjacken und hohlen Identitäts-Verprechen lässt sich Google, Amazon und Facebook nicht begegnen. "Die Flüchtlinge erinnern uns daran, dass die Welt immer in Bewegung war, dass unsere Erstarrung und unsere Grenzen Illusionen mit Ablaufdatum waren“, sagt Katzmair. Der Stammtischwähler kennt "unsrige, gute Arbeiter“ und türkische, serbische, slowakische Konkurrenten. Doch indem er sie abwertet, wertet er sich selbst ab. Ehre, Respekt, Anerkennung funktionieren nicht mehr.
Thomas Solly, 32, ist in Wien-Meidlung in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Nach der Schule lernte er Installateur. Vor einem Jahr machte er sich mit seinem Bruder in guter Hietzinger Lage selbständig. Solly lebt mit seiner Lebengefährtin, zwei Kindern, zwei Katzen in einem Haus in Gänserndorf, wo die Mieten noch günstiger sind. Oft fährt er am Wiener Westbahnhof vorbei. "Wir wohnen alle auf einem Planeten“, sagt er: "Man muss den Flüchtlingen helfen, ich bin kein Gegner. Aber dieses Grenzen auf, Grenzen zu wirkt ziemlich unkoordiniert. Wer kontrolliert da? Wer weiß, wer sich da einschleust?“ Wenn er sehe, wie "viele Tausende da flüchten, bekommt man es ein wenig mit der Angst zu tun, dass unser Platz weniger wird.“ Manchmal sagen ihm Kundschaften ins Gesicht, wie sehr sie sich freuen, einen Österreicher zu sehen. Sollys Großmutter wurde als Sudetendeutsche vertrieben, seine Freundin kommt aus Polen. "Eigentlich weiß ich nicht, was ein Österreicher ist.“ Als Wähler hängt er in der Luft. Früher habe er in Wien Rot gewählt, mit Rot-Grün war das zu Ende. "Die Grünen nehmen das Thema Flüchtlinge zu locker, das spricht mich überhaupt nicht an“, sagt er. Jörg Haider habe ihn fasziniert, trotzdem komme die FPÖ nicht infrage: "Die Partei ist mir zu rechts, ich will nicht in so eine Sparte kommen.“ Abstiegsängste plagen Solly nicht. Er habe ein Haus, zu essen, und wenn er tüchtig sei, könne er viel schaffen: "Wohin soll ich absteigen?“
Vergangenen Montag trafen sich im Café Leopold im Wiener MuseumsQuartier ein Polizist und drei Pensionsten zum Gespräch mit profil. Christian Heger, 63, nach eigenem Bekunden "Hietzinger bis in die Socken“ mit einem Faible für Steilrinnen-Schifahren und Zitate von Erich Kästner, war vor 15 Jahren für die Endgeräte-Sparte eines Mobilfunk-Anbieters zuständig. Vor allem aber sei er ein "Freidenker“. Dass er in der Bundeshymne die Töchter des Landes besingen soll und im Kaffeehaus keinen Mohr im Hemd mehr bestellen darf, bringt ihn in Rage. Er fühle sich in seiner Gedankenfreiheit "von der Sozialdemokratie“ massiv beschnitten.
Haben Politiker denn gar keinen Genierer mehr, uns anzulügen? (Christian Heger, Pensionist)
Als Heger kürzlich zu Ohren kam, dass im Geriatriezentrum in Lainz Notbetten für Flüchtlinge aufgeschlagen werden, packte er einige Jacken und radelte dorthin: "Ich hatte das Bedürfnis zu helfen, wollte mich aber nicht so wie die anderen Helfer am Westbahnhof in Szene setzen.“ Als er vor Ort keine Flüchtlinge antraf, schoss Empörung in ihm hoch: "Haben Politiker denn gar keinen Genierer mehr, uns anzulügen?“ Das Vertrauen in ihre Redlichkeit hatte für Heger in der Bawag-Causa irreperablen Schaden genommen. Seit die Bawag-Richterin Claudia Bandion-Ortner Justizministerin wurde und der Bawag-Staatsanwalt Georg Krakov ihr Kabinettschef, glaubt Heger nicht mehr, dass die Gewalten im Land im Sinne der Verfassung getrennt funktionieren: "Ich finde auch niemanden mehr, den ich wählen könnte. Wenn man sich schwer tut, Strache zu wählen, wohin soll man mit seinem Protest?“
Der Missmut zieht sich durch alle Schichten, seit auch das Bürgertum begreift, dass es im Kosmos von Marc Zuckerberg weniger auf Respekt, Toleranz, kostbares Porzellan und gebundene Bücher ankommt als auf Clicks und Zukunftserwartungen, die über den Finanzmarkt finanziert werden. Es sucht Halt in Traditionen oder überdrehtem Konsum, manchmal auch in wirren Theorien, um die Unübersichtlichkeit der Welt zu bändigen. Bilder, Nachrichten, Geschichten, Anekdoten, Halbwahrheiten und Lügen müssen sortiert werden. "Man hört und sieht so viel, man weiß nicht mehr, wem man vertrauen kann“, sagte die Krankenpflegerin Thell im Gasthaus in Thomasroith. Am Wiener Kaffeehaustisch fallen fast die gleichen Worte.
