Zeitenwende in Wien: Michael Häupl verlässt die Politbühne
Ein turnsaalgroßer Büroprunkraum wie eine Kulisse: Palisander-Blattgold-Decke, Damast an den Wänden, Edelholzvertäfelung. Ganz oben auf dem Papier- und Aktenturm liegt das kleine Präsent für den Nachfolger, eine grellpinke Karte mit der Aufschrift „Sorry, aber kannst Du bitte noch kurz die Welt retten?“ Michael Häupl nimmt die Karte in die Hand, grinst. Und schaut hinüber zum Berg an Kisten. Im November 1994 ist Häupl hier ins Bürgermeisterbüro im Wiener Rathaus eingezogen, jetzt packt er zusammen, kommende Woche zieht er aus. Sein so üppiges wie vollgeräumtes Büro mutet wie ein Anachronismus an. Politiker, die modern erscheinen wollen, regieren aus karg-leeren Zimmern: Stehpult. Laptop. Smartphone. Derart reduzierte Insignien der Macht waren Häupls Sache nie, sein Stil stets die Machtfülle, er herrschte über Stadt und Sozialdemokratie mit der Raffinesse eines Renaissancefürsten. Wie sein Büro wirkt auch dessen 69-jähriger Bewohner – etwas aus der Zeit gefallen.
Kein Wunder, manche Nachrichten aus dem Jahr 1994 klingen heute verflixt alt. Österreich stimmte über den EU-Beitritt ab. In Südafrika wurde Nelson Mandela Präsident. Sony brachte die Innovation PlayStation auf den Markt. Die erste Test-SMS wurde verschickt. Und Sebastian Kurz kam in Wien-Liesing in die dritte Klasse Volksschule. Seit dem Jahr 1994 amtiert Häupl, unter 25-Jährige haben nie einen anderen Wiener Bürgermeister erlebt. Die Bundeskanzler Franz Vranitzky, Viktor Klima, Wolfgang Schüssel, Alfred Gusenbauer, Werner Faymann, Christian Kern und Sebastian Kurz kamen und gingen. Michael Häupl blieb.
Den richtigen Zeitpunkt für den Rückzug zu wählen, gilt als hohe politische Kunst. Häupl beherrscht sie nicht. So intensiv er seinen Machiavelli gelesen, mehr noch, verinnerlicht hat – den eigenen Abschied hat er komplett vermasselt. Er zauderte und zögerte, seine Nachfolge zu regeln, bis weit über die Grenze der Selbstbeschädigung hinaus, so quälend lange, bis ihm Kraft und Autorität dafür heillos entglitten waren. Der Vergleich macht sicher: Häupls engster politischer Langzeitkumpel war Erwin Pröll. Beide kultivierten hingebungsvoll ihren Mythos als cäsarenhafte Machtmänner, denen demonstrativ egal war, wer unter ihnen als Bundeskanzler oder Bundesparteichef fungierte. Pröll ging, gerade noch am Zenit, und setzte seine Wunschnachfolgerin durch. Häupl demolierte beinahe sein eigenes Denkmal. Welch unwürdiges Ende für einen absoluten Ausnahmepolitiker.
Der mit lustvollem Granteln und pointierten Wuchteln stilbildend wirkte. Sein Satz „Wahlkampf ist die Zeit fokussierter Unintelligenz“ gehört zur Grundausstattung von Politkommentatoren. Der instinktsicher das traditionelle sozialdemokratische Milieu aufzurütteln und zwei FPÖ-Obmänner mit Ambitionen auf den Bürgermeistersessel abzuwehren wusste. „In meiner Stadt ist kein Platz für Antisemitismus“, donnerte er 2001 Jörg Haider entgegen. „Aus meiner Stadt schicke ich kein Kind zurück vor die Gewehrläufe des IS“, wies er 2013 Heinz-Christian Strache in die Schranken. Haltung zeigen gegen Rechtspopulismus wurde zu Häupls rotem Politikfaden, die FPÖ von der Macht fernzuhalten, zu seiner Mission – und das Feindbild schwarz-blaue Regierung zu seinem Dauerwahlkampfschlager. Das Rote Wien als Kontrapunkt gegen die ÖVP-FPÖ-Bundeskoalition zu positionieren, liberalere, weltoffenere, sozialere Politik zu machen, das waren Häupls Assets, die ihm zwei Mal, 2001 und 2005, die absolute Mehrheit sicherten. Und heiße Herzen in der SPÖ.
Aber selbst der größte Hit nutzt sich irgendwann ab. Zuletzt klangen Häupls Wir-in-Wien-gegen-Schwarz-Blau-Attacken reichlich schal. Und auch der Applaus aus der eigenen Partei schallte schon begeisterter.
