FLÜCHTLINGS-EHEPAAR ALMA UND FRANZ WERFEL: Dem Autor gelang bald nach der Ankunft in den USA ein Welterfolg.

Zeitgeschichte: Dichter und Denker auf der Flucht vor den Nazis

Vor 75 Jahren verließ das letzte Flüchtlingsschiff Europa in Richtung New York. An Bord waren prominente österreichische Sozialdemokraten und die Elite der deutschen Literatur. Nachforschungen zu einer Ozeanüberquerung.

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An viel kann er sich nicht erinnern: Die Mutter lag seekrank in der Kabine und er brachte ihr Zuckerln, das weiß John Sailer noch. Im September 1940, als seine Familie auf einem griechischen Dampfer den Nazis entkam, war er erst drei. Es war das letzte Schiff, das Flüchtlinge über den Atlantik brachte.

Sein Vater Karl Hans Sailer stand als ehemaliger Redakteur der "Arbeiter Zeitung" und Vorsitzender der illegalen Sozialdemokraten nach 1934 ganz oben auf der Fahndungsliste der Gestapo. 1936 war er der Hauptangeklagte im sogenannten "Sozialistenprozess" gewesen. Neben ihm auf der Anklagebank saßen Bruno Kreisky und Franz Jonas, die wie er Widerstand gegen das Ständestaat-Regime geleistet hatten. Vor dem "Anschluss" kam Sailer frei. Bevor ihn die Nazis ergreifen konnten, flohen er und seine Frau Erna über die Schweiz nach Paris. Baby John, gerade ein halbes Jahr alt, wurde auf abenteuerlichen Wegen mit falschen Papieren nach Frankreich gebracht.

Als er 1946 wieder nach Wien zurück durfte sprach John Sailer besser Englisch als Deutsch. Viel später, 1974, eröffnete er seine Galerie "Ulysses", die zu einer der bedeutendsten des Landes wurde. Klee, Kandinsky, Warhol, Baselitz, Kiefer, Lichtenstein, Rainer - in Sailers Ulysses waren praktisch alle Großen der Moderne vertreten.

Überfahrt von Lissabon nach New York

In den letzten Jahren sitzt er oft in seinem Büro und ordnet alte Dinge: Fotos, Fahrkarten, Dokumente, Briefe und eben die Fetzen der Erinnerung an jene Überfahrt von Lissabon nach New York im September 1940, als die Mutter seekrank war. Er weiß noch, wie das Schiff hieß: "Nea Hellas". Später wurde ihm erzählt, an Bord seien auch bekannte Schriftsteller gewesen, zum Beispiel Heinrich Mann und Franz Werfel.

profil ging der Fluchtgeschichte der Familie Sailer, die auch eine Geschichte der Vertreibung der europäischen Intelligenz ist, anhand von Biografien und längst vergessenen Manuskripten nach.

Als Nazi-Deutschland im Juni 1940 Paris besetzt, reihen sich die Sailers in jenen Treck ein, der nun nach Süden, in den noch unbesetzten Teil Frankreichs zieht, wo eine Marionettenregierung von Hitlers Gnaden amtiert. Viele aus dem Zug der Vertriebenen bleiben in der Stadt Montauban, auf halbem Weg zwischen Paris und dem Mittelmeer. Da ist etwa Friedrich Adler, der Sohn des Gründers der Sozialdemokratischen Partei, der 1916 den Ministerpräsidenten Stürgkh aus Protest gegen den Krieg erschossen hat. Auch die politische Philosophin Hannah Arendt bleibt für einige Wochen in Montauban.

JOHN SAILER ALS KLEINKIND: Auf abenteuerliche Weise nach Frankreich geschmuggelt

Die Sailers machen ebenfalls Station in dem Städtchen, das noch immer einen sozialistischen Bürgermeister hat. Den nächstgelegenen Hafen, jenen von Marseille, verlässt aber kein Flüchtlingsschiff mehr. Es gibt nur noch einen Fluchtpunkt: Lissabon. Um dorthin zu gelangen, sind ein französisches Ausreisevisum, ein spanisches Durchreisevisum und ein portugiesisches Einreisevisum nötig. Dann benötigt man noch eine Schiffskarte und jemanden, der in den USA für einen bürgt.

Auch der Schriftsteller Franz Werfel - sein Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" war 1933 ein Weltbestseller - und seine Frau Alma, verwitwete Mahler, stehen vor den Konsulaten in Marseille Schlange. Sie haben fast alle Papiere beisammen, bloß eines fehlt: das französische Ausreisevisum. Aus Angst, an die Deutschen ausgeliefert zu werden, hatten sie es nicht gewagt, das Dokument zu beantragen.

