Als U-Boot in Wien
Bis Mai 1939 blieb ich bei der Gestapo am Morzinplatz. Sie wollten mich nicht rauslassen, weil sie mich derart zugerichtet hatten. Dann schickten sie mich ins Arbeitslager Eisenerz. Die Schaufel war größer als ich. Nach wenigen Wochen gelang mir die Flucht. Ich ging in den Wald und hörte sogleich das Signal, dass schon wieder einer entwischt war. Danach die Motorräder, die mir hinterherfuhren. Aber sie fanden mich nicht. Fünf Monate lang ging ich von Eisenerz nach Wien zurück. Ich war zehn Jahre alt.
Die ersten Tage waren die schlimmsten. Ich hatte nur Hunger, Hunger, Hunger. Drei Tage hatte ich nichts gegessen. Auf einer Lichtung fand ich eine Futterkrippe mit Stroh und legte mich hinein. Als ich aufwachte, sah ich Zähne und eine Zunge. Es war ein Reh, das das Schweißsalz von mir abgeschleckt hat. Schließlich fand ich ein Feld mit jungen Karotten und Kohl. Was grün war, habe ich abgebrockt. Ich habe niemals geweint. Ich konnte nicht.
Zwei Wochen, bevor ich Wien erreichte, ging ich an einer Hühnerfarm vorbei. Ich sah, wie der Mann wegfuhr, und ging dann zum Haus. Da war eine Frau. Ich kam mit dem Schmäh, ich hätte mich verirrt. Sie gab mir eine Suppe und eine Zuspeis. Sie war wirklich brav. Aus dem Volksempfänger hörte man Hitler. Die Frau fing bitterlich zu weinen an. Sie sagte: „Jetzt führt uns der scheiß Hitler in den Krieg.“ Daraufhin habe ich sie beruhigt und mich zu erkennen gegeben. Sie meinte: „Wir müssen zusammenhalten und dürfen nicht aufgeben.“ Sie packte mir Brot und Speck ein und wies mir den Weg.
Ich muss fürchterlich ausgeschaut haben, meine Kleidung war ja nicht mehr die beste. In Wien war überall Militär und Polizei, aber niemand hat mich beachtet. Ich ging zu unserer Wohnung in der Ullmannstraße in Rudolfsheim, doch meine Mutter war nicht da, sondern die Frau eines SSlers. Sie sagte: „Schleich dich, die Wohnung ist arisiert.“ Meine Mutter war in der Petrusgasse in einer Sammelwohnung, ich fand sie nach langer Suche. Die Gestapo suchte mich, sagte sie. Also tauchte ich unter.
In der ersten Nacht ging ich in den Wurstelprater, schlich mich in die Stube der Liliputbahn, fand etwas zum Essen und einen Diwan, auf den ich mich hinlegen konnte. Ich habe meine Mutter immer wieder kurz besucht, aber mich hauptsächlich im Prater herumgedrückt. Dann habe ich festgestellt: Da ist ein Mädchen, sie drückt sich auch herum, genauso wie ich. Wenn man als U-Boot lebt, nimmt man die Dinge ganz anders wahr, man ist sehr, sehr wachsam. Mit dem Mädchen habe ich mich angefreundet. Bei der Hochschaubahn ging ich betteln: „Hast du nicht ein paar Pfennig für mich?“ Dadurch hatte ich immer bissl Geld. Und mit dem Geld bin ich zu den Fleischhackern gegangen und habe Anschnitte um zehn Pfennig, einen halben Kilo, gekauft, das entspricht 20 bis 25 Deka reine Wurst. Mit dem Mädchen habe ich alles geteilt.
Sie hat mir nie verraten, wie sie geheißen hat. Sie sagte: „Das sag ich dir nicht, weil wenn dich die Gestapo erwischt, dann kannst du mich nicht verraten.“ Sie und ich gingen gemeinsam zum Naschmarkt, die Großhändler schickten uns zum Matzleinsdorfer Frachtenhof. Wir haben Kraut und Kohl verladen und haben auch immer etwas mitbekommen. Das Gemüse habe ich immer zu meiner Mutter gebracht. Sie hat es verkocht, und wir haben es gegessen. Sie hatte ja auch nix zum Fressen. Das Madl war immer wieder dabei.
Dieses Miteinander und wie wir zusammengehalten haben – das war einmalig. Nach dem Krieg habe ich sie gesucht, aber nie gefunden.
Später bin ich nach Ungarn geflohen, nachdem ich mich in Wien an einem Sabotageakt beteiligt hatte. Bei einem ebensolchen in Ungarn wurde ich schließlich verwundet, festgenommen und kam nach Auschwitz und schließlich nach Dachau.
