Wiener Obdachlosenmorde: Zwischen Mut und Hilflosigkeit
Susanne Peter kommt mit Zigaretten. Das erleichtert den Gesprächseinstieg, sagt die 53-jährige Sozialarbeiterin der Caritas. Sie steht am Vorplatz der Wiener Friedensbrücke, wo zwei Freiwillige der Einrichtung Suppe und Brot ausgeben. Das Angebot richtet sich an Bedürftige, der Großteil der Kundschaft ist obdachlos. Rund 30 Leute stehen an diesem heißem Augustabend in der Schlange. Peter möchte von ihnen wissen, wie es ihnen geht, ob sie helfen kann – und ob sie von den Morden gehört haben. Denn in den vergangenen sechs Wochen sind in Wien zwei Obdachlose getötet worden, eine dritte überlebte einen Angriff schwer verletzt. Alle drei Opfer erlitten Stichverletzungen, alle drei wurden in der Nacht attackiert. Die Polizei geht von einem Serientäter aus.
Die meisten der Leute, mit denen Peter ins Gespräch kommt, wissen davon. Da ist ein Mann, der ihr lachend Zigarette um Zigarette abluchsen will, und sagt, er habe in der Zeitung sogar von sieben Morden gelesen. Er übersetzt auch für einen jungen Ungarn, der nur gebrochen Deutsch spricht. Er schläft allein in verschiedenen Parks in der Wiener Innenstadt. Er habe keine Angst, sagt er, und zieht zur Verdeutlichung seine Fäuste wie ein Boxer vors Gesicht. Auf einer Parkbank sitzt der Slowake Peter, er klagt über Fußschmerzen und sein schweres Gepäck, einen Rucksack und einen Rollkoffer, in denen er seine Habseligkeiten transportiert. Er sei nicht sonderlich mobil und könne deswegen nicht einfach so in einem Notquartier Unterschlupf finden, sagt er.
Susanne Peter war 1986 Mitgründerin der „Gruft“, einer der bekanntesten Obdachloseneinrichtungen Wiens, seit 1994 ist sie auch Streetworkerin, sucht ihre Klientinnen und Klienten also auch auf der Straße auf. 60 Prozent der knapp 20.000 obdach- und wohnungslosen Menschen, die in Österreich von der Statistik Austria erfasst sind, leben in der Hauptstadt. „So etwas wie momentan habe ich hier noch nie erlebt“, sagt sie. Der Fonds Soziales Wien (FSW), der sich von städtischer Seite um die Obdachlosenhilfe kümmert, hat wegen der Mordserie sein Angebot erweitert. 110 zusätzliche Schlafplätze stehen zur Verfügung, dort sind die Betroffenen vor Messerangriffen in Sicherheit. Auch die Polizei ermittelt auf Hochtouren – allerdings noch ohne konkrete Spur. Polizei und Sozialarbeiter versuchen eine Gruppe zu beschützen, die andauernd mit Gewalt konfrontiert ist und gewohnt ist, übersehen zu werden.
Gleicher Modus Operandi
Die Mordserie begann in den Morgenstunden des 12. Juli am Donauufer in der Nähe der Floridsdorfer Brücke. Da entdeckte eine Spaziergängerin auf einer Parkbank einen Leichnam. Die Polizei sperrte das Gebiet großräumig. Wenig später war klar, dass es sich bei dem Opfer um einen 56-jährigen Ungarn handelte, der auf der Straße lebte. Und die Ermittler fanden in der Umgebung Blutspuren. Der Mann war nicht auf der Bank angegriffen worden, sondern gut 350 Meter entfernt. Er hatte Stichwunden im Bauchbereich, und an den Oberarmen.
Zehn Tage später widerfährt einer 51-jährigen Slowakin in der Venediger Au, einer Parkanlage in Wien-Leopoldstadt, dasselbe. Der Angriff reißt sie aus dem Schlaf, doch die Verletzungen sind nicht tödlich. Es gelingt ihr, Alarm zu schlagen. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert und – als es ihr gesundheitlicher Zustand erlaubt – von der Polizei vernommen. Der Täter, so heißt es, sei in Richtung des angrenzenden Verkehrsknotenpunkts, dem Praterstern, geflüchtet. Zwei Wochen später folgt der dritte Tötungsversuch am Gürtel. Ein Autofahrer sieht in der Früh des 9. August – es ist noch dunkel – einen schwer verletzten Mann am Straßenrand sitzen. Zwei Notoperationen und drei Tage später verstirbt er jedoch im Spital.