Varian Fry, der Retter

Man empfiehlt ihnen einen geheimnisvollen Amerikaner, einen gewissen Varian Fry. Fry, ein 33-jähriger Journalist mit Harvard-Abschluss, ist im Auftrag des "Emergency Rescue Committee" in Europa , um europäische Künstler und Intellektuelle - meist sind es Juden - vor den Nazis zu retten. Finanziert wird die Aktion von wohlhabenden Emigranten, wie etwa Thomas Mann, dessen Sohn Golo noch in Europa ist. Auch der ehemalige Linksaußen der illegalen österreichischen Sozialdemokraten, Joseph Buttinger, zahlt mit. Der Kärntner ist mit der Tochter aus einer schwerreichen Chicagoer Fleischdynastie verheiratet.

Fry kann alles: Er besorgt Papiere und lotst Flüchtlinge ohne entsprechende Visa über die Pyrenäen nach Spanien. Erst kurz zuvor hatte er den Schriftsteller Lion Feuchtwanger über die Berge gebracht. Der Philosoph Walter Benjamin hatte es ebenfalls bereits fast geschafft, verübte dann aber im spanischen Grenzort Portbou aus Angst, doch noch von den Deutschen geschnappt zu werden, Selbstmord.

FLÜCHTLINGSHELFER VARIAN FRY: Der Journalist lotste die Künstler über steile Pyrenäenpfade.

Jetzt stellt Varian Fry eine weitere Flüchtlingsgruppe zusammen: Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, Golo Mann und seinen Onkel Heinrich Mann sowie dessen Frau Nelly. Heinrich, älterer Bruder von Thomas Mann, ist bereits 70. Seine Romane "Der Untertan" und "Professor Unrat" (1930 als "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich verfilmt) waren Welterfolge. Die Nazis warfen sie auf den Scheiterhaufen.

"Die Sonne brannte in den Pyrenäen schon um sechs Uhr früh infernalisch hernieder", schreibt Alma Mahler-Werfel später über ihre Flucht: "Wir kletterten rutschiges steiles Terrain hoch, Nelly Mann musste Heinrich mehr tragen, als dass er selbst hochklettern konnte." Auch Franz Werfel, obwohl erst 50 schwer herzkrank, schafft es kaum.

Gezeichnet erreicht der kleine Flüchtlingstrupp Barcelona. Dort haben die Werfels und die Manns Glück: Sie ergattern einen Flug nach Lissabon. Auch der Wiener Autor Alfred Polgar und seine Frau werden von Fry über das Gebirge nach Spanien gelotst. "Wir sind drei Tage und Nächte ohne Schlaf und nicht aus den Kleidern gekommen. Aber wir sind hier und selig und nur zu verbraucht und physisch-geistig zerschunden, um der Seligkeit schon richtig froh sein zu können", notiert Polgar in sein Tagebuch.

Die Sailers werden ebenfalls von Varian Fry mit Reisedokumenten ausgestattet. Für sie bürgt der amerikanische Gewerkschaftsbund. Den Weg nach Lissabon können sie per Bahn zurücklegen.

Warten auf das Schiff

Mitte September 1940 sind alle in Lissabon und warten. Die Werfels brauchen Geld. Ihr ebenfalls nach Lissabon geflüchteter Freund Guido Zernatto, ehemaliger Staatssekretär in Schuschniggs Ständestaat-Regierung, empfiehlt ihnen einen Wechsler: "Herr B. gab vor, meine 200 englischen Pfund zu einem günstigeren Kurs wechseln zu können. Ich gab ihm das Geld. Am nächsten Tag beteuerte er, die Pfunde von mir nicht bekommen zu haben", hält Alma Mahler-Werfel fest.

Die Flüchtlinge erregen Aufsehen in der Stadt: Die Frauen rauchen in der Öffentlichkeit und sitzen in Cafés. Das ist in Portugal unüblich. Vor allem die exaltierte Alma fällt auf. Karl Farkas, auch er ist hier gestrandet, unterhält die Gruppe im Club Estefania mit Kabarettnummern. Titel der Revue: "Lissabon lacht wieder".

Heinrich und Golo Mann telegrafieren nach New York. "Beim Frühstück Telegramm von Golo und Heinrich aus Lissabon, die auf ein Schiff warten. Freude und Genugtuung!", schreibt Thomas Mann jenseits des Ozeans in sein Tagebuch.

