Erlösung: Ex-Mitglied Daniel Schwarz möchte die staatliche Anerkennung der Zeugen fallen sehen.

Zeugen Jehovas: Aussteiger üben heftige Kritik

Aussteiger üben heftige Kritik an den Praktiken der Zeugen Jehovas. Sie wollen deren staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft kippen.

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Früher trottete Sarah Schwarz pflichtbewusst von Tür zu Tür, um neue Mitglieder zu rekrutieren. Sie kann sich noch gut an die Abneigung in den Gesichtern der Menschen erinnern. "Ich wollte das eigentlich nicht machen, es war immer ein innerer Zwang", erzählt sie. Die 25-Jährige war Zeugin Jehovas, fast ihr ganzes bisheriges Leben lang.

Schwarz sitzt auf der Couch ihrer kleinen Wohnung im niederösterreichischen Wilhelmsburg und blickt auf eine Zeit voller Entbehrungen zurück. Kein Sex vor der Ehe, keine Zigaretten, kein übermäßiger Alkoholkonsum. Keine Filme, Bücher und Videospiele, in denen Zauberei oder Gewalt vorkommen. Keinerlei Teilnahme am politischen Geschehen. Und vor allem: keine Freundschaften außerhalb der Zeugen Jehovas.

Im August des Vorjahres sagte sich Sarah Schwarz endlich von der erzkonservativen Organisation los, gemeinsam mit ihrem Mann Daniel. "Ich gehe jetzt nicht mehr jeden Tag mit dem schlechten Gewissen ins Bett, dass Gott enttäuscht ist, weil ich wieder einmal nicht gebetet oder in der Bibel gelesen habe", sagt die junge Frau. Die Abkehr von den Zeugen Jehovas brachte Schwarz bisher ungekannte Freiheiten: Bei der Bundespräsidentenwahl setzte sie zum ersten Mal einen Schritt in ein Wahllokal, Wochen später feierte sie ihr erstes Weihnachts- und im Jänner das erste Geburtstagsfest. "Bist du dir wirklich sicher, dass du die Zeugen Jehovas verlassen willst?", fragte ein enger Verwandter sie im August per SMS. Der Mann ist nach wie vor Zeuge. Auf die Antwort von Schwarz erwiderte er nichts mehr. Seither gibt es keinen Kontakt - obwohl er nur ein paar Straßen weiter wohnt. Auch andere Verwandte, die noch bei den Zeugen sind, meiden sie. Die familiäre Ächtung ist nur konsequent: Zeugen Jehovas "können ihre grundsatztreue Liebe zum Ausdruck bringen, indem sie sich weder mit dem Ausgeschlossenen unterhalten noch mit ihm Umgang haben", war in der "Wachtturm"-Ausgabe vom April 2015 zu lesen.

Unbedingte Loyalität gefordert

Die Zeitschrift der Religionsgruppe vermittelt den Gläubigen die richtige Auslegung der Bibel. In der Praxis heißt das: unbedingte Loyalität gegenüber der Gemeinschaft, im Extremfall auch zulasten der engsten Verwandten. Wie viele Aussteiger musste sich das Ehepaar Schwarz mühsam aus der sozialen Isolation herauskämpfen und einen neuen Freundeskreis aufbauen.

Wegen menschenverachtender Praktiken wie dieser sind die Zeugen Jehovas umstritten. Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet, ist die bibeltreue Bewegung inzwischen weltweit aktiv. Die christliche Organisation zählt in Österreich gut 21.000 Mitglieder und ist seit 2009 anerkannte Religionsgesellschaft. Geht es nach Sarah und Daniel Schwarz, soll sich das ändern. Denn die Gemeinschaft lehnt nicht nur Bluttransfusionen kategorisch ab und verfährt äußerst rigoros mit Ex-Gläubigen, sie hält ihre Mitglieder indirekt auch dazu an, demokratischen Wahlen fernzubleiben.

Gerade dieser Punkt birgt Brisanz: Das Gesetz für Religionsgemeinschaften schreibt ausdrücklich eine "positive Grundeinstellung gegenüber Gesellschaft und Staat" vor. Wer Wahlen ablehnt, riskiert die Aufhebung des Anerkennungsstatus und damit den Verlust zahlreicher Rechte -von der Grundsteuerbefreiung bis zu konfessionellen Religionslehrern.

