Zonenschutz: Österreichs soziale Biotope und ihre Bewohner
Josef Moser, Präsident des österreichischen Rechnungshofes (RH), kann von Berufs wegen fast ausschließlich schlechte Nachrichten überbringen. Das tut er allerdings mit einer solchen Passion, dass sich sein Publikum trotzdem blendend unterhält. Wenn Moser Statistiken auspackt oder in seinem furchterregend gut sortierten Zahlengedächtnis kramt, legt sich wohliges Gruseln über das Auditorium. Gleich wird es richtig weh tun; das ist so sicher wie im Horrorfilm, wenn plötzlich die Musik aussetzt.
"Effizienzlöcher schließen"
In der Vorwoche gastierte Moser beim "Business Breakfast einer Wiener PR-Agentur und tags darauf bei einer Tagung der Vereinigung der Finanzakademiker. Der RH-Präsident enttäuschte seine Fans keineswegs. Er hatte ein paar hübsche Details parat: 84 Prozent der zusätzlichen Budget-ausgaben bis 2018 werden von den Pensionszuschüssen verschlungen. 77 Prozent der vor zwei Jahren in Pension gegangenen Lehrer in Öberösterreich nützten die Hacklerregelung. Ärzte im Wiener Allgemeinen Krankenhaus leisten in der Nacht nur Journaldienst und operieren bloß in Notfällen, während die OP-Gehilfen regulär Dienst schieben. Der Effekt: Die Gehilfen kommen - weil wenig operiert wird - auf eine Auslastung von nur 17 bis 54 Prozent. "Wir müssen endlich die Effizienzlöcher schließen, erklärte Moser. "Sonst werden die Schulden immer höher.
Man kann Josef Mosers missionarische Energie nur bewundern. Viele andere hätten längst resigniert. Der Rechnungshof prangert die Versäumnisse der heimischen Politik nämlich schon seit Jahren an. Eine Liste mit 599 Vorschlägen, wie sich das Land billiger und effizienter organisieren ließe, liegt seit 2011 vor. Umgesetzt wurde davon kaum etwas - obwohl es offensichtlich nötig wäre: Vor Kurzem erfuhren die staunenden Bürger, dass die Unterrichtsministerin nicht weiß, womit sie die Mieten für heimische Schulgebäude bezahlen soll. Und die EU-Kommission erteilte Österreich in der vergangenen Woche eine Rüge, weil das Defizit 2015 erheblich über dem ursprünglichen Plan liegen wird.
Das ersessene Privileg
Der Reformstau österreichischer Prägung ist teuer und frustrierend. Noch schwerer wiegt aber, dass er auch zu herben Ungerechtigkeiten führt. Um den sozialen Ausgleich geht es den Bewahrern des Status quo nämlich so gut wie nie. Am meisten profitiert vom System, wer auf angeblich wohlerworbene Rechte pochen kann und eine starke Interessensvertretung hinter sich weiß. Dann zählt das ersessene Privileg jederzeit mehr als der tatsächliche Bedarf.
Das war im Prinzip schon immer so, wird für den nicht privilegierten Teil der Bürger aber immer ärgerlicher. In Zeiten knapper Kassen müssen sie sich einschränken, während ein paar Glückliche nach wie vor aus dem Vollen schöpfen. Das wohlerworbene Recht der einen ist das Sparpaket der anderen.
Erst unlängst stellte sich beispielsweise heraus, dass Beamte geschlagene 21 Jahre mehr Zeit bekommen, sich auf allfällige Verschlechterungen durch das neu geschaffene Pensionskonto einzustellen als Beschäftigte in der Privatwirtschaft. Im ASVG gilt das Pensionskonto schon für die Jahrgänge nach 1955, im Beamtenrecht erst ab 1976. Warum das so ist? Weil einige Staatsdiener durch eine frühere Umstellung große Verluste erlitten hätten, hieß es aus dem zuständigen Ministerium. Unter Umständen hätte der Verfassungsgerichtshof dies als Bruch des Vertrauensschutzes werten und somit kippen können. Noch mehr Fürsorge als die Kollegen im Bund genießen Landesbeamte. Nur in drei Bundesländern wurde die Reform des Bundes im Wesentlichen übernommen. Den übrigen sechs erschien das allzu blutrünstig; dort bleibt entweder alles beim Alten, oder die Neuerungen treten noch später in Kraft.
"VGH respektiert Gestaltungsfreiheit der Politik"
Der Verfassungsrechtler Heinz Mayer hält den Hinweis auf den Vertrauensschutz in den meisten Fällen für eine Ausrede der Politik. "Es gibt keinen Anspruch darauf, dass eine bestimmte Rechtslage aufrecht bleibt. Der Gesetzgeber dürfe nur nicht einseitig lediglich bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe eingreifen. "Wenn es einen sachlichen Grund gibt, kann man sogar bestehende Pensionen kürzen, sagt er. Sein Kollege Bernd-Christian Funk sieht das genauso. "Der Verfassungsgerichtshof hat durch seine Judikatur bewiesen, dass er die Gestaltungsfreiheit der Politik respektiert.
