Wohnbaustadtrat Michael Ludwig: Der brave Rebell
Bei Veranstaltungen der SPÖ-Wien ist neuerdings ein Lehrsatz zu hören: Eine revolutionäre Situation sei gegeben, wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Man flüstert einander diesen Unsinn augenzwinkernd zu. Die Partei, die seit einem knappen Jahrhundert die Bundeshauptstadt regiert (bis auf die von den Nationalsozialisten erzwungene Pause), die Wien so sehr ihren Stempel aufgedrückt hat, dass nicht immer klar ist, wo das Gemeinwesen beginnt und die Partei aufhört, die ihre Funktionäre einer eisernen Disziplin unterwirft - diese Partei befindet sich in einem Machtkampf Shakespeare’schen Ausmaßes, in dem es um Freundschaft und Verrat, Intrige und Verleumdung geht.
Im Mittelpunkt dieses Machtkampfs steht überraschenderweise Michael Ludwig, 56 Jahre alt, der nette, leutselige Kumpel von nebenan, der die Partei von der Pike auf kennt, der die Ochsentour absolvierte - von der Sektion zum Bildungsreferenten zum Gemeinderat zum Stadtrat - und der in den Parteigremien selten eine Meinung vertritt, so wird zumindest berichtet.
Kann Ludwig in die Fußtapfen einer Ausnahmepersönlichkeit wie Michael Häupl treten? Ist er in der Lage, neue Strukturen zu entwickeln? Oder dient er nur als Mittel zum Zweck, um den Weg frei zu machen? Ludwig scheint sich darüber selbst nicht ganz im Klaren zu sein.
Wenn er es nicht macht, werden es andere machen. Man wird nicht tatenlos zuschauen.
Ludwig schwört, er werde niemals gegen Michael Häupl kandidieren. Allerdings hofft er, dass Häupl mürbe wird und sich aus freien Stücken zurückzieht. "In Wien wird im Jahr 2020 wieder gewählt. Wenn Häupl dann nicht mehr antritt, müssen wir jetzt eine Veränderung an der Spitze vornehmen. Ich war immer der Meinung, dass der Bürgermeister aufgrund der guten Kenntnis der Partei, auch des hohen Vertrauens, das er nach wie vor genießt, in der Lage ist, diese Weichen zu stellen. Wenn er es nicht macht, werden es andere machen. Man wird nicht tatenlos zuschauen“, sagt Ludwig und lächelt verbindlich.
Häupl wiederum sagt, er trete beim Parteitag Ende April sicher wieder an, da fahre die Eisenbahn drüber.
Wenn man die zwei in den vergangenen Tagen gemeinsam auftreten und vor den Kameras lachen und scherzen sah, drängt sich einem unwillkürlich eine Passage aus Shakespeares Königsdrama "Heinrich IV.“ auf: "Kann ich doch lächeln, und im Lächeln morden / Und rufen: schön! Zu dem, was mich tief kränkt / Die Wangen netzen mit erzwungenen Tränen / Und mein Gesicht zu jedem Anlass passen.“
Enge Freunde waren Häupl und Ludwig nie. Als Ludwig im Jahr 2007 Stadtrat wurde, verantwortlich für den geförderten Wohnbau, Stadterneuerung und 220.000 Gemeindewohnungen, galt er als Verlegenheitslösung. Anfangs brachte er einiges ins Rollen. Gegen Konflikte zwischen angestammten Wienern und Zugewanderten organisierte er eine mobile Gemeindebaubetreuung in den Gemeindebauten. Mieterbeiräte wurden ins Leben gerufen. Er entließ den Chef der städtischen Hausverwaltung Wiener Wohnen, der seinen Verwandten Geschäfte zugeschanzt hatte. Wenn man ihn allerdings heute auf den Korruptionsskandal bei Wiener Wohnen oder auf die Rechnungshofkritik an zu billigen Grundstücksverkäufen anspricht, setzt Ludwig ein Pokerface auf, weist jede Schuld und Mitverantwortung von sich. Ludwig sagt, er selbst habe 2012 Anzeige erstattet. Das ist nur die halbe Wahrheit. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hatte schon 2010 seltsame Vorgänge bei Wiener Wohnen öffentlich angeprangert. Dass zwei Jahre vergehen mussten, bis etwas geschah, wird die Wahlerfolge der Freiheitlichen nicht gerade geschmälert haben. Doch davon redet keiner der beiden Kontrahenten.
