Wohnen

„Mit dem Bild des verwahrlosten, besoffenen Obdachlosen gehört aufgeräumt“

CJ Thomas und Saloni Grover waren obdachlos. Sie haben den Ausstieg geschafft und wollen nun anderen Frauen helfen. profil hat sie in ihrem neuen Zuhause und bei der Arbeit besucht.

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Es ist noch kühl an einem hochsommerlichen Morgen in Wien Favoriten. Ein rascher Blick durch die aufgerissenen Fenster eines Wohnhauses zeigt zusammengerollte Bettdecken und aufgeklebte Schmetterlingssticker auf einer Fensterscheibe. Das Haus sieht im Vergleich zum Rest der Bauten in der Nähe des Reumannplatzes recht modern aus – das Besondere daran sind jedoch die Bewohner: Sie waren alle einmal obdachlos.

Caroline-Jesica Thomas, kurz CJ, blickt vertieft auf einen Computer, in einem Büroraum neben dem Hauseingang. Wirkt sie hier noch schüchtern, so täuscht der Eindruck. Es geht hinunter ins „Beisl“, das eine Hausbetreuerin viel lieber in „Café“ umtaufen würde. Hier arbeiten zwei Zivildiener, einer bringt Kaffee mit Hafermilch. Das Brot kommt vom Sozialverein „Wiener Tafel“. Im schattigen Innenhof nimmt CJ an einem Tisch Platz, vor der bunt gefliesten Hofmauer wächst Efeu. Einige Hausbewohnerinnen setzen sich dazu. Es ist kurz nach 9, das „Beisl“ hat geöffnet. Es wird zusammen gesessen, gelacht – und die ein oder andere Tschick geraucht.

CJ war auch einmal obdachlos. Im März 2017 hat es an der Tür ihrer damaligen Wohnung geklopft: „Ihr müsst raus“, sagte der Mann zu ihr und ihrem Lebensgefährten, und räumte daraufhin die Wohnung. Die Miete hatten sie schon lange nicht bezahlt. „Kannst du dir das vorstellen? Ich stand komplett neben der Spur, habe nicht verstanden, was er gesagt hat.“

„Du kannst nicht auf der Straße sein, wenn du ein kleines Hascherl bist.“

Caroline-Jesica „CJ“ Thomas

Einen Tag später besucht profil Saloni Grover in der Seestadt, wo sie seit anderthalb Jahren wohnt. Eine ihrer Freundinnen kümmert sich um die Haustiere, zwei außergewöhnlich zutrauliche Hasen, wenn sie nicht zuhause ist. Grover kommt ein bisschen zu spät, ihre Freundin öffnet die Tür zur Einzimmerwohnung. Es riecht nach Zigaretten und Duftölen. Man kommt direkt in die Küche, auf dem Kühlschrank kleben eine Postkarte mit der Aufschrift „du bist wichtig“, ein Foto von ihrem Sohn und ein A4-Blatt mit Tipps, die Grover befolgt, wenn sie sich überwältigt fühlt, wie sie später erzählen wird: „Meditieren, einen lustigen Film schauen, Yoga-Übungen machen“. Auf dem Esstisch stehen Orchideen und eine Dose Tabak.

Versteckte Notlage

In Österreich gibt es rund 20.000 Obdach- beziehungsweise Wohnungslose. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) geht man von einer Dunkelziffer von etwa doppelt so vielen Menschen aus, die in der Statistik nicht aufscheinen. Diese Personen haben zwar oft ein Dach über dem Kopf, aber keine feste Wohnung – Frauen dieser Gruppe sind zusätzlich häufig von Gewalt betroffen. So auch Saloni Grover. Sie ist mittlerweile geschieden, und war lange Zeit, bevor sie die Wohnung und ihren Mann verließ, verdeckt obdachlos.

