Im Buch „Allahs mächtige Influencer“ warnen die Journalisten Stefan Kaltenbrunner und Clemens Neuhold vor dem Einfluss radikaler TikTok-Prediger. Fastende Volksschüler sind ein aktuelles Beispiel dafür.
Nach zwei Stunden Unterricht sind die Kinder völlig erschöpft. Sie sind durstig, hungrig und völlig geschwächt. An einen normalen Unterricht ist dann fast nicht mehr zu denken“, sagt Robert R., der in einer Wiener Mittelschule unterrichtet und anonym bleiben möchte. In seiner Klasse sind rund 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler muslimisch. Die meisten von ihnen fasten und halten den Ramadan ein, der in diesem Jahr in den März fällt. Muslime dürfen im Fastenmonat vom Beginn der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang nichts essen und trinken. Das Fasten gehört zu den fünf Grundsäulen des Islam. Im Ramadan sollen sich Gläubige ganz auf ihre Hingabe zu Gott konzentrieren, heißt es in den Überlieferungen des Propheten. Es ist eine Prüfung, die Allah den Menschen auferlegt habe, damit sie ihn fürchten, sagt der deutsche Salafisten-Prediger Marcel Krass auf der Social-Media-Plattform TikTok.
Er ist einer der Protagonisten, den wir für unser neues Buch „Allahs mächtige Influencer – wie TikTok-Islamisten unsere Jugend radikalisieren“ genauer unter die Lupe genommen und interviewt haben.
Allahs mächtige Influencer, Stefan Kaltenbrunner und Clemens Neuhold,
Verlag: edition a, 240 Seiten, 26 Euro
Die Moschee in der Hosentasche
Eine Altersgrenze fürs Fasten ziehen diese Online-Prediger bewusst nicht ein, für sie ist das Fasten eine unverhandelbare, von Gott gegebene Pflicht, wie auch das Tragen eines Kopftuchs. Sie verbreiten auf Social-Media-Plattformen wie TikTok oder Instagram eine radikale Auslegung des Islam, die in so manch städtischer Schulklasse bereits Mainstream geworden ist.
Sie haben auf den Plattformen Hunderttausende Follower mit Millionen Klicks. Auf die alten, bärtigen Imame in den Moscheen hören junge Muslime schon lange nicht mehr. Ihre Moschee ist das Smartphone in der Hosentasche.
In kurzen Videos erklären die Prediger den Jugendlichen, was verboten (haram) und was erlaubt (halal) ist. Während des Ramadans listen sie täglich Dutzende Regeln auf, wie richtig gefastet wird.
Wie sehr sich die extreme Auslegung des Islam nicht zuletzt durch diese TikTok-Prediger unter muslimischen Jugendlichen verfestigt, lässt sich im schulischen Alltag immer häufiger beobachten, berichten Lehrkräfte. Das zeigt sich nicht nur im Ramadan.
Vor allem muslimische Burschen stellen plötzlich islamische Regeln auf, erklären anderen, wie sie sich korrekt zu verhalten haben, drängen Mädchen dazu, ein Kopftuch zu tragen, und fordern ihre Mitschüler zum Fasten auf. Fragt man sie, woher sie ihr Wissen haben, verweisen sie auf TikTok-Prediger.
Fast alle Online-Prediger bauen dabei Drohkulissen auf und hämmern den Jugendlichen ein, dass sie das Höllenfeuer erwartet, sollten sie Allahs Gesetze nicht befolgen. Wer hingegen fastet, dem winkt das Paradies.
Andere Prediger verkaufen das strenge Fasten als Abgrenzung vom „sündigen Westen“. So könne im Ramadan jeder beweisen, dass er ein wahrer Muslim sei und sich für Allah aufopfere.
„Die Prediger arbeiten dabei vor allem mit Schuldgefühlen und purer Angstpädagogik“, sagt der israelisch-deutsche Psychologe und Deradikalisierungsexperte Ahmad Mansour. Die Gebote und Verbote des Fastenmonats umfassen dabei alle Lebensbereiche – von der Masturbation bis hin zum Zähneputzen.
Beides sei während des Fastens verboten, weil dem Propheten der Mundgeruch eines fastenden Gläubigen lieber gewesen sei als ein lieblicher Moschusduft, sagt Abul Baraa, einer der bekanntesten radikalen Salafisten-Prediger, auf seinem TikTok-Kanal vor Zehntausenden Followern. Er sagt auch, dass das Fasten für Kinder auf keinen Fall schädlich sei, ganz im Gegenteil. Denn schon zu Zeiten des Propheten haben kleine Kinder gefastet. Man gab ihnen Spielzeug zur Ablenkung.
„Das hält der Kinderkörper nicht aus“
Kinder sind freilich vom Fasten eigentlich ausgenommen. Frühestens ab zwölf, eher ab 14 Jahren wären sie laut gängiger Glaubenslehre dazu bereit. Auch im zarten Alter von 14 Jahren kann es die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen, den ganzen Tag nichts zu essen oder zu trinken.
