Panorama

Glukose-Hype: Wie wichtig der Blutzuckerspiegel wirklich ist

Es gibt keinen guten oder schlechten Zucker, nur guten und schlechten Blutzuckerspiegel. Zumindest vermitteln das Start-ups und Influencer. Experten sehen die Glukosedebatte differenzierter.

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Striche und Kurven, mit Bleistift auf Papier gezeichnet, sorgen im Moment für eine stille Ernährungsrevolution. Die französische Biochemikerin Jessie Inchauspé hat über Jahre hinweg akribisch aufgezeichnet, wann sie welche Lebensmittel und Getränke zu sich nahm. Aß sie zuerst Kohlenhydrate in Form von Nudeln und danach ballaststoffreiches Gemüse wie Brokkoli, ging ihr Blutzuckerspiegel hoch. Bei umgekehrter Essreihenfolge fiel die Kurve weitaus flacher aus. Weitere Selbstversuche folgten. Gleichzeitig trug sie sämtliche wissenschaftliche Studien über Blutzucker und Ernährung zusammen-und schrieb alles auf. Die Ernährungstipps in ihrem Buch "Glucose Revolution", das 2022 auf Deutsch als "Der Glukose-Trick" im Verlag Heyne erschien, haben allesamt ein Ziel: im Alltag ein zu starkes Auf und Ab des Blutzuckerspiegels-sogenannte Glukosespitzen-zu vermeiden. Das soll kurzfristige Folgen wie Müdigkeit, Energielosigkeit oder Heißhunger verhindern und langfristig Typ-2-Diabetes, Herzerkrankungen, Demenz oder Krebs vorbeugen. Die Französin scheint einen Nerv getroffen zu haben. Sie landete einen Bestseller, erhältlich in 40 Sprachen. Auf Instagram folgen ihr unter glucosegoddess 1,4 Millionen Menschen. Im Mai 2023 kommt ihr Ratgeber "Der Glukose-Trick: das Praxishandbuch" mit einem Vier-Wochen-Programm und 100 Rezepten heraus. Glukosespiegel gut, alles gut?

Glukose als Lifestyle 

Der Blutzuckerspiegel gibt an, wie hoch die Menge an Zucker-also Glukose-im Blut ist. Der Körper braucht Glukose, um ausreichend mit Energie versorgt zu sein. Sie wird über die Nahrung aufgenommen und über den Blutkreislauf in die Zellen transportiert. Das Hormon Insulin wirkt als Türöffner, damit die Glukose in die Zelle gelangt und der Zuckerspiegel im Blut sinkt. Beeinflusst wird der Blutzuckerspiegel unter anderem durch Stress, Bewegung, Schlaf, Medikamente, Alkohol, Rauchen-und Ernährung. Typischerweise steigt der Zucker im Blut besonders hoch an, wenn man viele einfache Kohlenhydrate, also einfache Stärke oder Zucker, zu sich nimmt. Dann ist umso mehr Insulin nötig, um die Kurve abzusenken. "Bei gesunden Menschen ist dieser Effekt oft überschießend, sodass es zu einer leichten Unterzuckerung kommt, die ein erneutes Hungersignal auslöst",erklärt Stefan Kabisch von der Studienambulanz Diabetologie an der Berliner Charité. Dieses Wechselspiel führt langfristig zu mehr Mahlzeiten und Snacks, einer höheren Gesamtenergiezufuhr und damit zu Übergewicht. Solche starken Schwankungen des Glukosespiegels können im Alltag wahrnehmbar sein: Im Zuckergipfel ist man recht müde, im Zuckertal ist man unruhig und verspürt Heißhunger. Außerdem verursachen die Glukosespitzen oxidativen Stress und Entzündungen, was chronische Erkrankungen begünstigen kann. Jedoch: "Ab welcher Höhe und Dauer solcher Schwankungsphasen das gesundheitliche Risiko klar zunimmt, ist nicht geklärt", betont Kabisch. Hier bewege man sich im Rahmen von Jahren oder gar Jahrzehnten.