Heinrich Mann: "Überaus leidvoller Abschied"

Endlich schifft man sich ein. Auch Friedrich Torberg verlässt den Heimatkontinent über Lissabon. In posthum veröffentlichten Briefen schildert er das Auslaufen: "In der Dunkelheit setzte sich das Schiff in Bewegung. Langsam wurde es gedreht und den Tejo hinausgeschleppt. Märchenhaft strahlte die Stadt herüber. Ihr zauberhaftes Licht war das Letzte, was wir von Europa sahen, in Trauer versenkt." Für Heinrich Mann verschwindet der Hafen "unbegreiflich schön in der Ferne. Überaus leidvoll war dieser Abschied".

Die Sailers treffen an Bord viele Bekannte, vor allem die jüdischen Mitglieder der sozialdemokratischen Parteiführung sind wie sie auf der Flucht vor den Nazis. Da ist etwa der Arzt Wilhelm Ellenbogen, der trotz seiner 77 Jahre den Weg über die Pyrenäen geschafft hat. Ellenbogen war ab 1901 für die Sozialdemokraten im alten Reichsrat gesessen und danach bis zu dessen Auflösung 1933 im Nationalrat. Am Schiff sind auch Karl Hans Sailers ehemaliger Journalistenkollege Schiller Marmorek vom "Kleinen Blatt" und dessen Frau Hilde. Hilde Marmorek hatte lange ein Verhältnis mit dem 1938 in Paris verstorbenen Otto Bauer, dem Chefideologen der Sozialdemokraten. Als Bruno Kreisky, der Bauer anbetete, dies Anfang der 1930er-Jahre herausfand, war er verstört. Der damals 20-Jährige hatte sein Idol bis zu Stadtbahnstation Schottenring begleitet, als Bauer offensichtlich keinen Wert auf seine weitere Anwesenheit legte: "Da bemerkte ich diese hübsche Frau, die am anderen Bahnsteig auf ihn wartete", schreibt Kreisky in seinen Memoiren.

JOHN SAILER IN SEINEM BÜRO AN DER WIENER RINGSTRASSE: Ordnung in die Fetzen der Erinnerung bringen

Das größte Drama unter den Passagieren der "Nea Hellas" haben freilich der "Arbeiter Zeitung"-Redakteur Otto Leichter und seine Söhne Heinz (16) und Franz (10) hinter sich. Ihnen war mit knapper Not die Flucht aus Wien gelungen, während Mutter Käthe Leichter nach einem Verrat von der Gestapo festgenommen wurde. Die Mitarbeiterin der Arbeiterkammer und Autorin mehrerer sozialwissenschaftlicher Studien wurde ins KZ Ravensbrück gebracht und 1942 ermordet. "Niemand wurde so gequält wie sie", schrieb ihre Mitgefangene Rosa Jochmann später.

Die verwöhnte Alma Mahler-Werfel klagt über das Essen an Bord ("Zum Abgewöhnen schlecht") und fadisiert sich: "Das Meer langweilig wie immer, denn nur die Küsten sind interessant und auch nur die von Menschen besiedelten. Sonst ist die Monotonie in der Natur groß." Sie unterhält sich gerne mit Golo Mann und lässt sich über das Befinden von dessen Onkel Heinrich berichten: "Der blieb in seiner Kabine, weil ihm schlecht war. Als ihn sein Neffe Golo besuchen ging, lag er im Bett und zeichnete gerade Weiber mit großem Busen, manchmal auch nur letztere allein", notiert sie.

Werfel denkt an sein nächstes Buch

Franz Werfel streicht über das Deck und denkt über nichts anderes nach als über sein nächstes Buch. Auf der Flucht waren Alma und er durch Lourdes gekommen, wo Werfel von der Geschichte der Bernadette Soubirous und ihrer Marienerscheinung so beeindruckt war, dass er gelobte, im Falle einer glücklichen Ankunft einen Roman über sie zu verfassen: "Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude", schreibt er später im Vorwort.

Auch Friederike Zweig ist mit ihren Töchtern auf der "Nea Hellas". Sie hat sich 1934 von ihrem Mann Stefan getrennt, als sie auf dessen Verhältnis mit seiner Sekretärin Lotte Altmann gestoßen war. Stefan Zweig hat Lotte inzwischen geheiratet und sitzt in Brasilien. Die beiden werden sich 1942 verzweifelt über die kulturelle Entwurzelung vergiften.

Die "Nea Hellas", 1922 von Stapel gelaufen, gehört dem Schifffahrtsunternehmen Greek Line. Als das Schiff mitten auf dem Ozean ist, wird gefunkt, das mit Hitler verbündete Italien habe Griechenland angegriffen.

In New York warten die Reporter

Im Hafen von New York warten schon die Reporter. "Autoren auf der Flucht vor den Nazis", titelt die "New York Times" ihren ausführlichen Bericht über die Ankunft der "Nea Hellas". Die Zeitungen interessieren sich vor allem für Franz Werfel, dessen Roman "Der veruntreute Himmel" kurz zuvor zum Buch des Monats gewählt wurde.

