Analyse: Warum die Regierung trotz sozialer Einschnitte kaum verliert
Seit Monatsbeginn schon 150 Euro verprasst? Mehr? Weniger? Die Hartinger-Klein-Challenge war der politische Sommerhit. Die FPÖ-Sozialministerin ist bekanntlich überzeugt davon, dass diese Summe monatlich zum Leben reicht, wenn die Wohnkosten gedeckt sind. Fünf Euro am Tag, in einem der reichsten und teuersten Länder der Welt! Früher hätte dieser Vorstoß für breiten Protest gesorgt. Doch wenn es nicht um „uns“, sondern um die „anderen“ geht, scheint der soziale Aderlass willkommen zu sein. Die „anderen“, das sind die Flüchtlinge und „Nicht-Österreicher, die noch nie ins System eingezahlt haben“. So sieht es zumindest Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Hartinger-Kleins „150er“ verteidigte er auf Facebook demonstrativ.
Sozialsystem und Fairness waren klassische Themen der Sozialdemokratie. Die Regierung hat sie gekapert, und die SPÖ hat keine Antwort darauf. (Meinungsforscher Peter Hajek)
Eine aktuelle profil-Umfrage von Unique research zeigt, wie groß der Rückhalt in der Bevölkerung für diesen Sozial-Limbo bei Fremden ist. 64 Prozent der Östereicher sind der Meinung, die Zuwanderung der vergangenen Jahre gefährde das Sozialsystem und den sozialen Frieden im Land. 63 Prozent sehen eine Schieflage im Sozialsystem und zeigen Verständnis, wenn Österreicher deswegen weniger einzahlen wollen. Und 68 Prozent sind überzeugt, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert. Ob die Zuwanderung oder vielmehr die politische Reaktion darauf die Solidarität schwächt, ist schwer zu beurteilen.
„Diese Stimmung war da, bevor sich die Regierung draufgesetzt hat“, sagt Meinungsforscher Peter Hajek, der die Umfrage für profil durchführte. „Sozialsystem und Fairness waren klassische Themen der Sozialdemokratie. Die Regierung hat sie gekapert, und die SPÖ hat keine Antwort darauf.“
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STOSSGEBETE: ANALYSE VON PETER HAJEK
Die SPÖ hofft inständig darauf, dass die Bundesregierung aufgrund von 12-Stunden-Arbeitstag oder Zusammenlegungen im Sozialversicherungsbereich an Zustimmung verliert. Nur, diesen Gefallen machen die Wähler der größten Oppositionspartei derzeit nicht. Zwar hat die FPÖ in den letzten Monaten etwas an Boden verloren, aber Nervosität sollte das bei den Blauen noch nicht auslösen. Die Menschen werden schon aufwachen, wenn sie die Auswirkungen der Regierungspolitik spüren, so die Linke im Land. Was aber, wenn die Wähler Schwarz-Blau genau für diese Art von Politik gewählt haben?
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Die Sozialdemokratie unter Christian Kern meidet das Thema Zuwanderung und will der Regierung stattdessen das Mäntelchen der sozialen Kälte umhängen. 12-Stunden-Tag, 150 Euro, weniger Mindestsicherung für Familien, Aus für Notstandshilfe: Anlässe gebe es genug. Nur zeigt sich in der aktuellen profil-Sonntagsfrage: Die Pläne schaden der Regierung weniger stark als von der SPÖ erhofft. Die ÖVP liegt unverändert bei 34 Prozent, die FPÖ sinkt in der Wählergunst um einen Prozentpunkt auf 23 Prozent, stürzt aber nicht ab, obwohl ihre Wähler sensibler auf Veränderungen reagieren. Die SPÖ verharrt bei 29 Prozent. Das ist passabel: Ihr Alleinstellungsmerkmal als Sozialpartei scheint aber vorerst dahin, weil Soziales und Zuwanderung seit 2015 untrennbar verknüpft sind – durch das Gefühl, dass die „anderen“ zu viel bekommen.