Grover ist in Indien in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Als ihr Vater krank wurde, hat er eine Ehe mit einem Mann arrangiert, den er über eine Annonce in der Zeitung gefunden hatte. Kurz nach der Hochzeit zog Grover zu ihm nach Österreich. „Ich habe es passieren lassen.“ Bereits am Hochzeitstag bereute Grover die Entscheidung, doch sie habe sich nicht getraut, „nein“ zu sagen. Sie konnte nur ahnen, was auf sie zukommen sollte: Jahrelange häusliche Gewalt, Manipulation und daraus resultierende Krankheiten: „Er hat mich einmal im Auto geschlagen. Seitdem höre ich auf einem Ohr schlechter.“ Die Schläge passierten oft vor den Augen ihrer zwei Kinder. Später wurde ihr eine Bipolare Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Alle drei Wochen bekommt sie eine Aripiprazol-Spritze, diese schütze sie davor, hyperaktiv zu werden und vor dem Crash danach: „Einmal bin ich ein halbes Jahr im Bett gelegen. Ich konnte nur schlafen.“

„Ich weiß, dass es richtig war, diesen Mann zu verlassen.“

Saloni Grover

Die Zeit, in der CJ Thomas keine Wohnung hatte, war gezeichnet von Scham und Panik. Ihre sozialen Kontakte waren weg, und von ihren Umständen sollte am besten niemand wissen: „Obdachlosigkeit kann man gut verstecken.“ Man achte auf sein Äußeres, richte sich die Haare, und auch Second-Hand könne man sich schöne Kleidung kaufen. „Mit dem Bild des verwahrlosten, besoffenen Obdachlosen gehört aufgeräumt.“

Im Minus

Für viele Obdachlose habe sich die Situation verschlechtert, sagt CJ. Der Krieg, die Pandemie und Teuerungen machen Menschen große Angst. Auch die Preisanstiege seien täglich spürbar: Hygieneartikel, Tierfutter und Betriebskosten können sich viele nicht leisten. Auf Grovers Küchenzeile liegen Stromrechnungen. „Ich bin im Minus“; sie hat bereits eine Ratenrückzahlung vereinbart. Für eine von der Hilfsorganisation „neunerhaus“ vermittelte Single-Wohnung zahlt man im Schnitt 350 Euro. Doch selbst das kann sich Grover immer weniger leisten. Sie sucht einen Putzjob, selbst für 10 Euro die Stunde. „Ich fahre auch überall hin.“

Über dem Bett, Grovers Lieblingsplatz in der Wohnung, hängen golden-purpurne Stoffe, auf dem Kopfkissen liegen zwei Kuscheltiere: Sie gehören ihren Kindern, die bei ihrem Ex-Mann wohnen und die sie seit vielen Jahren nicht gesehen hat. Mittlerweile telefonieren sie regelmäßig. „Sie fehlen mir“, sagt sie, doch solange sie noch bei ihrem Vater wohnen, dürfe sie ihre Tochter und ihren Sohn nicht besuchen. „Aber ich weiß, dass es richtig war, diesen Mann zu verlassen.“

Verdient hat CJ Thomas früher gut: Sie war Sachbearbeiterin in der Vermögensverwaltung, später in der deutschen Botschaft für Visa zuständig. Dann wurde sie krank. Sie musste am Knie operiert werden und war lange auf der Intensivstation und auf Rehabilitation. „Meine Knieprothesen waren das i-Tüpfelchen.“ Was mit einem Kreuzbandriss angefangen hatte, führte irgendwann dazu, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Doch was sie zu dem Zeitpunkt nicht gemerkt hatte: Ihr Mann, der ebenfalls krank war – der gelehrte Versicherungskaufmann hatte vorher schon nicht gearbeitet – verfiel in eine Depression. „So haben sich die Rechnungen gestapelt“, erzählt CJ.

Einige Sachen gepackt, schlug CJ Thomas mit ihrem Mann in der Gruft auf. Ihre Katze konnte das Paar nicht mitnehmen, aber sie bekamen dort die Nummer einer Frau, die sich um das Haustier kümmern konnte. Es folgten harte Monate bis Juni; Täglich mussten sie auf einen Schlafplatz in der Gruft hoffen. „Ich war total überfordert“, erzählt CJ, „und dann super angefressen.“ Entschlossen, dort nicht für immer leben zu wollen, dachte sie „Mein Gott, jetzt ist es passiert – tu was dagegen“. Von der Gruft ging es in ein Übergangsheim. Doch der nächste Schicksalsschlag: Dort starb ihr Mann, mit dem sie 19 Jahre lang zusammen war. Das nimmt sie ihm übel, wie sie scherzt.