Seither geht die Polizei von einem Serientäter aus, oder zumindest Tätern, die zusammenarbeiten. „Der Modus Operandi ist der Gleiche“, sagt Polizeisprecherin Barbara Gass. „Die Taten sind früh am Morgen passiert, und die Verletzungen der Opfer haben starke Ähnlichkeiten aufgewiesen.“ Die Exekutive hat deswegen ihre Präsenz an Orten, an denen traditionell viele Obdachlose schlafen, erhöht, und bittet die Bevölkerung um Hinweise. 10.000 Euro hat der Verein „Freunde der Wiener Polizei“ für „zielführende Informationen zur Täterausforschung“ ausgelobt. Noch ohne durchschlagenden Erfolg. „Wir ermitteln in alle Richtungen“, heißt es aus der Pressestelle. Zusatz: „Die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass es vor der Tat keinerlei Auseinandersetzungen mit den Opfern gegeben hat.“
Das unterstreicht die Besonderheit der Fälle. Denn in 70 bis 80 Prozent der Morde in Österreich liegt zwischen Opfer und Täter zumindest ein Bekanntschaftsverhältnis vor. Das geht aus den Sicherheitsberichten hervor, die das Innenministerium jedes Jahr veröffentlicht, und in denen auch die Zahl der Mordanzeigen aufgelistet wird. Im Regelfall töten Mörder also Menschen, die sie kennen.
Die deutsche „Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe“ zählte zwischen 1990 und 2017 26 Morde an Obdachlosen, weil die Täter sie als „Asoziale“ ansahen. Vergleichbare Daten gibt es in Österreich nicht.
Seltene Mordserien
Dazu kommt, dass es sich aktuell um eine Mordserie handeln dürfte. Eine weltweit einheitliche Definition dafür gibt es nicht. Das österreichische Bundeskriminalamt (BK) folgt dabei den deutschen Kollegen. Um von einer Mordserie zu sprechen, müssen folgende Kriterien erfüllt sein: die Tötung von zwei oder mehreren Opfern, durch den oder dieselben Täter bei mindestens „zwei verschiedenen Ereignissen“, also mit einer „Cool-Down“-Phase dazwischen. So grenzt man Serienmorde von Amokläufen oder Mehrfachmorden ab, bei denen der derselben Tat mehrere Menschen umgebracht werden.
Viele Serienmorde gibt es in Österreich nicht. 50 Tötungen, die im Zusammenhang mit einer Serie stehen, listet die internationale Ermittler-Datenbank „ViCLAS“ seit den 1970er Jahren, erklärt das BK auf profil-Anfrage. So medienwirksam die Fälle sind, und so prominent sie in Podcasts auf Spotify oder Miniserien auf Netflix auch gefeatured werden, sie sind statistisch die Ausnahme. Den 50 Fällen in Österreich stehen laut Sicherheitsberichten knapp 3000 Mordfälle im selben Zeitraum gegenüber, die Einzelfälle waren.
Auffällig oft fallen Menschen Serientätern zum Opfer, die gesellschaftlichen Randgruppen angehören. Österreichs wohl berühmtester Serienmörder, Jack Unterweger ermordete Anfang der 1990er-Jahren acht Sexarbeiterinnen. Doch auch Morde an Obdachlosen sind keine Ausnahme, gerade dort wo Serienmorde öfter passieren. Im März des Vorjahres soll ein 30-jähriger US-Amerikaner an der Ostküste der Vereinigten Staaten innerhalb von zehn Tagen zwei Obdachlose getötet und drei weitere schwer verletzt haben, er sitzt in U-Haft. Nur ein Monat zuvor wurde im US-Bundesstaat Florida ein Mann verhaftet, dem Morde an zwei Obdachlosen im Herbst 2021 vorgeworfen werden. Einer der bekanntesten deutschen Serienmörder, Arthur G., tötete im Frühjahr 1990 in Frankfurt am Main acht Menschen – die Mehrheit von ihnen obdachlos – mit einem Hammer. Den Opfern lauerte er zumeist in der Nacht auf, in Parks und Grünanlagen.
