Zugunfall in der Steiermark: Wurde zu Lasten der Sicherheit gespart?
Die junge Frau, die in Waldstein zustieg, die 60-Jährige aus Übelbach und einige weitere Passagiere, die am 6. Mai 2015 gegen 10 Uhr die Schnellbahn zwischen Peggau-Deutschfeistritz und Übelbach nahmen, sie alle verließen sich darauf, dass die Eisenbahn ein sicheres Verkehrsmittel ist. 800 Menschen pendeln täglich auf dieser Regionalstrecke der Steiermärkischen Landesbahnen.
Die Lokführer fühlten sich nicht ganz so sicher, einigen von ihnen war die Kreuzung Waldstein unheimlich. Manch einer hatte hier schon aufs Stehenbleiben vergessen und Riesenglück gehabt. Am 6. Mai erwischte es Michael R. Laut Ermittlungen telefonierte der 21-jährige Lokführer mit der Dispositionsstelle in Graz. Vielleicht war er abgelenkt. Jedenfalls vergaß er, vor der Trapeztafel zu halten. Er ließ eine Frau zusteigen, dann fuhr er los, ohne den entgegenkommenden Zug abzuwarten.
Zwei Tote, sieben Verletzte
Der Steirer war diese Strecke oft gefahren. Diese Fahrt ist seine letzte. Um 10.12 Uhr prallt seine Lok mit der Schnellbahn zusammen, die nach Übelbach unterwegs ist. Zehn Menschen befinden sich in den Zügen. Die Führerhäuser verkeilen sich ineinander. R. steckt in den Trümmern fest. Feuerwehren, Notärzte, Hubschrauber und Polizeiautos rasen zum Unglücksort neben der Phyrnautobahn. Als sie den jungen Lokführer befreit haben, atmet er nicht mehr. Sein Kollege im Gegenzug, Markus V., 46, überlebt schwer verletzt. Eine 60-jährige Frau aus Übelbach wird an Kopf und Brust getroffen und stirbt Tage später. Sieben weitere Passagiere tragen Blessuren und Brüche davon.
Der Chef der Steiermärkischen Landesbahnen, Helmut Wittmann, sagte noch am Unfallort zu Journalisten, der Lokführer habe einen Fehler gemacht. Doch die Causa, die im Auftrag der Staatsanwaltschaft Graz ermittelt wird, könnte für Wittmann beunruhigender ausgehen. Mitarbeiter erzählten den Kriminalbeamten, dass es auf der Regionalstrecke schon lange Probleme mit der Sicherheit gäbe, ihre Bedenken seien aber ignoriert worden. Wittmann weist im profil-Gespräch alle Vorwürfe zurück: Man habe in den vergangenen Jahren Millionen in die Hand genommen, so sei etwa die Strecke zwischen Gleisdorf und Weiz um "viel Geld“ nachgerüstet worden.
Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft jdoch auch ihn, seinen Betriebsleiter und das Unternehmen im Visier. Die Steiermärkischen Landesbahnen gehören dem Land. Die steirische SPÖ-Landtagsabgeordnete Helga Ahrer hatte eine Anzeige wegen fahrlässiger Gemeingefährdung nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz eingebracht. Darin geht es um Fragen, die von der Justiz nicht oft gestellt werden. Meist findet sich nach Eisenbahn-Unfällen ein Fahrdienstleiter, ein Lokführer, der etwas falsch gemacht hat. In den Ebenen darüber wird kaum nachgebohrt: Haben die Verantwortlichen es unterlassen, die Sicherheit auf den Schienen ständig zu verbessern, wie es das Eisenbahngesetz zwingend vorschreibt? Wurden Warnungen ignoriert, Beinahe-Unfälle ad acta gelegt, Systemfehler nicht abgestellt?
