Dichter an der Front

Armenien: Wie Franz Werfel einem Land ein Nationaldenkmal schuf

Armenien. Wie der Literat Franz Werfel einem fernen Land ein Nationaldenkmal schenkte

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Ob er sich in der Pose gefallen hätte, die ihm das Schlachtengemälde in rührender Naivität zuweist? Eine Kriegsfront in unwegsamer Gebirgslandschaft: Auf den Anhöhen haben Kanoniere Stellung bezogen, an einer steil abfallenden Klippe blüht roter Mohn; eine Mutter drückt ihr Kind an die Brust, ein kleines Mädchen mit Kopftuch ringt die Hände. Unten im Tal ist das Feldlager der Feinde auszumachen. Und ganz vorne sitzt Franz Werfel im grauen Straßenanzug mit Querbinder. Ernster Blick, Notizpapier auf den Knien, Stift in der Hand. Neben sich Gewehr und Patronengurt.


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Die Szene spielt während der schlimmsten Heimsuchung des armenischen Volks: der Verfolgung durch das Osmanische Reich, die zwischen 1915 und 1917 bis zu eineinhalb Millionen Todesopfer forderte. Werfel hat darüber den Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ geschrieben – ein Buch, das jedoch weniger die Katastrophe beklagt, als vielmehr den Heldenmut jener rund 5000 Armenier feiert, die sich während der Massaker im Bergmassiv des Musa Dagh an der türkischen Mittelmeerküste verschanzt hatten. Dort lieferten sie den türkischen Truppen einen wochenlangen, blutigen Guerillakampf, bis die meisten von der französischen Marine evakuiert und in Sicherheit gebracht wurden.

Unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nazis veröffentlicht, wurden „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ zum Weltbestseller. In Armenien avancierten sie zudem zum literarischen Nationaldenkmal – und Werfel selbst zum Volkshelden, dem bis heute gehuldigt wird. Wie zum Beispiel auf dem Gemälde, das am Haupteingang einer nach ihm benannten Schule im Ort Musaler nahe der Hauptstadt Eriwan prangt und den deutschböhmischen Schriftsteller im Kreis der verfolgten Armenier zeigt, als sei er selbst Teil ihres Widerstands gewesen.

Dass Werfel die Schlacht am Musa Dagh mitnichten persönlich erlebt, sondern fast zwei Jahrzehnte später anhand von Archivakten rekonstruiert hat, tut nicht viel zur Sache. Gerade huschen ein paar Neuntklässlerinnen unter dem Bild vorbei. Sie haben erst vor ein paar Wochen eine Theaterversion der „Vierzig Tage“ einstudiert und zum Gedenken an den Völkermord vor 95 Jahren zur Aufführung gebracht.

Taguhi ist 14 und hat ihre Rolle verinnerlicht. Dazu gehört auch ein Monolog, in dem sie zum Kampf gegen die Türken aufruft. „Ich bin eine Frau und spreche für alle Frauen hier! Viel habe ich erlitten! Mein Herz ist oft und oft gestorben. Der Tod ist mir längst gleichgültig“, deklamiert sie. „Doch nicht leben will ich bleiben in einem der Deportationslager unter den ehrlosen Mördern … und wenn die Männer zu feig sind, so werden wir Weiber allein uns bewaffnen.“

Neben dem Werfel-Gemälde hängen die Porträts von Soldaten, die in den neunziger Jahren im Krieg gegen das benachbarte Aserbaidschan gestorben sind. Es ist alles recht nahe beieinander hier: Krieg und Frieden, Vergangenheit und Gegenwart. Dichtung und Wahrheit.

Hajastani Hanrapetutjun, wie sich Armenien selbst nennt, befindet sich seit je in einer alles andere als komfortablen Situation. Ein Binnenland ohne nennenswerte Bodenschätze, liegt es mitten im Bergland des Kaukasus: eine strenge, karge Schönheit.

Das Verhältnis zu den Nachbarstaaten ist alles andere als unproblematisch. Am meisten verbindet Armenien mit dem im Norden gelegenen Georgien, das ebenfalls christlich geprägt ist. Der Iran im Süden stellt zwar keine Bedrohung dar, ist aber eine islamische Republik.

Mit Aserbaidschan befindet sich Armenien nach wie vor im Kriegszustand. Es geht dabei um die von Armeniern bewohnte Enklave Berg-Karabach und umstrittene Territorialansprüche. Zur Türkei wiederum sind die Grenzen seit Jahren dicht, vor allem wegen der ewigen Streitigkeiten um die Frage, ob die Massaker der Jahre 1915 bis 1917 als Völkermord zu qualifizieren sind oder nicht.

Der innere Belagerungszustand, der aus alledem entsteht, wird oben am Tsitsernakaberd spürbar, der „Schwalbenfestung“, einem Hügel nahe dem Zentrum Eriwans. Dort befinden sich das Genozid-Museum und die damit zusammengeschlossene Forschungsstelle. Auf dem Plateau symbolisiert ein grauer Obelisk die Wiederauferstehung des armenischen Volks, ein Kreis aus wuchtigen Basaltstelen schirmt eine ewige Flamme in seinem Zentrum ab. Im Hang beherbergt ein bunkerartiges Gebäude eine Ausstellung von Zeugnissen des Völkermords und ihre Archive.