Klaus Mann wartet am Pier auf Bruder Golo und Onkel Heinrich. "Ein Schiff voll gestrandeter, durch Europa gejagter Berühmtheiten", schreibt er am Abend in sein Tagebuch: "Werfel mit der ramponierten Alma, Polgar usw. Überall bekannte Gesichter, viele unangenehme darunter." Die Manns ziehen sich laut Tagebucheintrag von Klaus Mann rasch in ihr Haus in Princeton zum "lunch en famille" zurück, zu dem auch der in New York weilende Maler Joan Miro stößt. Am Abend wird zu Ehren von Franz Werfel und Heinrich Mann ein Diner im Luxushotel Commodore bei der Grand Central Station (heute Grand Hyatt) gegeben. Die Rede hält der britische Schriftsteller William Somerset Maugham, den die Nazis von seinem prächtigen Landgut in Südfrankreich vertrieben haben.

Die Sailers kommen weniger luxuriös unter, aber sie haben wenigstens eine Bleibe. Die kleine Wohnung in der 70. Straße West hat ein mit Karl Hans Sailer befreundeter Grafiker vorbereitet, der schon früher geflüchtet war. Um seine Familie durchzubringen, schreibt Sailer Artikel für deutschsprachige Zeitungen.

Alfred Polgar, Friedrich Torberg und andere Autoren reisen nach Los Angeles weiter. Auf Wunsch von Präsident Roosevelt stellen die MGM-Studios für ein Jahr zehn Jobs zur Verfügung. Die in Europa gefragten Schriftsteller haben allerdings kaum Arbeit und schlagen acht Stunden pro Tag die Zeit tot. "Sitzhaft" sei das, klagt Alfred Döblin.

FLÜCHTLING AFLFRED POLGAR: "Verbraucht und physisch-geistig zerschunden"

Franz Werfel verfasst innerhalb von fünf Wochen seinen Lourdes-Roman "Das Lied der Bernadette", der sich sofort 400.000 Mal verkauft. 1943 wird das Buch in Hollywood verfilmt. Das Ehepaar zieht in eine Villa in Beverly Hills, wo Franz Werfel kurz nach Kriegsende seinem Herzleiden erliegt. Alma stirbt hochbetagt 1964 in New York.

Varian Fry, der auch noch den Malern Marc Chagall, Marcel Duchamp und Max Ernst, den Schriftstellern André Breton, Soma Morgenstern und Walter Mehring sowie etwa 4000 weiteren Menschen zur Flucht verhilft, gerät in Vergessenheit. Sein bereits 1942 verfasstes Buch "Das Massaker an den Juden in Europa" findet wenig Aufmerksamkeit. Zum Überleben schreibt er Werbebroschüren für Coca-Cola. Er stirbt 1967 im Alter von 60 Jahren in New York. 1997 benennt Berlin eine kleine Straße in Kreuzberg nach ihm.

Otto Leichter gründet noch 1940 mit Karl Hans Sailer das "Austrian Labour Committee". Anders als Friedrich Adler vertreten die beiden die Auffassung, Österreich müsse nach dem Sieg über Hitler ein unabhängiger Staat werden, die Idee vom großen Deutschland habe der Nationalsozialismus umgebracht. Otto Leichter kehrt 1946 kurz nach Österreich zurück, wo ihn die Parteiführung eher unterkühlt behandelt. Er verbringt seinen Lebensabend als Korrespondent in den USA. Sein Sohn Heinz Leichter wird dort ein gefragter Anwalt, der jüngere Sohn Franz Kongressabgeordneter im Staat New York. Sein Wahlbezirk ist das Viertel um den Times Square in Manhattan.

Karl Hans Sailer kehrt mit seiner Familie 1946 nach Wien zurück, wird stellvertretender Chefredakteur der "Arbeiter Zeitung" und stirbt 1957 an einem Herzleiden. Seine Frau Erna wird Leiterin der Fürsorgeschule der Stadt Wien, später Entwicklungshelferin in Birma (heute Myanmar) und danach UNO-Bevollmächtige für die Unabhängigkeit von Bangladesch. Ab 1971 ist sie österreichische Botschafterin in Indien. Sie stirbt 2004.

John Sailer ist neun, als seine Familie nach Wien zurückkehrt. Er wird in die Volksschule Fichtnergasse in Wien-Hietzing eingeschrieben. Dort freundet er sich mit einem Gleichaltrigen namens Heinz Fischer an. Die Freundschaft hält bis heute. Die "Nea Hellas" wird 1961 abgewrackt.