Die Kürzungen bei der Mindestsicherung treffen Zuwanderer zwar überproportional, aber nicht exklusiv. So drohen auch österreichische Mindestsicherungsbezieher ohne Pflichtschulabschluss in Richtung 150 Euro Taschengeld (exklusive Wohnkosten) abzurutschen, und einheimische Großfamilien kämen ebenfalls nicht ungeschoren davon – für die FPÖ ein Kollateralschaden, für die Wirtschaftspartei ÖVP ein beabsichtigtes Signal. Der Volkspartei war die Mindestsicherung in ihrer aktuellen Form immer schon zu sehr „Hängematte“.
„Die Regierung wurde für einen härteren Kurs gewählt. Solange der Einzelne keine massiven Einschränkungen erfährt, wird es wohl keine Einbußen in der Zustimmung geben“, sagt Hajek. Dennoch erstaunlich: Der Wunsch, dass „andere“ weniger bekommen, ist offenbar stärker als die Angst, selbst von Kürzungen betroffen zu sein.
Die Flüchtlingswelle erreichte vor drei Jahren ihren Höhepunkt. Die Zahl der Asylwerber ist seither massiv gesunken. Die Emotion wirkt aber noch taufrisch, wie der Rückenwind für die Regierungspläne zeigt. Der Migrationsforscher Paul Collier bietet in seinem Buch „Exodus“ eine Erklärung an. Eine „Schwächung der gegenseitigen Rücksichtnahme“ könne als Reaktion auf starke Zuwanderung „erst stark verzögert zutage treten“. Umso mehr Augenmerk müssten Politiker dieser Gefahr schenken – gerade Sozialdemokraten, die sich mit dem Thema Ausländer schwer tun. Denn: „Nur wenn Menschen eine starke, gemeinsame Identität haben, sind sie bereit, Steuern zur Umverteilung zu zahlen“, sagt Collier. Eine Erosion des Umverteilungswillen wäre für die Sozialdemokratie das Ende ihres Weges.
Die Identitätsfrage ist offen. Die Philosophin Isolde Charim sieht die heimische Gesellschaft massiv verändert: „Die schleichende und doch massive Veränderung der Gesellschaft über die vergangenen 30 Jahre ist uns erst jetzt bewusst geworden. Die Pluralisierung ist nicht abstrakt, jeder erfährt sie tagtäglich auf der Straße. Das gemeinsame Bild der Gesellschaft von sich selbst existiert nicht mehr.“ Die Reaktionen: Optimisten arbeiten an einem neuen Bild, Pessimisten versuchen verzweifelt, alte Bilder zu reanimieren.
Austropop-Legende Wolfgang Ambros vor Hunderttausenden Fans auf der Donauinsel oder in der Wiener Stadthalle – das weckte über Jahrzehnte patriotische Gefühle. Nun hat der erdige Liedermacher mit der FPÖ („und ihren vielen braunen Haufen“) in einem Interview brutal abgerechnet – aber auch mit der ÖVP. Einen Teil seiner Fans hat Ambros dadurch schwer verstimmt; für sie ist dieses alte Österreich-Bild zerbrochen. Rainhard Fendrich untersagte Blau-Wählern schon früher, ihre rot-weiß-roten Fahnen zu „I am from Austria“ zu schwenken.
Für andere wiederum ist Ambros nunmehr zur Ikone eines weltoffenen Österreichs avanciert. Sie sehen FPÖ-Wähler als nationalistische „Parallelgesellschaft“, mit der sie nichts zu tun haben wollen. Die Entfremdung dieser Tage wirkt mannigfaltig. Wie verändern diese Gräben den Sozialstaat? Er entstand in einer ethnisch, religiös und kulturell weitgehend homogenen Gesellschaft. Wäre er in einer damals schon pluralistischen Welt überhaupt so weit gediehen? In der Heterogenität von heute „steht der Wohlfahrtsstaat auf dem Prüfstand“, meint Hajek. Aber nicht automatisch auf dem Abstellgleis.