Zwei Mal die Woche besuchten Sarah und Daniel Schwarz Bibelkurs und Predigt im Königreichssaal in der Kleinstadt Traisen in Niederösterreich. Dort lernten sie die ausgeprägte Gottesfürchtigkeit der Zeugen Jehovas und deren eigenwillige Auslegung der Bibel kennen: Die Gemeinschaft glaubt an die Apokalypse, an die endzeitliche Schlacht bei Harmagedon. Jesus, so die Erwartung, wird in naher Zukunft eine Engelsarmee befehligen und die irdische Herrschaft Satans auslöschen - und mit ihr alle, die gegen Gott sind. Wer nicht vernichtet werden will, fügt sich Gottes Wort, also den Zeugen Jehovas.

Nach gängiger Lehrmeinung gilt der Krieg auch allen weltlichen Regierungen. "Die Zeugen Jehovas erwarten eine Gottesherrschaft. Das bedingt natürlich eine gewisse Distanz zu säkularen Staaten", erklärt Religionswissenschafter Gerald Hödl, der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien lehrt. Zwar sind Zeugen Jehovas laut ihrem Selbstverständnis gute Bürger, die ihre Steuern zahlen und die Obrigkeit achten. Die Distanz zum Staat ist dennoch offenkundig: "Ich kenne keinen aktiven Zeugen Jehovas, der je zur Wahl gegangen wäre - und wenn, hätte er sich nie getraut, das offen zuzugeben", sagt Aussteiger Daniel Schwarz. Offiziell wird die Wahlverweigerung subtil formuliert: "Wahre Christen respektieren, dass andere von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Sie unternehmen nichts gegen Wahlen und halten sich an das, was die gewählte Volksvertretung entscheidet. Sie selbst bleiben jedoch in politischen Angelegenheiten streng neutral", steht in der Online-Bibliothek der Zeugen Jehovas.

Gebot politischer Abstinenz

Ihre politische Untätigkeit leiten die Zeugen aus dem Johannesevangelium ab. Jesus sagt dort: "Sie (seine Anhänger, Anm.) sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin." Die Schlussfolgerung der Zeugen: Politik und Wahlen sind irdisch, Zeugen Jehovas haben sich nicht dafür zu interessieren. In der Ausgabe vom November 1999 wurde der "Wachtturm" noch deutlicher: "Diejenigen, die jemand in ein Amt wählen, können dafür verantwortlich gemacht werden, was er tut." Gegenüber profil rechtfertigt die Pressestelle der Zeugen Jehovas das Gebot politischer Abstinenz einigermaßen kryptisch: Es entspreche "dem Wesen moderner Demokratien, die Freiheit, wählen zu gehen oder nicht, zu respektieren". Mehrere Aussteiger erklären übereinstimmend, wie diese Haltung im geschlossenen Kreis argumentiert wird: "Man hat uns gesagt, weil wir bereits Gottes Königsreich gewählt haben, brauchen wir nicht wählen gehen."

Im sogenannten "Ältestetenbuch" der Zeugen Jehovas, einer 142 Seiten umfassenden Handlungsanleitung für die Leiter von Jehovas-Gemeinden, wird unmissverständlich klargestellt: "Wer sich einer nicht neutralen Organisation anschließt, hat die Gemeinschaft (der Zeugen Jehovas, Anm.) zu verlassen." Engagement in Parteien und NGOs wird nicht geduldet. Andererseits hat "die Distanz zum Staat nicht nur eine negative Seite", sagt Religionswissenschafter Hödl: "Die Zeugen Jehovas sind geschlossen dem Nationalsozialismus entgegengetreten." René Peknic, 52, sitzt am Esstisch seines Einfamilienhauses in Tiefenthal nahe Wien. "Es ist mir wie Schuppen von den Augen gefallen", erinnert er sich an jenen Tag, der sein Leben verändern sollte. Es war im Dezember 2012, nach 33 Jahren bei den Zeugen Jehovas. Seine Bankbetreuerin erzählte ihm, sie mache sich selbstständig und werde in Zukunft Hygieneartikel über Direktvertrieb an Bekannte verkaufen. Das Geschäftsmodell der Bankangestellten erinnerte Peknic frappant an die Praktiken der Zeugen Jehovas. Er begann zu zweifeln und tat etwas, was innerhalb der Glaubensgemeinschaft höchst verpönt ist: Er recherchierte kritische Standpunkte im Internet und las das Buch eines hochrangigen Aussteigers. "Ich habe mein Leben einem Konzern mit religiösem Mantel geopfert", sagt er heute.