Neben einfachen Kohlenhydraten treiben zuckerhaltige Nahrungsmittel den Blutzucker in die Höhe. In Österreich nehmen Frauen durchschnittlich täglich 19 und Männer 16 Prozent ihrer gesamten Energiezufuhr in Form von "freiem Zucker" zu sich, vom Zucker im Kaffee bis zum Ketchup. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt einen maximalen Anteil von zehn Energieprozent. "Guten" oder "schlechten" Zucker gibt es aber nicht. "Chemisch gesehen ist es völlig egal, ob die Saccharose aus niederösterreichischen Zuckerrüben oder kanadischem Ahornsirup kommt", erklärt Manuela Konrad, Assoziierte Professorin für Diätologie an der FH Joanneum in Bad Gleichenberg und Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Sporternährung (ÖGSE). Aber: Auch Nachhaltigkeit müsste heute in der Ernährung mitgedacht werden, also Regionalität und Transportwege. "Was wir essen und trinken, hat immer auch ganz viel mit den eigenen Werten zu tun." Und: Obst sei trotz des Fruchtzuckers die beste Wahl, weil es zusätzlich Ballaststoffe und sekundäre Pflanzenstoffe enthalte. Außerdem: "Industriell verarbeiteter Zucker ist sehr konzentriert. Isst man ganze Äpfel oder Birnen, nimmt man verhältnismäßig weniger Zucker zu sich."

Österreichisches Startup misst Blutzuckerspiegel

Zurück zur Glukosekurve: Menschen mit Diabetes sind es gewohnt, ihren Blutzuckerspiegel laufend zu überwachen, da ihr Insulinhaushalt gestört ist. In den vergangenen Jahren hat die Messtechnologie immense Sprünge gemacht. Walnussgroße Sensoren wurden entwickelt, damit kein Fingerstich zur Blutabnahme mehr nötig ist. Die Sport-und Lifestylebranche ist nachgezogen: Heute können sich auch Menschen ohne Diabetes solche Sensoren besorgen, um über einen längeren Zeitraum hinweg den eigenen Blutzuckerspiegel zu beobachten. Genau genommen messen diese nicht den Zuckergehalt im Blut, sondern im Unterhautfettgewebe. Die Daten werden via Bluetooth aufs Smartphone übertragen, wo die Blutzuckerwerte in einer zugehörigen App als Kurven dargestellt werden. Ein Sensor lässt sich jeweils 14 Tage lang verwenden. Auch das österreich-deutsche Start-up "Hello Inside" mit Sitz in Wien hat so eine Lifestyle-App entwickelt. Sie ist seit Juni 2022 auf dem Markt und durchläuft aktuell den Beta-Status. Den eigenen Blutzuckerspiegel über einige Wochen hinweg kontinuierlich zu tracken, soll veranschaulichen, wie der Körper im Alltag unter anderem auf Essen, Trinken und Bewegung reagiert. Das Ziel: mehr Energie, weniger Heißhunger und Gewichtskontrolle. Die App setzt stark auf Inhalte: Empfehlungen, um bei der nächsten Mahlzeit die Kurve abzuflachen, angeleitete Experimente, Lerninhalte und Rezepte. "Apps im Gesundheitsbereich sind oft sehr steril, unpersönlich, komplex und leiten wenig an. Wir möchten bei der Interpretation der Blutzuckerwerte helfen und praktische Tipps für die Anwendung an die Hand geben, die jede und jeder selbst probieren kann",sagt Co-Gründerin Anne Latz, die Betriebswirtschaft und Medizin studiert hat. Teil des Teams ist auch die Ernährungswissenschafterin Marie-Luise Huber. Sie erklärt: "Ernährung ist ein sehr individuelles Thema. Jeder verträgt etwas anderes gut oder schlecht. Wir haben uns gefragt: Was kann man tun, damit der Blutzucker eine greifbare Metrik für jeden wird?"Mit der App wolle man Bewusstsein für die Vorgänge im eigenen Körper schaffen und Präventionsarbeit leisten. "Nach dem Motto 'make prevention sexy again'",sagt die in den USA lebende Österreicherin.

