Wurden im Vorfeld des Wiener Terroranschlags Vorschriften im Verfassungsschutz missachtet?

Die Justiz prüft. Das Ergebnis ist auch zentral für Klagen, die Hinterbliebene der Attentatsopfer gegen die Republik einbringen.

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Neun Minuten dauerte der islamistische Anschlag am Abend des 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt. Vier Menschen wurden damals erschossen, Dutzende verletzt. Dann schalteten die Einsatzkräfte der Polizei den Terroristen aus.

Die Aufarbeitung des verheerenden Terroranschlags wird Jahre dauern, für Opfer und Hinterbliebene bleibt der Schaden ein Leben lang. Wie sich vergangenen Mittwoch zeigte: Die Familie des getöteten 21-Jährigen Nedzip V. – in der Terrornacht das erste Todesopfer – zog vor das Wiener Zivilgericht. Gemeinsam mit Anwalt Mathias Burger fordert sie rund 120.000 Euro von der Republik für Trauerschmerzensgeld, Begräbniskosten und seelische Schäden. Ein vom Bund eingerichteter Opferfonds genügt manchen Hinterbliebenen nicht. Sie wollen nicht bloß Geld, sondern auch die Verantwortung der Behörden gerichtlich klären.

Rasch nach dem Anschlag wurde Kritik laut, ob das Attentat hätte verhindert werden können. Die Vorwürfe richteten sich vor allem gegen den Verfassungsschutz, denn der Attentäter war einschlägig vorbestraft und stand unter Beobachtung. Eine Expertenkommission unter Strafrechtsprofessorin Ingeborg Zerbes stellte bereits Mängel bei den Sicherheitsbehörden fest, vor allem in der unkoordinierten Zusammenarbeit zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz- und Terror (dem BVT, das mittlerweile Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst heißt) und dem Wiener Landesamt (LVT).

Rückenwind bekommen klagende Hinterbliebene von einem Strafverfahren, über dessen Inhalt bisher wenig bekannt war: Unter dem Aktenzeichen 23 St 4/21d ermittelt seit eineinhalb Jahren die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), und zwar direkt gegen Beamte des Wiener Verfassungsschutzes (LVT). Der Vorwurf: Das LVT habe Warnsignale zum späteren Attentäter erhalten, sie aber nicht an die Staatsanwaltschaft gemeldet. Verdächtig sind deshalb ein Sachbearbeiter und ein Referatsleiter, ermittelt wird wegen Missbrauch der Amtsgewalt. Der profil vorliegende Akt zeigt, wie schwerfällig die polizeilichen Maßnahmen im Vorfeld des Attentats verliefen und wirft die Frage auf, ob Vorschriften missachtet wurden.

Die Justiz interessiert sich im Detail für Geschehnisse ab dem Sommer 2020. Damals fuhr der spätere Attentäter K. F. mit einem Bekannten in die Slowakei und versuchte in einem Waffenshop in Bratislava, Munition für ein Maschinengewehr zu kaufen. Die dortigen Mitarbeiter wurden misstrauisch und wimmelten die jungen Männer ab. Unbemerkt machten sie Fotos vom Wiener Fahrzeug und übergaben sie samt Bildern aus der Überwachungskamera an die slowakische Polizei. Diese informierte am 29. Juli das österreichische BVT. Doch drei Wochen vergingen, ehe die Mitteilung dort bearbeitet wurde. „Aufgrund der damaligen Arbeitsüberlastung“, wie ein BVT-Gruppenführer in seiner Einvernahme zu Protokoll gab. Urlaube und die Pandemie hätten die ohnehin dünne Personalsituation im Verfassungsschutz strapaziert. Ende Juli wurde durch das Kabinett des damaligen Innenministers Karl Nehammer zudem der Sonderauftrag erteilt, die Hintergründe von Ausschreitungen in Favoriten zu untersuchen. Erst ab 19. August bearbeiteten die Beamten im BVT die Mitteilung und gaben sie aufgrund der Identifikation des Kennzeichens an die Kollegen im Wiener Landesamt weiter.

