Woher kommt die Gesundheits-Krise?
„Zu viele Menschen drängen in Spitäler“
Maria Rauch-Kallat, ab 1992 für die ÖVP in der Spitzenpolitik, von 2003 bis 2007 Ministerin für Gesundheit und Frauen.
„Das Gesundheitssystem leidet unter Zersplitterung. Wenn es nach den Bundesländern und nach der Sozialversicherung ginge, hätten sie allein alle Kompetenzen. Und das Gesundheitsministerium würde lediglich im Hintergrund koordinieren. Mit der Gesundheitsreform 2004/2005 habe ich immerhin erreicht, dass diese Player überhaupt miteinander reden. Das klingt bizarr, aber davor funktionierten nicht einmal diese Gespräche. Weil Länder und Sozialversicherung niemand zutrauten, so gut zu sein wie sie selbst – und nur zögerlich Informationen teilten. Ich sehe wenig Chance, die zersplitterten Kompetenzen zu ändern, es hängen zu viele Interessen daran. Gesundheitsminister Johannes Rauch versucht, über den Finanzausgleich Druck auf die Länder aufzubauen. Das macht er nicht ungeschickt, auch mir hat 2004 der Finanzausgleich genützt, den Widerstand der Länder gegen die Gesundheitsreform zu mindern. So konnte ich die Schaffung von Landesgesundheitsfonds und erstmals eine gewisse Steuerung durch den Bund erreichen. Natürlich reicht das nicht: Der medizinische Fortschritt passiert – Gott sei dank! – so rasant, dass es ständig Reformbedarf im Gesundheitssystem gibt. Kaum ist eine Reform fertig, ist schon die nächste fällig.
Manche Probleme bleiben aber über Jahrzehnte: Zu viele Menschen drängen in Spitäler und Spitalsambulanzen, auch wegen Gesundheitsproblemen, die bei niedergelassenen Ärzten behandelbar wären. Das ist schon lange so. Mit der ÖVP-FPÖ-Regierung haben wir im Jänner 2001 die Ambulanzgebühr eingeführt, um Patienten in Ordinationen zu lenken. Nach zwei Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes musste die Ambulanzgebühr 2003 abgeschafft werden. Jetzt, im Jahr 2023, fordert die Ärztekammer erneut die Ambulanzgebühr. Ich würde sie heute nicht mehr einführen, das ist den Kampf nicht wert. Es gibt Alternativen zu den Spitalsambulanzen, die Primärversorgungszentren, wo mehrere Ärzte zusammenarbeiten. Deren Ausbau geht leider nur sehr schleppend voran und hinkt weit hinter dem Ausbauplan hinterher. Da muss der Gesundheitsminister Druck machen – und die gesamte Regierung muss ihn dabei unterstützen, allen voran der Finanzminister.“
„Die Ärztekammer sagt zu allem Nein“
Andrea Kdolsky, Ärztin und Quereinsteigerin in die Politik, Gesundheitsministerin für die ÖVP von 2007 bis 2008.
„Das Gesundheitssystem ist so schwer zu steuern, weil viele Köche den Brei verderben. Es reden zu viele Player mit – aber zu wenige mit Expertise: Das Goldene Kalb Nummer eins ist die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger, da sitzen Menschen drinnen, die keine Ahnung haben. Das Goldene Kalb Nummer zwei ist der Föderalismus: Österreich ist kleiner als Bayern – hat aber zehn Krankenanstalten-Gesetze, das ist absurd. Föderalismus und Selbstverwaltung führen dazu, dass die Gesundheitsminister kaum etwas entscheiden können – und nur wie ‚puppets on the string‘ agieren. Gegenüber Landeshauptleuten sind Gesundheitsminister nichts, die Spitäler gehören zu den Ländern, da können sich Gesundheitsminister auf den Boden werfen. Das führt zu Fehlentwicklungen, wir haben in Österreich zu viele Akutbetten.