"Medien berichten verzerrt, manche untertreiben, manche übertreiben. Wirklich vertrauen kann man niemandem. Was ich nicht selbst gesehen und erlebt habe, kann ich nicht beurteilen“, sagt die ehemalige Reisemanagerin Frieda Emmerich*. Die Länder, aus denen die Menschen nach Europa aufbrechen, kennt sie noch aus einer Zeit, als sie in Hochglanz-Katalogen als Urlaubsdestinationen beworben wurden. Syrien, Irak Jordanien, Libanon, Iran und Jemen hat sie selbst oft bereist. Emmerich spricht ein gepflegtes Wienerisch, wohnt in der Josefstadt und betrachtet es als bürgerliche Pflicht und Schuldigkeit, den Notleidenden zu helfen: "Mich stört es aber sehr, dass so wenig kontrolliert wird. Die Leute werden an den Grenzen durchgewunken.“ Jemand ohne Pass oder Identitätsausweis sei per se verdächtig, "entweder Dreck am Stecken zu haben oder nicht aus Syrien zu sein. Ich bin sicher, dass mit dem Schwall an Menschen sich auch einiges Gesindel hereinschwindelt.“
Menschen riskieren nicht erst seit gestern alles Hab und Gut und oft auch ihr Leben, um nach Europa zu kommen. "Doch so lange es nur die Nachbarstaaten betroffen hat, hat man sich darum nicht gekümmert“, sagt Walter Strallhofer, seit 1999 Polizist in Wien und Personalvertreter. Einsparungen zehren an der Substanz. Das gilt für die Krankenpflegerin, die wegen des Ärztemangels immer mehr aufgehalst bekommt, ebenso wie für Polizisten. "Viele Kollegen machen derzeit 60 Stunden Dienst und haben dann acht Stunden frei.“ Die in der Vergangenheit eingesparten Polizisten, die in der Flüchtlingskrise jetzt fehlen, "kann man nicht einfach aufblasen“: Fast zwei Jahre dauert es, bis ein Kollege ausgebildet ist. In manchen Polizeiinspektionen in Wien sitze nur mehr ein Beamter. Zwar seien Polizisten geübt, mit unangenehmen Dingen fertigzuwerden. Doch die Fähigkeit schwindet, wenn man permanent müde ist und unter Druck steht.
Gerda König, 69, war über 20 Jahre lang in einer Bank beschäftigt. Auch sie stürzen die Flüchtlinge in ein Wechselbad der Gefühle: "Entsetzen, dass Menschen sich in so einem Zustand befinden“, wechselt sich mit Unverständnis darüber ab, wie destruktiv und planlos Europa mit der Krise umgeht, und "schlechtem Gewissen, dass ich nicht am Bahnhof stehe und helfe“. König kommt aus einer "blauen“ Familie in Kärnten und hat lange gebraucht, sich aus dieser Prägung zu befreien. Nun habe sie für alle Zeiten genug von der FPÖ. Doch was stattdessen? "Unsere Politiker sind nur noch dekadent. Ich bin derartig verdrossen von Rot, Grün und Schwarz, jetzt wähle ich die NEOS.“ Ein Wiener Bürgermeister Strache macht einigen Angst, aber nicht allen. Die pensionierte Reisemanagerin Emmerich kann ihn sich "mit viel Fantasie in dieser Rolle vorstellen, da könnte er noch am wenigsten anstellen“.
