Wien-Wahl: Sind die NEOS noch eine liberale Partei?
Politik ist grausam: Da hat jemand eine gute Idee - und schon gibt es einen Widersacher, der sie kaputtmacht. Meistens handelt es sich dabei um den politischen Gegner. In Einzelfällen kann auch ein mittelständischer Gewerbebetrieb der Spielverderber sein. "Die Druckerei hat den Auftrag nicht angenommen“, erzählt Beate Meinl-Reisinger, Spitzenkandidatin der NEOS in Wien: "Wir mussten die Aktion absagen.“
Geplant war gewesen, die miese Finanzsituation der Stadt Wien plastisch darzustellen. Wie die NEOS berechneten, macht die Kommune pro Minute Schulden in der Höhe von 1500 Euro. Mit Fünf-Euro-Scheinen hätte man zeigen können, wie viel Geld das ist. Natürlich sollte das Happening nicht mit echten Geldscheinen vor sich gehen, sondern mit nachgedrucktem Spielgeld. Doch der Druckerei erschien dieser Jux zu riskant. Man weiß ja nie, ob die Justiz gerade lustig drauf ist oder nicht.
Macht nichts. Am Donnerstag Vormittag vergangener Woche sitzt Beate Meinl-Reisinger, Nationalratsabgeordnete und NEOS-Spitzenkandidatin in Wien, in einem Café an der Ringstraße und hat die kleine Schlappe bereits verdaut. "Wir haben noch sehr viele andere Ideen. Das ist das Schöne an unserer Struktur: Jeder kann sich etwas einfallen lassen und mitreden.“ Die meisten Einfälle sind noch dazu völlig ungefährlich. Zwei Tage vorher war Meinl-Reisinger bei Wind und Nieselregen neben dem Burgtheater gestanden und hatte ein Plakat enthüllt. Es zeigt einen grantigen jungen Mann mit Kopfhörern. "Seit 21 Jahren ist Häupl an der Macht - was hilft’s, wenn ich keinen Job hab“, lautet der Text. Das ist eindeutig eine Persiflage der aktuellen SPÖ-Wien-Kampagne. Die NEOS haben zwar nicht genug Budget, um ihre kleine Bosheit in der ganzen Stadt zu plakatieren. Aber für ein paar Klicks im Internet wird der Gag sicher reichen. Auch die SPÖ reagierte wie erhofft. Landesgeschäftsführer Georg Niedermühlbichler sprach von einer "schrill-skurrilen Agitation“. Er hat sich also geärgert. Immerhin.
"G’scheite Kinder statt g’stopfte Politiker“
Früher als alle anderen Parteien sind die NEOS in den Wiener Gemeinderatswahlkampf eingestiegen. Seit Wochen vergeht kein Tag ohne Aussendung und kaum eine Woche ohne fototauglichen Aktionismus. Beate Meinl-Reisinger stand schon mit einem pinken Farbspray in der Hand vor dem Rathaus und sprühte ihren Namen auf den Asphalt. Seit zwei Monaten läuft ein Volksbegehren unter dem Titel "G’scheite Kinder statt g’stopfte Politiker“, das sich gegen den nach Meinung der NEOS aufgeblähten Politikapparat wendet. Eine Reform des Systems würde, so die neue Partei, genug Geld freimachen, um jeden Pflichtschüler mit 1000 Euro extra im Jahr zu fördern. Und vor ein paar Wochen setzte sich ein NEOS-Mitarbeiter mit Häupl-Gesichtsmaske auf eine Dampfwalze, um zu symbolisieren, wie die SPÖ den Wählerwillen plattmacht.
Nur rund 700.000 Euro stehen den NEOS für den Wahlkampf in Wien zur Verfügung. Das ist ein Bruchteil der Summen, die von den etablierten Parteien ausgegeben werden können. Es bleibt dem Polit-Nachwuchs also nichts anderes übrig, als mit möglichst spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam zu machen. Die jüngsten Landtagswahlen in der Steiermark und im Burgenland endeten für die NEOS unerfreulich. Wien könnte damit bereits eine Art Vorentscheidung werden. Gelingt auch in der Bundeshauptstadt kein Achtungserfolg, wäre das ein Dämpfer, von dem man sich vielleicht nicht mehr erholen würde. Bundesparteiobmann Matthias Strolz ist folglich hochzufrieden mit der Hyperaktivität seiner Parteifreunde. "Wir sind in unserer Botschaft in den letzten Monaten wieder lauter geworden. Ich kann ja keinen Fünfzeiler mit Fußnoten auf das Plakat schreiben“, erklärte er im ORF-"Sommergespräch“.
Auch der Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer vom OGM-Institut will keine Fehler erkennen. "Bisher waren die NEOS immer hochanständig in ihrem Auftreten. Jetzt agieren sie professionell.“ Ein Schuss Populismus habe noch keiner Partei geschadet. "Im politischen Marketing geht es um Verkürzung, Emotionalisierung, Überraschung. Das haben die NEOS jetzt gelernt.“
Auf der Strecke bleibt allerdings die Botschaft. Selbst Fans der Partei könnten im Moment wohl nicht genau sagen, warum sie vorhaben, pink zu wählen. Es ist leicht, das fröhlich-forsche Auftreten von Meinl-Reisinger und Kollegen sympathischer zu finden als den abgeklärten Funktionärszynismus in anderen Parteien. Aber sehr viel mehr als ein Bauchgefühl wird nicht geliefert.