"Konzern" mit Sitz in New York

Der Begriff "Konzern" ist durchaus angebracht. Hinter den Zeugen Jehovas steht die amerikanische "Wachtturm"-Gesellschaft mit Sitz in New York, die sich über Spenden ihrer Mitglieder finanziert - und durch Immobilienerlöse. Derzeit verlegt die Gemeinschaft ihren Standort von Brooklyn aufs Land. Das alte Grundstück in einem angesagten Stadtteil New Yorks soll verkauft werden - kolportierter Wert: eine Milliarde Dollar. Das neue Zentrum wird von freiwilligen Helfern aufgebaut.

Peknic, der immer nur Teilzeit arbeitete, um genug Zeit für die Religionsgemeinschaft zu haben, betrachtete seinen Brotberuf stets als zweitrangig: Wer glaubt, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht, kann sich solche Anstrengungen ersparen. In den 33 Jahren bei den Zeugen brachte es Peknic bis zur Funktion des Ältesten seiner Gemeinde.

Auch er nahm in all den Jahren nie an einer demokratischen Wahl teil. "Die Zeugen Jehovas formulieren das sehr geschickt und sagen: 'Wir sind neutral.' Das zeigt nur die Janusköpfigkeit dieser Organisation."

Peknic und die Familie Schwarz sind nicht die ersten Aussteiger, die ihr Schweigen brechen. Die Zeugen Jehovas haben für solche Fälle eine Standard-Argumentation parat: "Sogenannten Aussteigern" könne "ein objektiver Aussagegehalt in der Regel nicht zuerkannt werden". Denn ehemalige Zeugen kompensierten ihr "individuelles Versagen und persönliche Probleme" dadurch, "dass der ehemaligen Religionsgemeinschaft die Schuld dafür gegeben wird", so ein Sprecher der Gemeinschaft gegenüber profil.

Persönliche Probleme hat Daniel Schwarz keine mehr. Er mag seinen Job, genießt die neuen Freiheiten mit seiner Frau Sarah und will demnächst in eine größere Wohnung ziehen. "Ich blicke jetzt wieder positiv in die Zukunft." Das genügt ihm aber nicht: Er will die staatliche Anerkennung der Zeugen Jehovas fallen sehen. Kurz vor Weihnachten schrieb er ein Mail an das zuständige Kultusamt. Er listete seine persönlichen Erlebnisse mit der Religionsgemeinschaft auf und hofft, dass er bald angehört wird.

Kein leichtes Unterfangen: Die Zeugen Jehovas kämpften seit den 1970er-Jahren um ihre offizielle Anerkennung in Österreich und zogen bis zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, der ihnen 2008 schließlich Recht gab.

Daniel Schwarz erzählt von seinem Rausschmiss bei den Zeugen Jehovas. Er löcherte die Ältesteten seiner Gemeinde mit kritischen Fragen, bis es ihnen zu bunt wurde: Sie luden den Zweifler vor ein konfessionelles Rechtskomitee. Dort wurde Daniel Schwarz drei Stunden lang von drei Ältesteten verhört. Am Ende sollen sie gesagt haben: "Wir betrachten dich nicht als Abtrünnigen. Du bist ein verlorener Sohn für uns. Wir müssen dich ausschließen, damit du die anderen nicht mit deinem vergifteten Geist infizierst." Im biblischen Gleichnis kehrt der verlorene Sohn zurück. Im Fall von Schwarz darf das getrost bezweifelt werden.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 8 vom 20.2.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.