Geschichte wiederholt sich, zumindest in der Wiener SPÖ. Als der eher schüchterne, links-intellektuelle Umweltstadtrat Michael Häupl in den 1990er-Jahren den Chefsessel übernahm, war die SPÖ zutiefst zerstritten über der Frage, wie man mit den Zuwandererströmen umgehen sollte. Hardliner wie Innen-Stadtrat Johann Hatzl und Innenminister Franz Löschnak, die beide Gegenkandidaten Häupls gewesen waren, drängten auf restriktiven Kurs. 80.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, Tausende Migranten aus dem Ex-Ostblock. Anträge auf Aufenthalt wegen „Überfremdung“ abgeschmettert. SPÖ-Vorsteher der Gürtelbezirke, die die Absiedlung von Ausländern in andere Gegenden forderten und über Schulklassen mit 80 Prozent Migranten klagten. Die Wahl 1996 ging krachend verloren, vor allem in den Arbeiter- und Flächenbezirken wie Simmering oder Donaustadt liefen SPÖ-Wähler in Scharen zur FPÖ über.
Klingt alles ziemlich nach 2018.
Im Grunde endet Häupls Amtszeit mit derselben Gemengelage, mit der sie begann: Migration. Damals reagierte der Neo-Bürgermeister beherzt und weitsichtig: Er schuf 1996 ein Integrationsressort, das erste in Österreich, und besetzte es mit dem wortgewaltigen Jungtalent Renate Brauner, die Deutschkurse und Sozialarbeiter in Parks forcierte. Erst 15 Jahre später sollte auf Bundesebene ein Integrationsressort folgen, besetzt mit dem wortgewaltigen Jungspund Sebastian Kurz, der heute bevorzugt Wien als Negativbeispiel für misslungene Integration geißelt. „Vielleicht haben wir manches zu spät gesehen“, sagt Häupl (siehe Interview hier).
Welchen Kurs Nachfolger Michael Ludwig einschlagen wird, ist nur in Konturen erkennbar. Bei der Auswahl seines Stadträte-Teams tarierte der Neue sorgsam zwischen linkem und rechtem SPÖ-Flügel aus, für alle weltanschauliche Pole der noch immer größten Stadtpartei der Welt finden sich Projektionsflächen. Bald wird sich herausstellen, ob Ludwig Häupls politisches Erbe fortsetzt: 2010 schrieb der gelernte Biologe Häupl mit der Installierung der ersten rot-grünen Landesregierung Österreichs Geschichte. Das passte zur Biografie des Intellektuellen Häupl, der über Antonio Gramscis Hegemonietheorie referieren kann und schon 1982 ein Bündnis aus Ökologiebewegung und Sozialdemokratie erwog. Und zur Entwicklung Wiens.
In der Ära Häupl wuchs Wien enorm, mutierte von der schrumpfenden, etwas verschnarchten Stadt, die vor allem Vergangenheit aufwies, zur Zukunftsmetropole – mit allen Herausforderungen, die damit einhergehen. Das ist in Zahlen ablesbar, die Geburtenrate stieg genauso wie die Studierendenzahlen, das zeitigt Auswirkungen auf Mieten und Schulen (siehe Kommentar Seite 20).
Die Wiener leben heute im Dichtestress: Die U-Bahnen sind manchmal proppenvoll, die Spitalsambulanzen auch. Wien wurde unter Häupl lebendiger, spannender, offener, nicht ohne Grund zum neunten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt – und komplizierter im Zusammenleben. Gemächlich ist es nicht mehr. Als Häupl antrat, beschrieb das neu erschienene Buch „Ostcharme mit Westkomfort“ den Zustand Wiens trefflich. Heute pulsiert die Stadt, im Positiven wie im Negativen, Autofahrer gegen Radfahrer, Partyvolk gegen Senioren, Bioveganläden gegen Billigshops, Kebab gegen Schnitzel, alle Lebensstile prallen auf immer engerem Raum aufeinander. Das kann verunsichern, auch weil Gewissheiten schwinden, nicht zuletzt am Arbeitsplatz: Die Zahl der Geringfügig- und Teilzeitbeschäftigten stieg rasant.
Wien wurde Weltstadt, das ist zwar beileibe nicht Häupls alleiniges Verdienst, aber sein prägendes Erbe. Angereichert durch modern Architektonisches (das MuseumsQuartier), verdienstvoll Historisches (das Holocaust-Mahnmal auf dem Judenplatz), hochkant Misslungenes (der millionenschwere Praterumbau) und teuer Skandalöses (Krankenhaus Nord). Die Wirtschaftsdaten fielen zuletzt reichlich ernüchternd aus: Im Bundesländer-Vergleich hinkt Wien (mit Salzburg) beim Wirtschaftswachstum mit 2,6 Prozent den Spitzenreitern wie der Steiermark (3,6 Prozent) hinterher, die Arbeitslosenquote ging zwar im Vorjahr auf 13 Prozent zurück, ist aber die höchste Österreichs. Damit wie mit der angeschwollenen Verschuldung muss sich künftig Nachfolger Michael Ludwig herumschlagen – kurz die Welt retten eben, wie ihm Häupl mitgibt.
Und Häupl selbst, wird er gänzlich von der öffentlichen Bühne verschwinden? Im Naturhistorischen Museum war er lange karenziert, seit dem 65. Geburtstag ist er dort in Pension, als Präsident des Wissenschafts- und Technologiefonds macht er weiter. Ob er keine Angst vor der plötzlichen Leere im Terminkalender hat? – „Herrlich.“