Doch es kasteien sich immer mehr muslimische Schülerinnen und Schüler schon ab der Volksschule. Diese Kinder kommen völlig übermüdet und unterzuckert in die Schule, da sie oft erst sehr spät nach dem abendlichen Fastenbrechen schlafen gehen und schon vor Sonnenaufgang für ein kleines Frühstück wieder aufstehen, erzählt Lehrer Robert R.
„Der Schlafmangel, dazu nichts essen und trinken – das hält der Körper nicht aus“, sagt er. Auch aus anderen Schulen wird vermehrt über Probleme im Ramadan berichtet, nicht nur aus Wien. So fehlt fastenden Kindern oft die Kraft, um am Turnunterricht teilzunehmen.
Der Schlafmangel, dazu nichts essen und trinken – das hält der Körper nicht aus.
Robert R.
Wiener Mittelschullehrer
Gruppendruck aufs Fasten
Andere bleiben tagelang der Schule fern, schwänzen Tests und Schularbeiten, weil sie den Unterrichtsstoff nicht mehr bewältigen können. Zudem fasten Kinder oft nicht freiwillig, sondern beugen sich dem Druck ihrer Familien und Mitschüler.
Die Situation habe sich in den vergangenen Jahren in muslimisch dominierten Klassen verschärft – bedingt durch den Anstieg muslimischer Schüler, heißt es aus vielen Schulen. „Als ich Anfang 2010 zu unterrichten begonnen habe, gab es diese Fälle nicht“, sagt Robert R.
„Wir reden natürlich mit den Eltern darüber, dass Kinder durch das strenge Fasten dem Unterricht nicht mehr folgen können. Manche sind einsichtig und geben ihren Kindern eine Jause mit, für andere gelten die Regeln des Korans offenbar mehr als der Schulerfolg.“
Kritik an Zögerlichkeit des offiziellen Islam
Auch die Islamische Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ) reagiert auf den Ramadan-Trend an vielen Schulen. Ein neuer Leitfaden soll Bildungseinrichtungen dabei unterstützen, mit den Herausforderungen des Ramadans besser umzugehen.
Die wichtigste Frage, ob der Fastenmonat in einem säkularen Schulbetrieb generell seinen Platz haben sollte, wird dabei ausgeklammert. Zwar wird die Freiwilligkeit des Fastens erörtert und thematisiert, wie Lehrkräfte mit dem Fasten beim Turnunterricht oder bei Landschulwochen umgehen sollten, aber eine verpflichtende Altersgrenze sucht man vergeblich.
Dafür sei die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu individuell, sagt Carla Amina Baghajati, Schulamtsleiterin der IGGÖ, in einem Interview auf orf.at. Worauf es ankomme, sei weniger das Alter als die „körperliche und vor allem geistige Reife“.
Die Religion gehört in den Religionsunterricht – und sonst nirgendwohin.
Mittelschullehrer, der anonym bleiben will
Zeigen, dass die Kinder Muslime sind
Mansour kann dieser Argumentation wenig abgewinnen. Für ihn sitzt das Problem viel tiefer. Die Einhaltung des Ramadans durch Kinder in überwiegend muslimischen Klassen sei ein weiterer Beweis, dass der konservative Islam auch unter Kindern und Jugendlichen immer dominanter werde.
„Vielen Muslimen in der Diaspora geht es um ihre Identität. Sie beharren darauf, ihre Religion sichtbar zu machen. Sie wollen zeigen, dass ihre Kinder muslimisch sind. Sie gehen dabei keine Kompromisse ein und wollen sich auch nicht anpassen.“
Lehrerinnen und Lehrer wüssten oft nicht, wie sie damit umgehen sollen, sagt Mansour. Sie würden das Thema ausblenden – aus Angst, religiöse Gefühle verletzen zu können. Das sei jedoch der völlig falsche Weg, der uns erst in diese Situation gebracht habe, so Mansour.
Religion zurück in den Religionsunterricht
Ahmad Mansour fordert deshalb klare Grenzen – vor allem zum Schutz der Kinder. „Was den Ramadan betrifft, muss Schulen klar sein, dass das Fasten in diesem Alter nicht nur gesundheitsschädlich ist, sondern das Kindeswohl gefährdet. Das muss gemeldet und den Eltern klargemacht werden“, sagt er.
Eine Wiener Mittelschullehrerin, die anonym bleiben möchte, da sie mit öffentlichen Wortmeldungen bereits schlechte Erfahrungen gemacht hat, drückt es drastischer aus: „Wir brauchen einen radikalen Schnitt. Die Religion gehört in den Religionsunterricht – und sonst nirgendwohin. Wir sind nicht dazu da, fastende Kinder zu beaufsichtigen, sondern ihnen Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen.“