Mir fehlt zwischen total linken Positionen und rechten Falschmeldungen die Mitte. Hier traut sich keiner mehr etwas zu sagen. (Walter Strallhofer, Polizist)
Wo wird noch über Ungutes geredet? Dem Pensionisten aus Hietzing kann es passieren, dass ihm in der Tramwaylinie Nummer 6 mulmig zumute wird, "weil ich weit und breit der einzige Österreicher bin“. Die ehemalige Reisebüro-Managerin Emmerich ist an manchen Ecken in Ottakring froh, "im Auto zu sitzen, da kommt man schnell weg“, und fürchtet sich vor Burkas, "weil man nie weiß, ob nicht ein Mann dahinter steckt“. Die Bank-Pensionistin hat nichts dagegen, wenn fremde Sitten und Gebräuche beibehalten werden, "solange ich damit nicht belästigt oder beschämt werde“. Der Polizist Strallhofer sagt, in seiner Familie sei früher über viel geredet worden, nicht nur über das schöne Wetter: "Dass Menschen so wie hier zusammensitzen und sich austauschen, gibt es fast nicht mehr.“ Andere Standpunkte werden ausgeblendet, weil niemand anecken, sich lächerlich machen oder etwas Falsches sagen will. Strallhofer: "Mir fehlt zwischen total linken Positionen und rechten Falschmeldungen die Mitte. Hier traut sich keiner mehr etwas zu sagen. Vielleicht sind alle schon völlig resigniert.“
In der Mitte wohnen die Widersprüche, konstatiert der Soziologe Flecker: "Man hilft und ist trotzdem voller Sorgen.“ In welche Richtung die Stimmung kippt, hängt auch davon ab, wofür und wogegen gerade mobilisiert wird. Regina Kellner* ist Lehrerin in einem Arbeiterbezirk in Wien: "Flüchtlinge lösen bei mir Beklemmung aus. Wir haben ja die Zuwanderung der 1970er-Jahre noch nicht verdaut.“ In ihrem Bezirk haben sich Viertel herausgebildet, in denen sie sich völlig fremd fühle. "Das mag für Touristen, die hier kurz vorbeischauen, lustig sein, ist aber recht anstrengend, wenn man hier lebt. Das Fremde könnte interessant sein, wenn es ein Schritt in die Zukunft wäre. Aber für mich ist es ein Rückschritt, was die Rolle der Frau, die Erziehung der Kinder, das Verhältnis zu Haustieren und vieles andere betrifft.“ In Kellners Klasse sitzen viele muslimische Kinder. Manchmal fühle sie sich als Lehrerin ziemlich allein gelassen mit ihren Problemen: "Ich sage nicht, dass nicht alles zu meistern wäre. Aber wir haben Angst vor klaren Positionen, drücken und lavieren herum.“ Vieles werde nur gemacht, um Vorwürfe abschmettern zu können. Ob es auch wirksam sei, interessiere die verantwortlichen Stellen nicht. "Ich habe meinen inneren Kompass noch. Aber wir verlieren unsere Wurzeln und unsere Standpunkte“, sagt Kellner.
So offen redet sie nur unter dem Schutz der Anonymität: "Auf der einen Seite brüllen die Rechten, die nur Zäune bauen wollen, auf der anderen Seite stehen die Leute am Westbahnhof.“ Sie gehöre weder zu den einen noch zu den anderen. Früher habe sie manchmal SPÖ, manchmal Grüne gewählt. Letztere sind gestrichen, "weil die Mariahilfer Straße und die Ampelmännchen an meinen Problemen komplett vorbeigehen“. Schwarz und Blau kommen nicht infrage, also wird sie am 11. Oktober vielleicht zum ersten Mal einen ungültigen Stimmzettel in die Urne werfen.
Susanne Platzer, die Frau des oberösterreichischen Tierarztes, würde die Augen vor den Flüchtlingen gerne verschließen: "Ich halte die Nachrichten nicht mehr aus, aber dann kann man doch nicht wegschauen von den nicht versiegenden Strömen“. Die Idee, der ORF-Aktion "Helfen wie wir“ Geld zu überweisen, hat sie schnell verworfen. Wisse man denn, wem man spende? "Ich verstehe nicht, dass man seine Heimat einfach hinter sich lässt und nicht mehr zurück will. Nein, ich kann nicht spenden.“
Keinen Cent. Keinen Pullover. Der Sack steht immer noch neben der Tür.