Was Glukose-Tracking bringt

Stichwort Prävention: Erst Mitte Jänner 2023 forderte der Rechnungshof (RH) verbindliche Maßnahmen von der Regierung, um die Zahl der gesunden Lebensjahre in der Bevölkerung zu erhöhen. Diese sind zwischen den Jahren 2014 bis 2019 gesunken, was unter anderem auf chronischen Erkrankungen wie Adipositas zurückgeführt wird. Inwiefern könnten die neuen Technologien zur kontinuierlichen Blutzuckermessung bei der Prävention eine Rolle spielen? Die Information über das eigene, individuelle Blutzuckermuster sei prinzipiell relevant, sagt Stefan Kabisch von der Berliner Charité. Langfristig könne ein ungünstiges Muster möglicherweise vorhersagen, ob man Diabetiker werde. Das eigene Muster ließe sich auch verändern, wenn man sich anders ernähre, zuoder abnehme. Die individuellen Blutzuckermuster komplett gesunder Menschen würden aber nicht stark genug voneinander abweichen, um bereits heute Vorhersagen treffen zu können. Die Österreichische Diabetes Gesellschaft (ÖDG) sieht in digitalen Gesundheitsprodukten grundsätzlich ein großes Potenzial zur Prävention, wenn sie richtig angewendet werden. "Ich bin wesentlich daran interessiert, Personen mit erhöhtem Risiko für Diabetes frühzeitig einer Diagnose zuzuführen. Sollte dies über Sensoren und andere Tracker erfolgen, ist es mir recht",äußert sich ÖDG-Präsident Martin Clodi.

Jedoch: Inwiefern starke Glukosekurven im Alltag von Bedeutung seien, müssten erst wissenschaftlich fundierte Ergebnisse zeigen. Manuela Konrad vom Studiengang Diätologie an der FH Joanneum ortet eher einen Trend. Schwankungen im Blutzuckerspiegel würden bei gesunden Menschen durch die Hormone Insulin und Glukagon ausgeglichen. Kurzfristige Zustände wie Müdigkeit könnten andere Ursachen wie Eisenmangel haben, und Erkrankungen seien ein multiples Geschehen. Ein konstantes Monitoring über Tage hinweg sei höchstens im Spitzensport relevant. Natürlich spreche nichts dagegen, sich diesem Selbstexperiment aus Eigeninteresse zu widmen. Aber es könne auch Stress verursachen, sich permanent mit den eigenen Werten auseinanderzusetzen. Darüber hinaus wisse man heute noch zu wenig über die Relevanz derartiger Apps. "Die Datenlage ist noch sehr dünn. Es gibt zwar eine Handvoll Studien, die sich damit beschäftigen. Aber wir können aktuell nicht sagen: Das ist eine klare Empfehlung." Ihrer Meinung nach sei es sinnvoller, bei der Ernährung auf Qualität, Tierwohl, Regionalität und Nachhaltigkeit zu schauen, als Zeit in Monitoring zu investieren. "Die Stoffwechselvorgänge laufen ohnehin physiologisch ab und funktionieren automatisch."

Ob die Glukosekurve wirklich so relevant ist, wie die neuen Player am Markt es darstellen, ist wissenschaftlich also noch nicht genug erforscht. Blutzuckersensoren können weitere wichtige Daten wie Nahrungs-und Blutfette, Mikronährstoffe und Vitamine, Eiweißversorgung und Eisenhaushalt oder Entzündungsprozesse nicht messen. "Mag man für sich selbst die beste Ernährung für die besten Blutzuckerkurven gefunden haben, kann das Ernährungsmuster trotzdem ungesund oder sogar ungesünder als vorher sein",gibt Kabisch von der Charité Berlin zu bedenken. Deshalb brauche es immer den ganzheitlichen Blick. Aus der Ernährungsberatung weiß man, dass die persönliche Beziehung ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist. "Dieses Dranbleiben, im Austausch sein, sich begleitet fühlen und immer wieder eine gewisser Verbindlichkeit zu haben, optimiert das Ergebnis stark",sagt Konrad. Bei der App "Hello Inside" sieht man die eigenen Leistungen nicht als Ersatz, sondern als digitale Ergänzung an. Auch dort wird der ganzheitliche Blick betont. Faktoren wie Stress könne man zwar nicht messen, aber in die Reflexion miteinbeziehen. Die persönliche Ansprache erfolgt via Instagram-Videos und im längeren, auf Frauen abgestimmten Programm über eine halbstündige Live-Ernährungsberatung. "Man kann nicht alles über jeden Menschen darüberstülpen. Huber: "Nur wenn man individuell auf jemanden eingeht, funktioniert das mit der Ernährung langfristig."