Angefeindet

Oft habe CJ sich selbst beschimpft und gefragt: „Wie kann man so tief fallen?“ Doch sie wurde selbstbewusster: „Ich bin nicht mehr so ang’rührt. Du kannst nicht auf der Straße sein, wenn du ein kleines Hascherl bist.“ Rassistische Beleidigungen nahm die 47-Jährige früher persönlich. „Ich war ein Flüchtlingskind“, geboren in Südafrika während der Apartheit. Sie erinnert sich an ihren Hausstrauß Peggy, an warme Ziegenmilch und wilden Honig, „den wir von den Bäumen geklaubt haben“. Mit fünf Jahren zog sie mit ihrer Mutter nach Österreich. Als sie das erste Mal Schnee sah, dachte sie, es sei Watte, die vom Himmel fällt. Bis heute mag sie den Winter – selbst in Wien. Sie lacht auf: „Da seht ihr, wie gut ich integriert bin.“

Grover hat auch schon viel Anfeindung erlebt. „Mein Vorname bedeutet ‚dunkelgold‘, so wie meine Hautfarbe“, erzählt die ebenfalls 47-Jährige. In ihrem früheren Job, einer Schlichtungsstelle für Nachbarschaftsstreit, hätten sie viele ältere „Ur-Wiener“ nicht ernst genommen. „Gehen Sie zurück, wo Sie herkommen“, bekam sie oft zu hören.

Weg aus Obdachlosigkeit

„Ich habe gelitten wie ein Hund.“ Saloni Grovers Weg in die Unabhängigkeit war nicht ohne Rückschläge. Als die Kinder älter wurden, fand Grover in Frauenhäusern Zuflucht. Später lernte sie einen Mann kennen, der sie mit 15.000 Euro Schulden verließ – ihr Bruder nahm ein Darlehen für sie auf. Auf der Straße gewohnt habe sie zwar nie, doch nach ihrer Scheidung vor sieben Jahren war sie abwechselnd in Psychiatrien, Spitälern, Heimen und auf der Couch einer Freundin. Ihr Zimmer in einem Wiener Heim, ausgestattet mit Duschkabine und einer Kochplatte, sei so groß gewesen sei wie der Balkon, auf dem sie nun umgeben von Lavendel, Tomaten- und Paprikasträucher sitzt. Für die Freundin, die sie immer wieder aufnahm, hatte sie geputzt und gekocht. Vor anderthalb Jahren kam Grover zu ihrer jetzigen Wohnung über die gemeinnützige GmbH „neunerimmo“. Das Tochterunternehmen des „neunerhaus“ vermittelt Wohnungen zu günstigeren Preisen als jene am privaten Markt. Das war ein Wendepunkt. Danach bekam sie ihren Job in einem Tageszentrum für Obdach- und Wohnungslose.

Gefragt, wie sie es geschafft hat, die Obdachlosigkeit hinter sich zu lassen, sagt Grover: „Schritt für Schritt“. Es sei wichtig, die Fassung nicht zu verlieren und sich nicht ausnutzen zu lassen – denn als Obdachlose „wirst du wie Müll behandelt“. Mittlerweile geht es ihr besser. Kürzlich lernte sie schwimmen – ihr Nachbar habe ihr einen Kurs geschenkt. Bald wird Grover sich einen alten Traum erfüllen: Eine Reise nach Nepal mit ihrem Bruder, wo sie sich vor allem auf die Tempelbesuche freut. Ihr Glaube ist ihr wichtig, sie ist Muslimin und betet täglich vor ihrem selbstgestalteten Schrein am Balkonfenster. Vor der Göttin Lakshmi liegt eine Münze – ein Symbol für Wohlstand. Grover spart auch für härtere Zeiten – ihre Notgroschen sammelt sie in einem goldenen Becher.

Notgroschen

Auch Thomas ist der Ausstieg gelungen. Seit 2018 wohnt sie in einer kleinen Gemeindewohnung: „Ich habe die Regeln eingehalten, nicht gegen die Hausordnung verstoßen und 1600 Euro innerhalb eines Jahres angespart.“ Währenddessen hielt sie regelmäßigen Kontakt zu Sozialarbeitern, hörte auf ihre Empfehlungen und ging in den Zertifikatskurs für Peer-Arbeit des „neunerhaus“ in der Wiener Wohnungslosenhilfe, wo sie später eine Stelle fand. „Andere haben sich ihr Wissen durch ein Studium hart erarbeitet, meine Obdachlosigkeit ist nicht zum Studieren.“ Heute hilft CJ anderen Menschen mit ihren Erfahrungen, aus Obdach- und Wohnungslosigkeit auszusteigen. Ratschläge erteilt sie ungern, was sie aber gelernt hat: „Sei authentisch und nimm’s mit Humor.“

Elena Crisan

Elena Crisan

war bis Oktober 2024 Journalistin im Online-Ressort.