Ich wäre dafür, dass wir darauf umsteigen, das Gesundheitssystem systematisch aus Steuern zu finanzieren. Derzeit gibt es über 4000 Finanzierungsströme, aus diesem Finanzierungsproblem folgt das Entscheidungsproblem. Ein Beispiel: In Österreich wurde 1996 die Arge Elga für die elektronische Gesundheitsakte gegründet, 2007 dann in die Elga GmbH umgewandelt – und 2016 gingen die ersten Laborberichte in den Spitälern online. Das hat 20 Jahre gedauert! Der dänische Gesundheitsminister hat sich 2007 Elga angeschaut, vier Jahre später hatte Dänemark die beste IT von allen. Bei uns hingegen wird nie etwas entschieden, weil alle mitreden.
Die Rolle der Ärztekammer ist entsetzlich: Sie sagt zu allen Neuerungen Nein. Es geht ihr um den Verlust von Macht. Sie versuchen, Pfründe zu verteidigen und verzögern Reformen. Am Beispiel Elga: Die Ärztekammer wollte weiter mit unleserlicher Schrift auf Karteikarten schreiben.
Vom Vorschlag der Ärztekammer, Ambulanzgebühren einzuheben, halte ich nichts: Wo sollen Patienten zwischen Freitagmittag und Montagfrüh hingehen? Wo es jetzt schon so schwer ist, Termine in Ordinationen zu bekommen? Dieser Personalmangel ärgert mich: Es war doch seit Jahrzehnten absehbar, dass die Generation der Babyboomer in Pension geht. Warum tun jetzt alle überrascht?
Es ist im Gesundheitssystem wirklich 5 vor 12. Unser ehemals hervorragendes System ist nicht mehr hervorragend.“
„Warum verdient eine Krankenschwester weniger als ein Arzt?“
Alois Stöger, Gewerkschafter und SPÖ-Politiker, von 2008 bis 2014 Gesundheitsminister.
„Ein Riesenproblem ist der Personalmangel in der Pflege und bei Ärztinnen und Ärzten. Das liegt in der Pflege auch an der schlechten Bezahlung. Warum verdient eine Krankenschwester weniger als ein Arzt? Weil wir in Österreich leider aus der katholischen Tradition heraus das Muster hochhalten, dass Pflegearbeit gratis sein muss und im Wesentlichen Frauensache ist. Das müssen wir durchbrechen und an den Gehältern etwas ändern.
Am Ärztemangel ist vor allem schuld, dass wir das Medizinstudium durch Aufnahmeprüfungen und limitierte Studienplätze radikal beschränkt haben. Das war ein Fehler. Zu glauben, dass Verknappung ein Wert ist, ist neoliberales Denken. Wir sollten das Medizinstudium wieder für alle öffnen, dann gibt es mehr Ärzte. Außerdem brauchen wir auch Ärzte, die bei der Matura keine Weltmeister waren, aber soziale Kompetenzen haben.
Strukturell werden Reformen dadurch erschwert, dass das Gesundheitssystem vor inneren Widersprüchen strotzt. Etwa dem Widerspruch zwischen Regionalität und Zentralität: Jeder Patient möchte in das Krankenhaus mit den besten Experten – und dieses Spital soll noch dazu gleich ums Eck sein. Diese Ansprüche sind schon im Zentrum Wiens schwer zu erfüllen, im Bregenzerwald müssen sie scheitern. Dazu kommt der Widerspruch zwischen Unterversorgung und Überversorgung: Wenn jemand mit Schnupfen zum Arzt geht und ein Lungenröntgen bekommt, ist das Überversorgung, genauso wie wenn jemand im Krankenhaus behandelt wird, obwohl eigentlich ein Heftpflaster reicht. Österreich leidet teils unter Überversorgung – auch, weil die Ressourcen falsch über manche Regionen verteilt sind. Manche Landespolitiker nutzen diese Widersprüche aus, besonders vor Wahlen.
Auch deshalb gibt es im Gesundheitssystem immer weniger Steuerung, sondern viele Einzelinteressen – und alle pochen darauf, dass der jeweils andere es zahlen muss. Ich wünsche mir daher ein Gesetz: Wenn ein Landesrat sagt, dass der Bund Gesundheitsleistung X zahlen soll – dann soll dieser Landesrat zur Kasse gebeten werden. Ich weiß, dass das lächerlich klingt. Aber vielleicht braucht es derart paradoxe Interventionen, damit das Kasterldenken endet.“