Seit den Wiener Wahlen im Herbst 2015 sind Konflikte zwischen den Funktionären der innerstädtischen - politisch rot-grünen - und den ehemaligen Arbeiterbezirken, deren Bewohner massenhaft die FPÖ gewählt haben, immer wieder aufgeflammt. Die einen sagen, die SPÖ habe die Wahl wegen ihrer klaren Haltung gegen ausländerfeindliche Ressentiments und die FPÖ gewonnen, die anderen halten dagegen, man müsse den Zuzug begrenzen und mehr auf "unsere“ Leute schauen. Ludwig gehört zur zweiten Fraktion.
Hat er eine Antwort auf die Frage, warum immer mehr sozialdemokratische Wähler heute der FPÖ die Stimme geben? Ludwig geht zum Bücherregal in seinem Büro in der Wiener Bartensteingasse und legt "Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon auf den Tisch. Das Buch wird derzeit unter Sozialdemokraten auf und ab diskutiert. Der französische Intellektuelle aus dem Umfeld des Philosophen Michel Foucault beschreibt darin, wie er sich als Arbeiterkind und Schwuler nicht nur seiner sexuellen Andersartigkeit, sondern vor allem seiner Herkunft schämte. Er erzählt von der schmerzhaften Rückkehr in ein Milieu, in dem ehemals stolze Kommunisten mittlerweile den Front National wählen, weil sie sich von der Linken in ihren Bedürfnissen verachtet fühlen und von der traditionellen Politik keine Verbesserung der Lebensumstände mehr erwarten.
Sozialdemokratie steht für Weltoffenheit, aber wir müssen auch deutlich sagen, dass wir für die Menschen Politik machen, die schon länger bei uns leben
Ludwig formuliert das so: "Politik lebt nicht nur von Visionen. Politik ist sehr stark mit Interessensvertretung verbunden. Sozialdemokratie steht für Weltoffenheit, aber wir müssen auch deutlich sagen, dass wir für die Menschen Politik machen, die schon länger bei uns leben - egal, ob sie immer schon hier gelebt haben oder ob sie zugewandert sind. Aber es muss eine Bevorzugung jener geben, die schon länger hier sind, die schon selbst etwas beigetragen haben.“
Ludwig hat den pragmatischen Zugang sein Leben lang eingeübt. Er ist in einer Partei groß geworden, die ihre Mitglieder durch Jobs, Gemeindebauwohnungen und - als Krönung - eine Anstellung bei der Gemeinde Wien bei der Stange hielt und im Gegenzug mit lebenslanger Dankbarkeit rechnen konnte. Seit 40 Jahren ist Ludwig nun schon in der SPÖ aktiv. Er wuchs in Neubau auf, einem heute schicken, politisch grünen Bezirk. In Ludwigs Kindheit war das noch anders. Seine Mutter arbeitete in einer Fabrik, die ihre Produktion in einem der Gründerzeithäuser in der Kaiserstraße hatte. Gehämmert, gesägt und geschweißt wurde mitten im Wohngebiet. Als die Familie auseinanderbrach, zog der 16-Jährige mit Mutter und Schwester nach Floridsdorf. Er war nicht gerade begeistert. Er erinnert sich noch an die erste Fahrt mit der Bim. Kilometerweit nichts als Gewerbebetriebe und Felder. "Wie in der Einschicht“, sagt Ludwig. Sie bekamen eine 44 Quadratmeter große Wohnung in einem klassischen Gemeindebau aus den 1920er-Jahren - keiner jener Bauten mit klingenden Namen und Einschusslöchern aus den Februartagen 1934, aber ebenso schön wie die Arbeiterarchitektur dieser Zeit: Jugendstilgitter, unterbrochene Fassaden, zwölfteilige Fenster, Fahnenstangen. Ringsum waren damals neue Gemeindebauten errichtet worden, die funkelnagelneu in der Wiese standen, derselbe Anstrich, dieselben Proportionen, und doch bereits entscheidend schmuckloser, liebloser, entfremdeter, trauriger. Keine Mauer-Verzierungen mehr, keine eingebauten Blumenkästen, die Fassaden glatt, ohne Schnörkel und Erker.