Nach Ansicht einiger Experten wäre es ganz und gar unnötig gewesen, die jüngst (nach massivem öffentlichen Druck) beschlossenen Eingriffe in diverse Luxuspensionen mit einem Verfassungsgesetz abzusichern. Dass etwa der ehemalige Nationalbankpräsident Adolf Wala jetzt nur noch 26.088 Euro statt bisher 31.950 pro Monat bekommt, hätte der VfGh mit einiger Sicherheit eingesehen, glauben Juristen.
Wie absurd es in den heimischen Sonderwirtschaftszonen zugeht, zeigen ein paar Beispiele:
Nach quälend langen Verhandlungen wurde im Dezember 2013 endlich ein neues Dienstrecht für Lehrer beschlossen. Es gilt aber natürlich nicht für bereits tätige Pädagogen und auch nicht für jene, die jetzt in den Beruf einstiegen. Mit der Tortur von zwei Wochenstunden mehr Lehrverpflichtung (bei höheren Anfangsgehältern) muss sich erst herumschlagen, wer im Schuljahr 2019/20 den Dienst aufnimmt.
Die einst von Schwarz-Blau eingeführte Hacklerpension erwies sich sehr bald als Fehlkonstruktion. Anstelle von Bauarbeitern, Putzfrauen und anderen Geknechteten nützten hauptsächlich Beamte und Angestellte dieses komfortable Wurmloch in die Frühpension. Dennoch verteidigte Sozialminister Rudolf Hundstorfer die Hacklerpension lange Zeit, als ginge es um die Erhaltung der letzten Trutzburg gegen den einsickernden Neoliberalismus. Erst seit Anfang 2014 sind nennenswerte Verschärfungen in Kraft.
Österreichs Landwirte mögen dieses Jahr unter dem schlechten Wetter leiden, über die Behandlung durch die Regierung können sie sich nicht beklagen. Was auch immer bei diversen Sparpaketen der vergangenen Jahre beschlossen wurde: Die Bauern blieben verschont, ihre Förderungen sprudeln wie eh und je. Dazu kommt ein für die Landwirte äußerst erfreuliches Steuersystem. Die meisten sind pauschaliert - und zwar auf der Basis von seit Menschengedenken nicht mehr angehobenen Einheitswerten. Der heimische Durchschnitts-Agrarier zahlt im Jahr nur ein paar hundert Euro Einkommenssteuer. Vom Traktor aus lässt sich die Debatte um die kalte Progression ganz entspannt mitverfolgen.
Ob man in Österreich viel oder wenig für eine gemietete Wohnung zahlt, hängt nur sehr am Rande von den finanziellen Möglichkeiten ab. Über 20 Jahre alte Mietverträge sind mitunter extrem günstig, erst jetzt abgeschlossene sehr teuer. Auch im geförderten Wohnbau gibt es diese Mehrklassengesellschaft. Justizminister Wolfgang Brandstetter möchte das Mietrechtsgesetz gerne ändern, ist aber vorerst gescheitert, weil er - wie sich das hierzulande gehört - die Verhandlungen den Sozialpartnern überließ (profil 43/2014). Arbeiterkammer und Mieterschützer verteidigen unsinnig billige Altverträge, die Vertreter der Hauseigentümer wollen keinen einzigen jemals erkämpften Zuschlag aufgeben. Auf der Strecke bleiben all jene, die so dumm sind, sich erst jetzt eine Wohnung zu suchen.
Eine Gesellschaft muss zwangsläufig erstarren, wenn es nur noch darum geht, einmal Erbeutetes für alle Zeiten zu behalten. Und tatsächlich ist es in Österreich ziemlich schwierig geworden, sich etwas aufzubauen. Wer schon alles hat, wird von der Politik und den Sozialpartnern beschützt. Wer neu anfangen will oder muss, darf sich hinten anstellen. Außerhalb der geschützten Biotope ist das Leben auf eine Art ungemütlich geworden, die sich Beamtengewerkschafter und Kammerfunktionäre nicht einmal vorstellen können. Die Arbeitslosenrate steigt, die Reallöhne sinken, die Inflation ist etwa drei Mal so hoch wie im Schnitt der Eurozone - und die Abgabenquote auf Rekordhoch.
Statt Privilegien zu verringern, lässt sich die Politik immer neue einfallen. Im vergangenen Frühling wurde etwa die Reisegebührenvorschrift für Magistratsbedienstete in Wien geändert. Beamte in der Hauptstadt bekommen seither - rückwirkend bis Jahresanfang - ein höheres Kilome-tergeld als alle anderen Autofahrer im Land. Begründung: Die Ausweitung der Parkpickerlzonen "stellt bei Dienstreisen innerhalb der Stadt Wien eine sehr hohe Kostenbelastung für die Bediensteten dar.
Nach nunmehr zehnmonatiger Gültigkeit handelt es sich somit um ein wohlerworbenes Recht, das sich vermutlich nie mehr abschaffen lässt.