Ich bin komplett desillusioniert. Die Unternehmen wissen, dass sie nicht verfolgt werden. (Edwin Mächler, Studienautor)
Das Verbandsverantwortlichkeitsgesetz trat 2006 in Kraft und setzte einen justizpolitischen, aber durchaus umstrittenen Meilenstein: Erstmals können nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmen strafrechtlich belangt werden. Misst man seine Wirkung an den Verurteilungen, ist das Paragrafenwerk praktisch totes Recht. Bei Vermögensdelikten kommt es manchmal zur Anwendung. So wird etwa derzeit gegen die Kärntner FPÖ wegen des Verdachts illgaler Parteienfinanzierung ermittelt. "Im Bereich der Eisenbahn-Unfälle gibt es keine einzige Verurteilung“, sagt Rechtsanwalt Edwin Mächler. Vor Kurzem stellte Mächler eine 270-seitige Studie vor, die er im Auftrag der Arbeiterkammer verfasst hat. Sein Fazit hat eine bittere Note: "Ich habe zahlreiche Unfallakten mit vielen Toten und Verletzten behandelt und habe gehofft, dass es mit dem Gesetz weniger werden. Aber ich bin komplett desillusioniert. Die Unternehmen wissen, dass sie nicht verfolgt werden.“
Wer haftet für schlechte Ausbildung, für die Beschäftigung von Leiharbeitern, die Anweisungen nicht verstehen, für mangelhafte technische Kontrollen? Im Oktober 2009 fuhr am Matzleinsdorferplatz in Wien eine Schnellbahn in ein mit Schotter beladenes Baustellenfahrzeug. Zwei Menschen wurden schwer verletzt. Ein ÖBB-Mitarbeiter hatte bei einer Baustelle einen Kontakt falsch befestigt, der vor dem Zusammenprall warnen sollte. Angeklagt wurde zunächst nur der schlampige Monteur. Doch die Causa war in die Hände eines beflissenen Staatsanwalts gefallen, der sich auch dafür interessierte, warum bei so einer heiklen Montage nicht noch einmal nachgeprüft wird. Das Verfahren endete mit einer Diversion. Die ÖBB zahlten eine empfindliche Buße in sechsstelliger Höhe und beeilten sich, die Sicherheitsvorkehrungen auf Baustellen zu verbessern. Zum ersten und bisher einzigen Mal war bei einem Eisenbahnunfall nach der Verantwortung des Unternehmens überhaupt gefragt worden.
"Das Gesetz wirkt auch über die Bande“, konstatiert der Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl, der 2011 an einer Evaluierungsstudie mitgeschrieben hat. Der Öffentlichkeit war das Paragrafenwerk mit dem spröden Titel als Antwort auf das Seilbahnunglück von Kaprun verkauft worden. Der Richter hatte damals bemerkt, dass sich nur Menschen schuldig machen könnten, nicht Firmen. Die Betreiber der Gletscherbahn waren ohne Strafe davongekommen. Das sollte sich ändern.
In der Praxis klebt an dem Gesetz allerdings die Beweisnot. Die Unternehmen betrauen renommierte Kanzleien, um zu belegen, dass sie sämtliche Aufsichts- und Unterweisungspflichten, organisatorischen und technischen Voraussetzungen erfüllt haben und schlicht nichts dafür können, wenn Mitarbeiter versagen. Das bläht Verfahren zu enormer Komplexität auf. Unterbesetzte Staatsanwaltschaften scheuen die Verbandsverantwortung deshalb wie der Teufel das Weihwasser.
Sparen zu Lasten der Sicherheit?
Auch im aktuellen Fall läuft es auf die Frage hinaus, ob die Steiermärkischen Landesbahnen alles unternommen haben, um ihre Lokführer unfallfrei durch das Arbeitsjahr zu bringen oder ob das Versagen des Lokführers R. systembedingt ist, sprich, ob zu Lasten der Sicherheit gespart wurde. Zweieinhalb Monate nach dem Unfall wurden an der Haltestelle Waldstein starke Elektromagneten verlegt, die Züge künftig zum Stehen bringen, wenn sie die vom Fahrdienstleiter vorgegebene rote Linie überfahren. Die Investition schlug mit 30.000 Euro zu Buche.
