Österreich

Wolf: Schießen oder nicht schießen, das ist die (juristische) Frage

In Vorarlberg wurde erneut ein Wolf zum Abschuss freigegeben. Tierschutzorganisationen und Landesregierungen streiten wiederholt: Darf überhaupt geschossen werden?

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„Seine Angriffslust scheint keine Grenzen mehr zu kennen“, sagt Christian Gantner, ÖVP-Veterinärslandesrat in Vorarlberg über den Wolf, der vergangene Woche in seinem Bundesland zum Abschuss freigegeben wurde. Er habe Schafe, Ziegen, Kälber und Jungkühe gerissen – und soll nun „entnommen“ werden, so die Fachsprache für einen Abschuss. Für Natur- und Tierschutzorganisationen ist das aber „eindeutig europarechtswidrig“, wie der WWF am Freitag bekräftigte.

Der juristische Konflikt rund um Wolfabschüsse in Österreich schwelt nun seit einigen Wochen auf einer neuen Ebene. Kurz zusammengefasst: Im Sommer 2022 wurde ein Wolf mit der Registriernummer 158 MATK in Tirol zum Abschuss freigeben; gegen den Bescheid legten Tierschutzorganisationen Beschwerde ein. Das Landesverwaltungsgericht befragte daraufhin den Europäischen Gerichtshof, der wiederum Mitte Juli festhielt, dass Wolfsjagd in Österreich weiter verboten sei.

Dabei werden aktuell vor allem zwei Fragen verhandelt: Wann hat der Wolf in Österreich einen „günstigen Erhaltungszustand“ erreicht und wäre somit langfristig überlebensfähig – und sollte der „günstige Erhaltungszustand“ wirklich länderspezifisch festgestellt werden?

Was ist die FFH-Richtlinie?

Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie regelt die Erhaltung wildlebender Tiere und Pflanzen in der Europäischen Union. Sie verbietet grundsätzlich die Jagd auf den Wolf, der einen strengen Schutzstatus genießt. Geschossen werden darf nur, wenn die in Art. 16 Abs. 1 aufgelisteten Voraussetzungen erfüllt sind: „Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, dass die Populationen der betroffenen Art in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen.“ In Österreich könnten laut dem Europäischen Gerichtshof keine Ausnahmen gewährt werden, da sich die Wolfspopulation nicht in einem günstigen Erhaltungszustand befände.

Während Tierschutzorganisationen nun d’accord mit dem EuGH beklagen, der Wolf in Österreich sei noch weit entfernt von einem „günstigen Erhaltungszustand“, ärgert sich Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP): „Fakt ist, der Wolf ist in Europa nicht mehr vom Aussterben bedroht. Zudem verliert das Großraubtier zunehmend die Scheu vor dem Menschen. Der Wolf ist keine gefährdete Tierart mehr und gehört reguliert, wie jede andere Wildart auch.“ 

Wer hat recht? Die Antwort ist: Es ist kompliziert. 

Die roten Listen

Wird ein Tier als „vom Aussterben bedroht“ und „nicht in einem günstigen Erhaltungszustand“ bezeichnet, so bedeutet dies zwar in etwa das gleiche – beide Parameter beziehen sich jedoch auf unterschiedliche Kategoriensysteme. 

Spricht man über eine Tierart als bedroht, so beruft man sich meist auf die „Rote Liste“ der  „International Union for Conservation of Nature and Natural Resources“ (IUCN). Die IUCN unterscheidet dabei zwischen mehreren Gefährdungsstufen, von „Least Concern“, also ungefährdet, bis hin zu „Extinct“ – ausgestorben. Länderspezifisch liegen diese Listen in unterschiedlicher Aktualität vor – die neueste rote Liste für in Österreich gefährdete Säugetiere, die das Umweltbundesamt auf seiner Homepage aufweist, stammt aus dem Jahr 2005. Neuere Daten können nicht zur Verfügung gestellt werden, heißt es aus dem Amt, die Liste werde derzeit aber aktualisiert.

Im Jahr 2005 wurde der Wolf in Österreich jedenfalls als „regionally extinct“ eingestuft. Diese Kategorie wird an Tierarten vergeben, deren letzte fortpflanzungsfähige Individuen tot oder verschwunden sind.

Mittlerweile hat sich freilich einiges getan, die IUCN hat den Wolf 2018 in Europa als „nicht gefährdet“ eingestuft; „regionally extinct“ ist der Wolf in Österreich wohl spätestens seit 2016 nicht mehr, als sich auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Allentsteig in Niederösterreich  das erste Wolfsrudel seit Jahrzehnten gründete. Stand jetzt gibt es sechs Rudel in Österreich, fünf davon in Ober- und Niederösterreich, die teilweise auch in Tschechien unterwegs sind; eines im Alpenraum in Kärnten. Wurden von 2009 bis 2015 nur jeweils sieben Wölfe in Österreich nachgewiesen, so waren es im vergangenen Jahr bereits 104. Bei den erwachsenen Wölfen handelt es sich oft auch um Durchzügler, so das „Österreichzentrum Bär Wolf Luchs“. Der WWF geht von 70 Wölfen in Österreich aus.