Von herzlosem Neoliberalismus, den vor allem die SPÖ dem neuen Mitbewerber gerne unterstellt, ist die Partei jedenfalls sehr weit entfernt. Viele NEOS-Aussendungen könnten ebensogut aus der Textwerkstatt der Grünen kommen: "Erschüttert kommentiert die Wiener NEOS-Spitzenkandidatin Beate Meinl-Reisinger die Aussagen Straches im heuten ORF-,Sommergespräch‘ zum Thema Asyl“, heißt es da etwa. Als Außenminister Sebastian Kurz jüngst wieder einmal forderte, Kinder ohne Deutschkenntnisse in separaten Schulklassen zu unterrichten, musste er sich anhören, er fische nun auch im FPÖ-Wählerbecken. Und erst vor zwei Tagen kritisierte die Spitzenkandidatin die medizinische Versorgung in Wien: "Die Entwicklung geht hin zu einer Zwei-Klassen-Medizin, unter der vor allem die einkommensschwächeren Wienerinnen und Wiener leiden.“
Feindbild FPÖ
In sämtlichen schriftlichen Stellungnahmen der NEOS wird rigoros gegendert, und zwar nicht mittels Binnen-I, sondern, ganz vorbildlich, mit Unterstrich - damit sich auch Leser_innen mit undefinierter geschlechtlicher Zuordnung gemeint fühlen. Und das Feindbild FPÖ wird mindestens so liebevoll gepflegt wie bei den etablierten Kollegen von den Grünen. Auf der von den NEOS eingerichteten Website "stracheabmontieren.at“ kann man den FPÖ-Chef seit ein paar Wochen sogar virtuell löschen. Für je zehn Euro Parteispende löst sich ein kleines Quadrat von seinem Foto auf und wird pink eingefärbt.
So etwas gefällt erfahrungsgemäß den Wiener Bobos, also dem Typus Gutverdiener mit moralischem Anspruch, der auch den Großteil der Grünwähler stellt. Von der ewigen rot-schwarzen Koalition genervte Konservative können damit eventuell weniger anfangen.
Im aktuellen Streit um die Sonntagsöffnung in Wien blieb Meinl-Reisinger eine klare Position schuldig. Sie forderte lediglich eine "faire Lösung für den gesamten Standort und keine Bevorzugung einzelner Straßenzüge“. Was damit gemeint sei? "Wenn der Eigentümer selbst im Geschäft steht, soll er entscheiden dürfen, ob er offen halten will oder nicht“, sagt Meinl-Reisinger. Vor allem den Besitzern kleiner Läden und Greißlern würde das helfen, meint sie. Für den Rest des Handels fühlt sie sich indes nicht zuständig: "Ich sehe nicht die Qualität, wenn der H&M am Sonntag offen hat.“
Vielleicht war es von Anfang an ein Missverständnis, die NEOS für eine liberale Alternative zur ÖVP zu halten. Oder es zerbricht gerade wieder einmal ein liberales Projekt an der österreichischen Realverfassung. Für ein paar einschlägige Vorstöße waren die NEOS nämlich derart geprügelt worden, dass sie mittlerweile offenbar der Mut verlassen hat. Als etwa Angelika Mlinar, Spitzenkandidaten bei den EU-Wahlen, eine Privatisierung der Wasserversorgung nicht kategorisch ausschließen wollte, ging ein Protestgeheul durch das Land. Gegen den Vorwurf, er wolle das kristallklare österreichische Wasser an profitgeile Großkonzerne verscherbeln, muss sich Parteichef Strolz bis heute verteidigen. Alle Experten sind sich auch einig, dass es unklug war, ausgerechnet im Vorarlberger Landtagswahlkampf die Abschaffung der Wohnbauförderung zu fordern. Der Alemanne liebt nun mal sein (gefördertes) Eigenheim. Kein Wunder, so der Tenor, dass die NEOS in Vorarlberg, dem Heimatland ihres Gründers, nicht einmal sieben Prozent bekamen.
Dabei wären beide Positionen für eine liberale Partei durchaus argumentierbar. Man macht sich damit bloß nicht reihum beliebt.
Beate Meinl-Reisinger bleibt deshalb auf sicherem Terrain. Sie kritisierte zwar jüngst wieder die hohen Steuern in Wien - aber nur im Zusammenhang mit dem "aufgeblähten Filz“ im Rathaus, der zu viel Geld verschlinge. Damit trifft sie keine potenziellen Wähler. Das Ziel am 11. Oktober sei, "so stark zu werden, dass wir unsere Forderungen umsetzen können“, gibt sie auf Anfrage zu Protokoll.
Schon erstaunlich, wie schnell man in der Politik Sätze lernt, die exakt gar nichts aussagen.