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Zeit für eine Frei-Corona-Kultur

Anhänger der Frei-Corona-Kultur (FCK) haben es derzeit doppelt schwer. Gemeint sind Menschen, die einfach gerne mit anderen Menschen Zeit im Freien verbringen.

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Guten Morgen!

Anhänger der Frei-Corona-Kultur (FCK) haben es derzeit doppelt schwer. Gemeint ist nicht jene Sorte Freigeister, die auf Freiluft-Demos die Zustände auf den Intensivstationen leugnen. Oder Anhänger der Freikörperkultur, die in der kalten Jahreszeit nur daheim nackt sind und im Sommer automatisch Abstand zum nächsten Handtuch halten. Sondern Menschen, die einfach gerne mit anderen Menschen Zeit im Freien verbringen. Diese Spezies macht derzeit eigentlich alles richtig, weil sich das Virus draußen extrem unwohl fühlt und lieber im Wohnzimmer, Auto, Supermarkt, Beisl, Zug oder  Büro verbreitet. Andererseits können die Anhänger der FCK derzeit nur alles falsch machen, weil Politik, Exekutive und Boulevard von Beginn an kaum einen Unterschied machen zwischen drinnen und draußen. So wird die 2-Meter-Abstand-Formel auch im Freien vom Gesetzgeber verhängt, von der Polizei verfolgt und vom Boulevard geifernd vermessen. Das Resultat sind Anzeigen gegen flanierende Schüler, die kurz zuvor noch getestet die Schulbank drückten. Oder Zeitungs-Bilder gleich Fahndungsfotos, mit verpixelten Gesichtern, von Menschen in Parks oder vor Geschäften, die keinen Faßmann Abstand beim Plaudern oder Shoppen halten.

Beim Spazierengehen mit Freunden tendiert die Wahrscheinlichkeit, sich  mit Corona zu infizieren, gegen Null, sagen Virologen. Die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung steigt beim lauten Reden oder Singen (feuchtfröhliche Alkohol-Gelage können auch im Freien mit einem Viren-Kater enden). Allerdings: Auf die BlackLivesMatter-Demo Juni mit 50.000 Teilnehmern konnte laut AGES keine einzige Infektion zurückverfolgt werden – Sie erinnern sich, damals wurden Kontakte von Infizierten noch systematisch nachverfolgt. Die britische Mutante ist ansteckender. Also spricht alles für die Maskenpflicht auf Demos – aber immer noch recht wenig für den sklavischen zwei Meter-Abstand beim Park-Plausch.

An welchem Punkt hat die Regierung das Vertrauen in ihre Corona-Politik mehrheitlich verloren? Schwer festzumachen. Es ist wohl die Summe an Verordnungen, die bei einer normalen Lebensführung und Einstellung zum Virus so nicht mehr nachvollziehbar sind. Zum Beispiel der 2-Meter-Abstand im Freien.

An welchem Punkt kippen die Menschen ins Corona-Protestlager, das anzuführen sich FPÖ-Chef Herbert Kickl aufgeschwungen hat? Was lässt sie mit FFP2-Maske neben Agitatoren marschieren, die mit der Maske unter dem Kinn ihre Aerosole mit jeder Hass-Parole verbreiten? Christa Zöchling hat analysiert, wie gefährlich diese Bewegung für die Demokratie und wie groß der Zulauf für das „Zornsammelbecken“ FPÖ werden könnte. Sie hat die Demos von Beginn an begleitet und ist überzeugt: Die FPÖ wird die diffuse Stimmungslage gekonnt zu ihrem Vorteil nutzen. Gegenthese in der Redaktionssitzung: Die FPÖ wird sich mit diesem radikalen Kickl-Kurs bei bürgerlichen Wählern ins Out schießen und unterm Strich verlieren (bei allem Freiheitsdrang ist und bleibt Gesundheit ein hohes Gut in Österreich, vor allem unter älteren Wählern).

Das Spiel scheint offen. Zwei Zahlen dazu aus dem aktuellen Heft, das ein wahrer Statistik-Fundus ist: 66 Prozent der Österreicher finden die Anti-Corona-Proteste negativ, 34 Prozent finden sie positiv. 48 Prozent meinen, in Krisenzeiten braucht es einen starken Führer, der schnell entscheiden kann, notfalls auch am Parlament vorbei. 

Was dem Kickl-Lager sicher Rückenwind verleiht, sind Anzeigen gegen Normalbürger, die lieber im Freien sozial weiterexistieren als in geschlossenen Räumen – selbst wenn sie dabei mal kurz auf einen Meter zusammenrücken. Was umgekehrt das Vertrauen in das Corona-Management zurückbringt, sind rasche Impfungen für die Masse; klare Prioritäten bei der Reihenfolge, damit Privilegierte nicht weiter die Abkürzung nehmen; und für die Zeit bis dahin: lebensnahe Regeln für Draußen, zur Etablierung einer Frei-Corona-Kultur. Endlich Sport im Freien für Schüler oder Schani-Gärten sind ein guter Anfang.

Den Bürger durch übertriebene Outdoor-Regeln den Sommer zu verhageln und sie bis Herbst nicht durchgeimpft zu haben, bevor es in den zweiten Corona-Winter geht, dieses Szenario will man sich nicht ausmalen … dann Gnade uns Kickl.

Clemens Neuhold

P.S. Gibt es etwas, das wir an der "Morgenpost" verbessern können? Das Sie ärgert? Erfreut? Wenn ja, lassen Sie es uns unter der Adresse [email protected] wissen.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.