Rechtspopulistische Parteien wie die FPÖ beschwören zwar die Volksgemeinschaft – die moderne Gesellschaft war jedoch immer schon eine Ansammlung von Individuen. Vom direkten Wohlwollen einzelner Personen oder Gruppen hängen Menschen längst nicht mehr ab. Es sind die Institutionen, die das Gefüge zusammenhalten und Sozialleistungen neutral vergeben. Das wertete vor allem die Sozialdemokratie stets als große zivilisatorische Errungenschaft. Soziale Institutionen gründen allerdings auf der Vorstellung, mit Menschen solidarisch zu sein, die man nicht kennt – aber als Teil der Gesellschaft anerkennt.
Das Ankommen ist für Syrer, Afghanen oder Somalis der Jahre 2015 tendenziell schwerer als für Ungarn, Tschechen oder Polen der Fluchtjahre 1956, 1968 und 1980.
Für Collier ist die „Absorptionsrate“ der Zuwanderung entscheidend für ein gelingendes Gemeinwohl. Er versteht darunter das Maß, in dem Migranten in der einheimischen Bevölkerung aufgehen. Das Ankommen und Aufgehen ist für Syrer, Afghanen oder Somalis der Jahre 2015 tendenziell schwerer als für Ungarn, Tschechen oder Polen der Fluchtjahre 1956, 1968 und 1980. Für liberale Muslime aus Bosnien war es nach dem Fluchtjahr 1992 leichter, den österreichischen Way of Life zu übernehmen, als heute für konservative Muslime aus dem Nahen Osten. Dass selbst Türken, die ab den 1960er-Jahren nach Österreich einwanderten, wieder zunehmend als Parallelgesellschaft empfunden werden, hat den Glauben an die rasche Integration muslimischer Immigranten zusätzlich erschüttert.
Ein zentrales Reizthema im Ringen um Identität und Solidarität im Einwanderungsland Österreich bleibt das Kopftuch
„Der lineare Integrationsgedanke, wonach Zuwanderer nach einer gewissen Zeit automatisch Teil der Gesellschaft werden, trifft nicht immer zu“, sagt der kurdischstämmige Soziologe Kenan Güngör. Dafür gebe es zu viele „intervenierende Faktoren“. Der islamistisch-autoritäre Präsident der Türkei, Recep Erdoğan, der Austro-Türken an sich bindet und vor Assimilation warnt, zählt sicher dazu. Doch nichts sei in Stein gemeißelt, meint Güngör und erinnert an die einst verhassten Serben, gegen die Österreich 1914 in den Krieg zog. Heute sind sie unter den Migrantengruppen die treuesten Wähler der FPÖ.
Ein zentrales Reizthema im Ringen um Identität und Solidarität im Einwanderungsland Österreich bleibt das Kopftuch. Für die einen stellt es ein Symbol all dessen dar, was Österreich nicht ausmacht. In der Realität der Städte ist es allgegenwärtig. Elf Prozent der Bosnierinnen, 20 Prozent der Türkinnen tragen es laut Studie des Integrationsfonds immer. Unter Frauen, die mit der jüngsten Flüchtlingswelle ins Land kamen, ist es für mehr als die Hälfte unverzichtbar. Wie schwer sich die patriarchalische Kleiderordnung in ein modernes Zukunftsbild einfügt, zeigt die geringe Zahl an Kopftuchträgerinnen im Arbeitsleben. Verschleierung hin oder her: Güngör erinnert daran, dass die kulturelle Dimension nur eine von vielen sozialen Identitäten ist: „Vom Kindergarten bis zum Spital – uns verbindet auch die Identität als Eltern, Patient, Pfleger.“
Und Arbeiter. Bei mehreren Umfragen sprachen sich bis zu 80 Prozent der Österreicher dafür aus, dass Asylwerber nicht abgeschoben werden, solange sie eine Lehre machen. Sogar unter den FPÖ-Wählern solidarisierten sich in dieser Frage 60 Prozent mit jungen Afghanen, Syrern oder Somalis.
Bücher. "Ich und die Anderen" von Isolde Charim Zsolnay Verlag 224 Seiten, 22,70 €
"Exodus" von Paul Collier Siedler Verlag 320 Seiten, 23,70 €