Alles war einmal so gut gewollt, gut durchdacht, gut umgesetzt, die ganze klassische sozialdemokratische Agenda. Auch die soziale Durchmischung: Nicht nur die armen Schlucker sollen im Gemeindebau wohnen, war immer die Devise der Wiener SPÖ. Doch die jahrzehntelange Patronage hat Spuren hinterlassen. Die einen sind zornig, weil sie von der Partei nichts mehr zu erwarten haben, und die anderen, weil sie nicht wollen, dass andere etwas kriegen. Als Ludwig jung war, wurde in seiner Sektion heftig darüber gestritten, ob man den benachbarten Heinz-Nittel-Hof mit Loggias und Swimmingpool auf dem Dach ausstatten dürfe. Ludwig sagt, er sei schon damals dafür gewesen. Mehrheitlich wird heute dort blau gewählt.
Ludwig war in der 1970er-Jahren der Jüngste in seiner Sektion in Floridsdorf. Die Mutter arbeitete wieder in einer Fabrik, nahm Heimarbeit mit nach Hause, bei der die Kinder halfen, und ging bisweilen auch noch putzen. Ludwig sagt, er sei in seiner Pubertät ein Rebell gewesen und habe sich schon als Arbeiterführer gesehen. Er ging ins Gymnasium, weil seine Mutter an dem alten sozialdemokratischen Credo festhielt, dass nur Bildung den Menschen aus der Misere rettet. Aber er trug nebenbei Pakete aus und arbeitete in den Ferien auf dem Bau, trotz seiner zarten Konstitution. Er war ein "Zaucherl“, wie man in Wien sagt. Als einziger Student in der Sektion wurde er bald Bildungsreferent. Mit dem Verband der Sozialistischen Studenten hatte Ludwig nichts zu tun. Er lebte nicht das typische Studentenleben, sondern ein Parteileben: Sektionen, Vorträge, Arbeiterbildung. 1992 reichte er seine Dissertation an der Universität ein. Das Thema: "Das marxistisch-leninistische Konzept der ‚Partei neuen Typus‘ am Beispiel der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Es scheint ihm heute ein wenig peinlich zu sein. Ludwig erklärt, er habe dieses Thema auf Anregung seines Freundes, des verstorbenen SPÖ-Vordenkers Herbert Tieber, gewählt.
Wirklich unangenehm war Ludwig ein anderer Vorfall. Als die profil-Redakteurin vergangene Woche ins Stadtratsbüro kam, um sich ein Buch auszuborgen, das Ludwig herausgegeben hatte, und vor dem Aufzug stand, um wieder hinunterzufahren, gingen die Türen auf und da standen die Verschwörer, die Ludwig gern auf den Schild heben würden, die Vertreter mehrerer großer Bezirke, darunter Nationalratspräsidentin Doris Bures und Josef Cap. Es herrschte große Betretenheit. Cap erklärte sofort, er sei nur "zufällig vorbeigekommen“. Und Ludwig wand sich: Er bekomme laufend Besuch aus den Bezirken.
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 13 vom 27.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.