In der Diktion des STLB-Geschäftsführers wurde die Kreuzung in Waldstein damit "noch sicherer . Doch Sicherheit ist ein relativer Begriff. Auf den Gleisen der Steiermärkischen Landesbahnen ist auch vorher viel passiert, nur hat die Öffentlichkeit davon nichts erfahren. Erst im August 2014, zehn Monate vor dem Unfall, hatte es an genau derselben Stelle schon fast gekracht. Der Lokführer habe den Vorfall, so Wittmann, dem Fahrdienstleiter gemeldet, und dieser habe ihn informiert. Daraufhin sei der Lokführer vom Betriebsleiter ins Gebet genommen worden. Es handelte sich übrigens um Michael R. "Der Vorfall war für ihn ein Schock. Er hat versprochen, sich in Zukunft besser zu konzentrieren“, sagt Wittmann. Technische Vorkehrungen habe man nicht für nötig befunden: "Die Strecke, von der wir reden, ist zehn Kilometer lang, eingleisig, elektrifziert, in der Mitte gibt es die Ausweiche in Waldstein. Dafür braucht man keine besonderen Merkfähigkeiten.“
Was Wittmann "ganz einfache Verhältnisse“ nennt, nennen Arbeitsschutzexperten Monotonie mit winzigen Nuancen, eine der größten Gefahren im Schienenverkehr. Anders als Lkw-Lenker können Lokführer, die 100 Tonnen mit hoher Geschwindigkeit hinter sich herziehen, nicht auf Sicht fahren. Sie sind bloß für das Gasgeben und das Bremsen zuständig, das Lenken übernimmt der Fahrdienstleiter, indem er Signale freigibt und Haltelinien zieht. Wann die Triebfahrzeugführer auf der Strecke zwischen Deutschfeistritz-Peggau und Übelbach auf einen Gegenzug warten müssen, hängt vom Schichtplan ab und kann sich von Tag zu Tag ändern. Ihnen liegt nur ein Buchfahrplan vor, in dem die freigegebenen Strecken und die Stopps händisch eingezeichnet werden. Auf den Nebenstrecken der ÖBB ist längst GPS im Einsatz. An vorgegebenen Punkten müssen sich Lokführer mit einem Code melden. Vergessen sie darauf, schlägt das System Alarm.
Ihre Kollegen auf der Strecke der Steiermärkischen Landesbahnen haben nicht einmal Funk, sondern verständigen sich mit dem Fahrdienstleiter in Weiz über Mobiltelefon. Bis vor Kurzem gab es keinerlei zusätzliche technische Sicherungen. Das ist einfach, billig und per se auch nicht verboten. Doch aus der Sicht der Gewerkschaft ist es fehleranfällig, und das Eisenbahngesetz schreibt zwingend vor, dass gegen Risiken, die man kennt, vorzusorgen ist.
Lokführer R. bastelte sich angeblich sein eigenes Sicherheitssystem: So wie auch einige Kollegen soll er am Handy einen Alarm eingestellt haben, um den bevorstehenden Halt in Waldstein nicht zu vergessen. Warum diese Erinnerung am Unfalltag nicht funktionierte, ist unklar.
Warnungen im Vorfeld
Im Zuge der Ermittlungen kamen weitere Beinahe-Unfälle ans Licht, von denen Wittmann behauptet, diese seien ihm nie gemeldet worden. Den Kriminalbeamten erzählten Bahnmitarbeiter, mangelnde Sicherheit und die Kreuzung in Waldstein seien intern öfter ein Thema gewesen. Die Bahnleitung sei sogar explizit gewarnt worden, dass es an dieser Stelle "einmal zu einer Katastrophe kommt“. Allerdings sei für Investitionen, etwa ein GPS-System, kein Geld da gewesen.
Bei der Eisenbahnbehörde im Verkehrsministerium, die im Sommer 2013 die STLB-Konzession verlängerte, fühlt man sich nur für "grundsätzliche Genehmigungen für den Bau und Betrieb einer Eisenbahn“ zuständig, wie die Leiterin der Fachabteilung, Regina Roithner, erklärt. Das ist insofern überraschend, als der Konzessionsbescheid ausdrücklich festhält, dass die Voraussetzungen für einen sicheren Eisenbahnbetrieb erfüllt sind. Darüber hinaus wird das Sicherheitsmanagementsystem alle fünf Jahre von dem privaten Anbieter Quality Austria zertifiziert und jährlich überprüft. Auch hier erklärt man auf Anfrage, dass man sich mit Beinahe-Unfällen nicht befasse: "Das wäre die Aufgabe einer Behörde. Wir sind keine“, so Quality Austria-Manager Otto Kreiter. Die Frage, wen es eigentlich stört, wenn aus glimpflich ausgegangenen Schienenunfällen keine Lehren gezogen werden, bleibt unbeantwortet.