Nach dem Krieg
Nach der Befreiung im Juni 1945 landete ich in München. Doch von dort ging es nicht weiter nach Wien, denn ich hatte keine Papiere. Die Amerikaner sagten: „Weil du keinen Entlassungsschein hast, musst du ins Stammlager Dachau.“ Ich bin also wieder zurück ins einstige KZ. Wie ich da hingekommen bin, weiß ich heute nicht mehr. Stücklweise gehen, stücklweise anhalten. Und dort konnten sie dann meine Dokumente finden. „Häftlingsnummer 108 707. Erich Richard Finsches, zugeführt aus Auschwitz.“ Die Amerikaner haben uns dort weiter aufgepäppelt. Drei Wochen blieb ich dort.
Dann nahm mich eine Gruppe von 83 Spanienkämpfern mit auf Erholung nach Vorarlberg. Ich war das einzige Kind. Der damalige Landeshauptmann Ulrich Ilg hatte uns eingeladen. Ich erinnere mich, wie wir an der amerikanischen Demarkationslinie in Lochau standen, da hing eine Werbung für Maggi. Derartige Bilder werde ich niemals vergessen.
Wir kamen ins Kloster Viktorsberg, ich war im vierten Stock und konnte von meinem Fenster in die Sakristei sehen. Die Schwestern haben uns normales Essen gegeben und uns gut behandelt. Irgendwann hat es geheißen: Für euch steht ein Rot-Kreuz-Zug bereit, ihr könnt nach Wien. Nach Jahren wieder.
Allein in Wien nach 1945
Als ich 1945 nach Wien kam, war niemand mehr da. Alle waren im KZ umgekommen. Ich hatte niemanden, der mir hätte helfen können. Am Körper trug ich eine Uniform von einem verwundeten SSler an, keine Socken und auch keine Unterwäsche. Dabei hatte ich noch einen Löffel aus dem KZ, den hatte ich angeschliffen und verwendete ihn auch als Messer. Ansonsten besaß ich nichts. In der Wohnung meiner Eltern war die Frau des SSlers, mittlerweile verwitwet. Sie wollte mich nicht hineinlassen. Schließlich hat mich die Gemeinde Wien in die Wohnung eingewiesen – „Kabinett und Küchenbenutzung“. Ich wohnte mit der Frau in einer Art Wohngemeinschaft für circa drei Monate. Dann haben sie die Franzosen hinausgeschmissen. Wien war damals noch sehr zerbombt, aber viel Schutt wurde schon weggeräumt, und auch manche Tramway ist wieder gefahren. Nur die Leute hatten nix zum Fressen.
Die jüdische Gemeinde schickte mich zu einem Magazin auf der Praterstraße. Dort waren Sachen von Menschen, die deportiert worden waren. Ich nahm ein Spitalsbett ohne Matratze, einen schmalen Kasten, Küchenrat, Häferl, ich hatte aber keine Suppenteller. Ich erhielt noch einen Bezugsschein für einen Hubertusmantel, den bekam ich bei einem Schneider nahe der Lobkowitzbrücke bei der Schönbrunner Straße. Ich hatte immer noch nur die Uniform des SSlers.
Die schlimmste Not dauerte rund ein Jahr. Dann ging es leicht aufwärts. Aber ich hatte viele gesundheitliche Probleme, war verwundet aus dem Krieg, hatte epileptische Anfälle. Doch niemand half mir. Die Direktive war: Du bist jung, geh arbeiten. Jahre später bekam ich eine Entschädigung von 431 Schilling pro Hafttag – und vor 20 Jahren wieder etwas. Aber das Geld hätte ich vorher gebraucht. Genauso wie eine ordentliche medizinische Versorgung und Hilfe. Das System Österreich ist die größte Schmähführerei. Große Goschn, nix dahinter.
1950, da hatte ich schon zwei Kinder, ging ich nach Israel. Ich machte auf dem Dreirad Ausfahrten, doch ich hatte keine Wohnung und wohnte im Zelt. Meine Frau und Kinder konnte ich nicht nachholen und ging wieder zurück. Die Jugendwohlfahrt hat uns die Kinder weggenommen, weil wir zu wenig Geld hatten. Sie schickten meine damalige Lebensgefährtin arbeiten. Es war das größte Verbrechen. Sie haben unsere Familie auseinandergerissen. Wir hätten Hilfe gebraucht, und die haben wir nicht bekommen.
Ich wache oft schweißgebadet auf. Ich zittere und schreie in der Nacht. Manchmal kommt mir mein Leben wie ein Film vor. Woran ich leide, ist unbehandelbar. Die Ärzte sagen, man kann es nur mit dem Schmäh nehmen. Ich will leben. Und ich will leben, so lange es geht.