Hier landete die Mitteilung aus der Slowakei am 25. August am Schreibtisch des Sachbearbeiters S. vom Wiener Verfassungsschutz. Und war dort eigentlich gut aufgehoben: Der Beamte kannte den späteren Attentäter K. F. so gut wie kein anderer im LVT. Schon 2018 war er mit Ermittlungen gegen K. F. beauftragt, dieser wollte nach Syrien zur Terrormiliz IS. K. F. wurde damals geschnappt und verurteilt, kam Ende 2019 frei. Die erste „Gefährderansprache“ nach der Haft – eine Maßnahme, mit der Islamisten signalisiert wird, dass sie unter Beobachtung stehen – wurde durch Sachbearbeiter S. durchgeführt. Auch erreichte S. im Sommer eine Information, dass K. F. Pläne habe, wieder nach Syrien auszureisen. Nur logisch, dass es S. beim Betrachten der Bilder aus der Slowakei dämmerte: „Ich hatte die leise Vermutung, dass es sich bei einem dieser Personen vermutlich um K. F. handeln könnte“, gab er zu Protokoll. Bei seinem Vorgesetzten, Referatsleiter K., regte der Beamte daraufhin eine Observation von K. F. an.

Als „nicht notwendig“ und rechtswidrig sei dies jedoch beurteilt worden, man müsse zunächst die Identität mit den slowakischen Kollegen anhand von Vergleichsfotos abgleichen, so die Order des Vorgesetzten. Wichtige Wochen verstrichen: Laut derzeitigen Ermittlungsergebnissen besorgte sich K. F. Ende September am Schwarzmarkt Munition, die Tatwaffe besaß er mutmaßlich schon seit Juni. Erst am 20. Oktober erhielten die Verfassungsschützer aus der Slowakei die späte Rückmeldung, dass es sich beim Mann im Waffengeschäft um K. F. handelte.

Was dann geschah, ist für die Ermittler der Staatsanwaltschaft von besonderem Interesse. Am 21. und 22. Oktober 2020, knapp zwei Wochen vor dem Attentat, wurden im LVT konkrete Maßnahmen zu 34 islamistischen Gefährdern – darunter auch dem späteren Attentäter – diskutiert. Die Protokolle dazu befinden sich im Akt: „Mit ihm ist eine Gefährderansprache bzw. Befragung zu sicherheitsrelevanten Ereignissen (Slowakei) durchzuführen und hat danach eine Maßnahmenneuevaluierung aufgrund der Ergebnisse zu erfolgen“, wurde zu K. F. festgelegt. Bemerkenswert: Erst in einer überarbeiteten zweiten Fassung des Protokolls wurde die Information zur Slowakei hineingeschrieben. Weil keine Meldung zum Munitionskauf an die Staatsanwaltschaft erfolgte, werden Sachbearbeiter S. und Referatsleiter K. von der Justiz jedenfalls als Verdächtige geführt. Beide widersprechen. Eine solche Meldung an die Staatsanwaltschaft würde nicht der jahrelangen Ermittlungspraxis entsprechen, außerdem sei versuchter Munitionskauf nicht strafbar, argumentieren sie.

Für die WKStA schien das schlüssig, sie wollte das Verfahren Ende 2021 einstellen. Doch Oberstaatsanwaltschaft Wien (OStA) und Justizministerium widersprachen im Dezember 2021 per Weisung: Es „wird ersucht (…), von einer beabsichtigen Einstellung des Ermittlungsverfahrens (…) Abstand zu nehmen“, heißt es in dem Schreiben. Weitere Akten seien zu beschaffen und Beamte zu vernehmen, um die „Entscheidungsgrundlage zu verbreitern“. Betont wird in der Weisung, dass auch beim Vorliegen eines „Zweifels“ von Kriminalbeamten, ob ein Sachverhalt strafrechtlich relevant ist, an die Staatsanwaltschaft zu berichten wäre. Die Strafprozessordnung wurde erst vor einigen Jahren dahingehend verschärft. In einem Mail vom 16. November 2020 habe der Referatsleiter K. argumentiert, dass „bei einem Bericht an die Staatsanwaltschaft (…) strafbares Verhalten (Anm: versuchter Munitionskauf) fraglich gewesen“ wäre. Für die OStA ein Indiz für mögliche Zweifel und ein „Widerspruch“, mit dem man den Beamten zumindest „konfrontieren“ müsse.

Für Hinterbliebene und ihre Anwälte bleibt das Verfahren gegen die Verfassungsschützer von höchster Relevanz. Die Klage von Familie V., die vergangene Woche vor Gericht zog, wurde vorerst vertagt. Noch im Mai soll es Entscheidungen über die Forderungen weiterer Hinterbliebenen geben – die Mutter und Schwester einer getöteten deutschen Studentin brachten schon vor über einem Jahr eine Klage am Zivilgericht ein. Die Aufarbeitung des Terroranschlages wird noch lange andauern.