Es ist zehn Jahre her, dass ein Zusammenstoß auf einer beschaulichen Lokalbahn die Eisenbahner-Szene wachrüttelte. Am 2. Juli 2005 war ein Regionalzug der Pinzgaubahn von Bramberg abgefahren, ohne den Zug aus der Gegenrichtung abzuwarten. Rund 500 Meter später waren die Triebfahrzeuge ineinandergekracht. Auch damals starben ein Lokführer und ein Passagier, und so wie zwischen Deutschfeistritz und Übelbach war auch auf dieser Strecke ein antiquiertes Zugleitsystem im Einsatz. Nach dem Crash wertete eine Untersuchungsstelle des Bundes GPS-Daten und Bordbücher aus, inspizierte die havarierten Waggons, befragte Zeugen. In ihrem Abschlussbericht raten die Unfallexperten, auch auf Nebenstrecken technisch aufzurüsten. Einige hielten sich daran, etwa die Krimmlbahn oder die Zillertalbahn. Die STLB hingegen fuhren im veralteten Zugleitbetrieb weiter, obwohl zwischen Peggau und Übelbach vor einigen Jahren ein Schnellbahnverkehr eingeführt wurde.
Verschieber-Unglück im Jahr 2010
Am 9. November 2010 starb auf einem Anschlussgleis der STLB außerdem ein Verschieber. Der Mann hatte dem Lokführer bedeutet, dass er freie Bahn habe, das Triebfahrzeug schob die Garnitur über den Prellbock hinaus, durchstieß eine Lagerhalle der Magna Heavy Stamping in Albersdorf bei Graz und riss ein Regal mit Stahlkisten um. Der Verschieber wurde zerquetscht. Der Lokführer bekam wegen fahrlässiger Tötung eine bedingte Haftstrafe. Dem Richter war vielleicht nicht ganz wohl, dass der Mann die Verantwortung alleine schultern sollte, denn in seinem Urteil hielt er sinngemäß fest, der Lokführer sei über Fahrregeln und Verschubgeschwindigkeiten nicht ausreichend ins Bild gesetzt worden.
Schon damals war auch der STLB-Geschäftsführer im Visier der Staatsanwaltschaft. Allerdings nur kurz. Das Verkehrsarbeitsinspektorat hatte Wittmann angezeigt, weil er es unterlassen habe, Gefahren abzuwägen und die Arbeitnehmer ausreichend abzusichern und zu schulen. Fast ein Dutzend Verdachtspunkte waren zusammengekommen. Doch Wittmann entwand sich mit einem formalen Kniff: Er sei ein Angestellter des Landes, verantwortlich sei der Landeshauptmann. Die Causa wanderte bis zum Verwaltungsgerichtshof hinauf, wo die Frage, ob man den Geschäftsführer der steiermärkischen Landesbahnen überhaupt anzeigen kann, nun seit Jahren einer Erledigung harrt.
Die erwähnte Anzeige ist dennoch ein bemerkenswertes Stück Papier. Aus ihr geht nämlich hervor, dass bereits 2006 ein Verschieber auf derselben Anschlussbahn in eine brenzlige Lage geraten war. Damals war der Mann - zufällig jener, der vier Jahre später bei dem Arbeitsunfall starb - mit dem Schrecken davongekommen. Angeblich hatten bereits damals Mitarbeiter auf mehr Sicherheit gedrängt. Vielleicht hätte es geholfen, das Bahnmanagement rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Denn wie sich im Strafverfahren herausstellte, war ein Bescheid der Eisenbahnbehörde über Geschwindigkeitsbeschränkungen im Verschub von den STLB nicht sorgfältig umgesetzt wurden.
Zwischen 2007 und 2011 krachte es auf österreichischen Bahngleisen 452 Mal. 94 Tote und Hunderte Verletzte wurden gezählt. Vergleicht man diese Unfallbilanz auf dem nur 5568 Kilometer langen heimischen Schienennetz mit jener auf dem 124.000 Kilometer langen Straßennetz, "dann schaut die Eisenbahn nicht mehr so sicher aus“, sagt Studienautor Mächler. Er hat die Hoffnung noch nicht fahren lassen, dass ein wirksames Verbandsverantwortlichkeitsgesetz die Bilanz zugunsten der Schiene verändern könnte: "Man müsste es nur ernst nehmen und anwenden.“