Mit Juni wurden heuer bereits 60 Schafe und fünf Gatterwildtiere durch Wölfe getötet, 23 Schafe wurden verletzt. 

Dieser Anstieg spiegelt sich folgerichtig auch in den Risszahlen wider, die der Bauern- und Jägerschaft Sorgen bereitet: Zwar ging die Zahl der nachweislich durch Wölfe getöteten Tiere 2023 zurück, vor allem 2022 war jedoch ein intensives Jahr: Fast 800 Schafe wurden durch Wölfe gerissen, mehr als 900 wurden vermisst.

36 Rudel

Vom Aussterben bedroht ist der Wolf in Österreich derzeit also nicht, auch wenn keine aktuelle kategorisierende Liste vorliegt – aber ist er in einem „günstigen Erhaltungszustand“?

Zwar hält der EuGH in seinem Urteil fest, dass dem nicht so ist – Bauern- und Landwirtschaftsvertreter widersprechen aber vehement und halten die Kategorie für nicht praktikabel. Ein Grund: Die konkrete, zahlenmäßige Definition des „günstigen Erhaltungszustandes“ sei bislang ungeklärt, so die Landwirtschaftskammer.

Tatsächlich findet sich in der FFH-Richtlinie zwar eine Definition, aber keine konkreten Zahlen: Ein Erhaltungszustand ist demnach dann günstig, wenn die Tierart ein „lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird und ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.“

Konkret beziffern kann man den „günstigen Erhaltungszustand“ also nicht – das „Österreichzentrum Bär Wolf Luchs“ übermittelt auf Anfrage allerdings eine Schätzung, die auf einer Studie des Projekts „RowAlps“ basiert: „36 Rudel werden immer wieder genannt, das ist aber auch nur eine, wenn auch relativ gut fundierte, Abschätzung.“ Ein Wolfsrudel umfasst meist zwischen fünf und zehn Tieren und kann in Einzelfällen auch größer werden.

Ein Rudel setzt sich aus den Wolfseltern, den Welpen und den Jährlingen, also den Welpen aus dem Vorjahr, zusammen.

Für die Landwirtschaftskammer wäre ein günstiger Erhaltungszustand schon mit weitaus weniger Tieren erreicht: „Wenn in Schweden der GEZ (günstige Erhaltungszustand, Anm.) mit 250 als erreicht gilt, muss dieser in Österreich deutlich niedriger sein, weil die Nutzung des Kulturraums deutlich stärker erfolgt und Österreichs Fläche um ein Vielfaches kleiner ist. Bei einem Wolfsbestand von 90 Individuen in Österreich könnte dies als ausreichender Beitrag zum GEZ der Alpinen Population gesehen werden, der ja als erreicht gilt.“

Die Landwirtschaftskammer hält gegenüber profil außerdem fest: „Da die Populationsgröße der alpinen Population bereits über 250 Individuen liegt und ein genetischer Austausch mit anderen Populationen möglich ist, kann der GEZ als erreicht angesehen werden.“

Wolfspopulationen

Die alpine Population ist eine der vier Populationen, aus denen die Wölfe in Österreich kommen; die restlichen speisen sich aus den Populationen im Dinarischen Gebirge, den Karpaten und dem mitteleuropäischen Tiefland. 

Landwirte und Jäger halten es zudem für wenig sinnvoll, den „günstigen Erhaltungszustand“ innerhalb von Ländergrenzen einzustufen. Die Wölfe in Österreich gehören jeweils verschiedenen Populationen an, deren Verbreitungsgebiet sich über mehrere Länder erstreckt. Viel eher sollte der Erhaltungszustand länderübergreifend festgestellt werden, so die Landwirtschaftskammer. Auch der Bauernbund betont auf profil-Anfrage: „Dass der Wolf bezogen auf die Fläche eines einzelnen Bundeslandes im Sinne einer eigenen Population einen guten Erhaltungszustand erreichen soll, gilt unter Fachleuten als nicht zielführend.“

Der EuGH hat dem zwar eine Absage erteilt, die Bundesländer erteilen dennoch weiter Abschussfreigaben, wie zuletzt in Vorarlberg. Der WWF prüft nun erneut rechtliche Schritte: „Die Abschussverordnungen der Bundesländer sind eindeutig europarechtswidrig. Somit droht Österreich aufgrund des willkürlichen Vorgehens der Landesregierungen ein potenziell teures Vertragsverletzungsverfahren.“

Vor einem Vertragsverletzungsverfahren hatten zuletzt auch Europarechts-Experten gewarnt – zuerst muss aber jedenfalls das Landesverwaltungsgericht Tirol über den beanstandeten Abschussbescheid von 2022 entscheiden. 

Anmerkung: Der Link zum „RowAlps“-Projekt wurde nachträglich hinzugefügt.

Lena Leibetseder

Lena Leibetseder

war bis Oktober 2024 stv. Online-Ressortleitung und Teil des faktiv-Teams.