G. soll an paranoider Schizophrenie gelitten haben, der Polizei sagte er, eine Stimme aus dem Jenseits habe ihn geführt. Eine Studie des FBI aus dem Jahr 2019, bei der 480 Mordserien untersucht wurden, kam zu dem Ergebnis, dass ein Drittel der Täter an psychischen Erkrankungen – allen voran Persönlichkeitsstörungen – litt. Obdachlose werden aber nicht nur wegen Wahnvorstellungen zu Mordopfern. Die deutsche „Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe“ zählte zwischen 1990 und 2017 26 Mordfälle an Obdachlosen, weil die Täter sie als „Asoziale“ ansahen. Vergleichbare Daten gibt es in Österreich nicht. Der österreichischen Wohnungslosenhilfe fehlen die Ressourcen, um derlei Daten zu sammeln, wie sie auf Anfrage mitteilt, die Polizei erfasst Gewaltdelikte gegen Obdachlose nicht gesondert.
Schlechte Erinnerungen
„Gewalt war immer schon ein Thema. Alleine schon was Obdachlose jeden Tag auf der Straße erleben. Da geht es nicht nur um körperliche Gewalt, sondern auch um psychische“, sagt einer der zwei Straßensozialarbeiter des Fonds Soziales Wien, die das profil auf ihrer Tour begleitet. Sie möchten anonym bleiben, die Arbeit mit ihren Klienten ist heikel, man soll sie nicht erkennen. Ihre Route verläuft an diesem Montag durch östliche Innenstadtbezirke. Die meisten Leute, mit denen sie reden, kennen sie. Dass das 16-köpfige Streetworkteam zehn Sprachen beherrscht, erleichtert die Kommunikation. Mit Journalisten wollen die meisten Klienten aber nicht sprechen. „Es gibt obdachlose Menschen, die skeptisch gegenüber Kameras sind. Oft haben sie Angehörige, die vielleicht gar nicht wissen, dass sie obdachlos sind“, sagt einer der beiden.
Noch viel weniger wollen die Menschen mit der Polizei reden, sie haben schlechte Erinnerungen. Das erschwert die Ermittlungen, auch wenn alle Sozialarbeiter, mit denen profil im Zuge der Recherche gesprochen hat, betonen, dass die Behörden seien im Umgang sehr sensibel seien. Auch die Angebote der Sozialarbeit erreichen nicht jeden. 80 Prozent der 110 Zusatzbetten des FSW seien ausgelastet, heißt es auf Anfrage, man arbeite daran, die Zahl zu erhöhen. „Manche wollen oder können einfach nicht mit anderen in einem Raum schlafen“, sagt Susanne Peter von der Caritas. „Das sind die Einzelgänger. Sie sind momentan sicher die Gefährdetsten.“
Hilfloser Versuch
Am Schlusspunkt ihrer Tour treffen die FSW-Sozialarbeiter dann auf den 82-jährigen Nicolai. Er sitzt vor der Schnellbahn-Station am Matzleinsdorfer Platz und hat vor sich einen Becher stehen, mit dem er um Geld bittet. Er spricht kein Wort Deutsch, aber einer der beiden Streetworker rumänisch. Nicolai erzählt, dass er in Rumänien 31 Jahre lang im Straßenbau gearbeitet habe, wegen der Teuerung aber von seiner Pension, die 180 Euro monatlich beträgt, nicht mehr leben kann. Seit zwei Wochen ist er in Wien, er will hier etwas dazu verdienen. Obdachlos sei er aber nicht, er teile sich mit zwei Kollegen eine Garçonnière. Dennoch geben ihm die Streetworker Infomaterialien. „Es kann ja sein, dass er nächstes Monat keine Wohnung mehr hat“, sagt der, der übersetzt hat.
Auch Susanne Peter bringt am Schluss ihrer Gespräche etwas unter die Leute: ein kleines Warngerät mit einem angesteckten Metallkettchen. Man kann es mit einem Handgriff entfernen, dann macht das faustgroße Kästchen plötzlich einen Höllenlärm. Es soll in Gefahrensituationen Aufsehen erregen und Gewalttäter in die Flucht treiben. „Das ist ein etwas hilfloser Versuch, aber vielleicht bringt er ja was“, sagt sie. Auch ihrem slowakischen Gesprächspartner Peter erklärt sie die Funktionsweise. Er hält es eine Zeit lang in der Hand und spielt damit, dann steckt er das Gerät in seine Hosentasche. Ein paar Minuten später steht er auf und macht sich auf den Weg zu seinem Schlafplatz. Auch heute wird er die Nacht im Freien verbringen, und alleine.