Wien: Wer wohnt eigentlich im Gemeindebau?
Omowuwe, Eroglu, Gruber, Gorica, Marquardt, Toth, Rieder, Grießl, Vucic, Szabo, Schönhofer, Seidl. Eine einzelne Stiege in einem der 2000 Wiener Gemeindebauten mit ihren 220.000 Wohnungen und 450.000 Bewohnern. Ein typischer Multi-Kulti-Mix, der bald verschwinden sollte – zumindest von den Türschildern. Diese werden seit einigen Wochen durch anonyme Top-Nummern ausgetauscht. Die FPÖ unterstellte prompt, man wolle den wachsenden Anteil ausländischer Namen verschleiern. Die Stadt Wien dementierte und verwies auf entsprechende internationale Trends. Update: Die Türschilder bleiben nun doch. Seither lässt die FPÖ keine Gelegenheit aus, Stimmung zu machen. „Keine weiteren Muslime in Gemeindebauten“, forderte ein FPÖ-Gemeinderat für seinen Bezirk Döbling. Der blaue Vizebürgermeister Dominik Nepp will einen „Staatsbürger-Bonus“ bei der Vergabe von Gemeindewohnungen.
Der Wiener Gemeindebau ist ein Unikat, in Österreich und in Europa. Nirgendwo besitzt und verwaltet eine Stadt so viele Wohnungen. Ein Viertel aller Wiener Wahlberechtigten wohnt in Anlagen wie dem Schöpfwerk, Karl-Marx-Hof, Viktor- Adler-Hof oder der Rennbahnsiedlung. Sowohl für SPÖ als auch für FPÖ stellen die Gemeindebauten ein entscheidendes Wähler-Reservoir dar. Holte die SPÖ in ihren historischen Bastionen des roten Wien im Jahr 2010 noch 60 Prozent der Stimmen, verlor sie dort 2015 die Mehrheit an die Freiheitlichen. Laut einer Wahlbefragung von Sora unter Gemeindebaubewohnern wählten vor drei Jahren 42 Prozent rot und 47 Prozent blau. Grund war die Flüchtlingsdebatte und die Angst vor dem Verlust von Sicherheit und Lebensqualität.
Bis 2006 hatten nur österreichische Staatsbürger Anrecht auf eine Gemeindebauwohnung. Danach wurden die Bauten – nicht zuletzt aufgrund von EU-Regeln zur Gleichbehandlung – für Ausländer geöffnet. Auf die Veränderungen ihrer Wohnwelten reagieren die „Ur“-Bewohner seither recht empfindlich.
Wer wohnt heute im Gemeindebau? Wer kam, wer ging, wer blieb? profil-Recherchen ergeben: Von 2007 bis 2016 sank die Zahl der Bewohner ohne Migrationshintergrund von 218.000 auf 190.000 oder 43 Prozent der insgesamt 450.000 Bewohner (nicht zuletzt durch Todesfälle). Hingegen wuchs die Zahl von Menschen aus Drittstaaten und deren Nachkommen von 148.000 auf 203.000 oder 46 Prozent. Aus EU-Ländern stammen stabil 49.000 Bewohner (11 Prozent). Das geht aus dem Wiener Integrationsmonitor 2016 hervor. Drittstaaten, das sind über 100 Nationalitäten, vorwiegend jedoch die Türkei und die Nachfolgestaaten Jugoslawiens, also das klassische Gastarbeiter-Milieu.
2013 erhob die OECD, dass die Hälfte der türkischen Migranten in Wien im Gemeindebau lebt sowie ein Drittel aller Wiener, die in Ex-Jugoslawien geboren sind. Das ergibt nach Hochrechnungen rund 60.000 Menschen mit türkischen und 100.000 Menschen mit jugoslawischen Wurzeln, die im Gemeindebau leben – mit oder ohne Staatsbürgerschaft.
An Flüchtlinge sind laut Wiener Wohnen aktuell 5000 oder 2,4 Prozent aller Wohnungen vergeben. Die Zahl der Familienmitglieder, die darin leben, weist das Gebäudemanagement der Stadt nicht aus, ebenso wenig die Nationalität. Es muss sich um Menschen früherer Fluchtwellen aus Tschetschenien, Afghanistan oder dem Iran handeln. Denn jene Syrer, Iraker und Afghanen, die im Fluchtjahr 2015 nach Wien kamen, warteten zunächst ihr Asylverfahren ab. Mit einem positiven Bescheid mussten sie dann, wie alle anderen Anwärter, auf eine Gemeindewohnung durchgehend zwei Jahre an einer Wiener Adresse hauptgemeldet sein. Schaffen sie es schließlich auf die Warteliste, landen sie ganz hinten, weil Wiener mit längerem Aufenthalt in der Stadt vorgereiht werden. So will es der vom neuen Bürgermeister Michael Ludwig eingeführte „Wien-Bonus“.
Nach diesen zeitlichen Hürden ist jedoch mit Zuzug von syrischen, afghanischen oder irakischen Flüchtlingen in den Gemeindebau zu rechnen, denn viele Familien wohnen derzeit auf engstem Raum zusammengepfercht. Selbst wenn die Flüchtlingswelle 2015 in den nächsten Jahren verstärkt im Gemeindebau ankommt, werden den größeren Teil der Muslime im Gemeindebau weiterhin Bosnier oder Türken stellen, mit ihrer großen Spannweite von sehr liberalem bis zu sehr konservativem Islam. „Ich kenne mehr Türkinnen ohne als solche mit Kopftuch“, erzählt eine Frau im Schöpfwerk. Selbst von einigen vollverschleierten Frauen, die seit dem Burkaverbot Schutzmasken als Ersatz für das Kopftuch tragen, lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen.
Sie gehört zur Generation der rüstigen Wiener Rentnerinnen, die in den Höfen allgegenwärtig sind. In den 1970er-Jahren mit ihren Familien in die neu errichteten Anlagen gezogen, blieben die Frauen nach Auszug der Kinder, Trennung oder Tod des Mannes weiterhin in ihren Wohnungen.
Die Kinder, erzählen mehrere Frauen zwischen Schöpfwerk und Rennbahnsiedlung, zieht es in der Regel nicht zurück in die Gemeindebauten der Stadt Wien, sondern in neuere Genossenschaftswohnungen. Nachrücken würden meist Zuwanderer-Familien. Diesem Eindruck widersprechen auf den ersten Blick die Zahlen von Wiener Wohnen, wonach 2017 rund 1000 der 9000 Wohnungen an Drittstaatsangehörige vergeben wurden. Außerdem gingen 688 Wohnungen an Flüchtlinge.
Auf den zweiten Blick zeigen die Zahlen nur, wie viele Menschen, die in den Augen der „Ur“-Bewohner der Gemeindebauten ausländisch wirken, die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Das gilt auch für deren Kinder, die nach dem Auszug bei den Eltern dem Gemeindebau treu bleiben. 20 Prozent der Wohnungen werden jährlich an Jungwiener vergeben, die nicht selten Migrationshintergrund haben. Laut OECD wohnen beinahe 40 Prozent der Wiener mit Eltern aus Drittstaaten im kommunalen Sozialbau.
So ändert der echte Wiener im Gemeindebau sein Gesicht.