„250.000 Menschen kommen jedes Jahr, um der Opfer zu gedenken“, sagt Hayk Demoyan, der Direktor des Museums. Auch hier hat Franz Werfel einen Ehrenplatz. In einer Vitrine wird die 1933 bei Zsolnay erschienene Erstausgabe der „Vierzig Tage des Musa Dagh“ präsentiert, dazu Fotos vom Kampf, von der Rettung der Aufständischen.

Er habe, erzählt Demoyan, den fast tausend Seiten umfassenden Roman im Alter von 14 Jahren gelesen, wie Hunderttausende seiner Landsleute, mit Tränen in den Augen. „Und jetzt habe ich eine Mission: die Geschichte dieses Völkermordes so zu erzählen, dass möglichst viele Menschen sie hören.“

Hinter dem Fenster seines Büros sind im Sommerdunst die schneebedeckten Flanken des 5137 Meter hohen Ararat zu erkennen: Er wäre keine Stunde Fahrt entfernt, liegt aber unerreichbar jenseits der türkischen Grenze – auch er für die Armenier ein mythischer Berg, der an Vertreibung, Verlust und Völkermord gemahnt.

In den Straßen von Eriwan, auf die man von der „Schwalbenfestung“ hinunterblickt, ist aber nicht viel von all den Konflikten zu bemerken, die auf Armenien lasten: In der Mittagshitze lassen es sich die Bewohner der Stadt in den kleinen Parks wohl sein, in denen Springbrunnen für Kühlung und Cafés für Erfrischung sorgen, abends füllen sich die Restaurants am Platz vor der Staatsoper mit Menschen.

Die armenische Kapitale – zu Sowjet-Zeiten durch die „Fragen an Radio Eriwan“-Flüsterwitze ein Begriff – glitzert zwar nicht, sie konnte sich bislang auch nicht so recht entscheiden, was sie sein will: An ihren Rändern klotzen postsowjetische Plattenbauten, in der Innenstadt werden Reste orientalischer Anmutung nach und nach von glatt polierten Neubaufassaden verdrängt. Dennoch ist ihre Anziehungskraft eine hohe. In den Sommermonaten füllt sich Eriwan mit den Angehörigen der Diaspora: Zehn Millionen Armenier leben auf der ganzen Welt verstreut, lediglich etwas mehr als drei Millionen im Land selbst.

Beliebt ist die Stadt auch bei jungen Iranern, die hierherkommen, um den Zwängen ihrer Heimat zu entfliehen. In Armenien brauchen sie sich nicht zu verhüllen, können Alkohol trinken, feiern und Konzerte von Musikern hören, die unter dem Mullah-Regime nicht auftreten dürfen.

Als Franz Werfel 1929 zu einer Reise durch den Orient aufbrach, war er gerade erst zum Christentum übergetreten. Der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Handschuhfabrikanten hatte sich katholisch taufen lassen, um Alma Mahler heiraten zu können.

Bei einem Besuch in der größten Teppichweberei von Damaskus sei Werfel auf unterernährte Kinder aufmerksam geworden, die sich mit Hilfsarbeiten ein bisschen Geld verdienten, schreibt Alma Mahler-Werfel in ihrer Autobiografie „Mein Leben“. Und weiter: „Ach diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf der Straße auf und gebe ihnen zehn Piaster pro Tag, damit sie nicht verhungern. Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen Armenier. Wenn ich sie hier nicht beherberge, verhungern sie, und niemand kümmert sich darum“, habe der Fabrikbesitzer erklärt.

War es diese Begegnung in Damaskus? Die Fahrt durch die armenischen Dörfer des Libanon, die das Ehepaar darauf unternahm? Kam der religiöse Enthusiasmus eines neu Konvertierten hinzu? Und möglicherweise sogar schon eine Ahnung, welche Gefahr im aufstrebenden Nationalsozialismus lag?

Die Verfolgung der Armenier ließ Werfel jedenfalls nicht mehr los. Er ließ sich über einen befreundeten Diplomaten aus dem französischen Kriegsministerium Dokumente über die Massaker des Osmanischen Reichs während des Ersten Weltkriegs kommen und begann, sie durchzuackern.

Im Frühling 1932 begann der Schriftsteller in Breitenstein am Semmering mit der Niederschrift einer ersten Version der „Vierzig Tage des Musa Dagh“. Ein Jahr später, im März 1933, schrieb er immer noch – während Adolf Hitler in Deutschland bereits die Macht übernahm. Diese „schrecklichen Vorgänge“ würden ihm jede Konzentration rauben, notierte er verzweifelt auf der Rückseite des Manuskripts. Er sei „geistig tief erschöpft“ und ringe sich „nur mühsam“ Satz für Satz ab. Verbrieft sind seine Schwierigkeiten bei der Darstellung der Osmanen. Immer wieder musste sich Werfel selbst ermahnen, die Türken im Gegensatz zu den edel-traurigen Armeniern nicht ausschließlich als brutale, verkommene, seelenlose Schlächter darzustellen.

Möglichst authentisch wollte er schildern, was sich am Musa Dagh ereignet hatte: Sogar die Wetterbedingungen, die im Sommer 1915 in der Region geherrscht hatten, ließ er von Helfern recherchieren. „Ich weiß eigentlich nicht, warum man die, Vierzig Tage‘ einen Roman nennt“, sagt Beransch Hartunian-Tahmasians, Präsident der österreichisch-armenischen Kulturgesellschaft, die auch das Werfel-Denkmal im Wiener Schillerpark initiiert hat und betreut. „Es ist nicht nur Literatur, sondern auch Dokumentation.“

Freilich eine, die in vielerlei Hinsicht ins Biblische und Geschichtsschwangere überhöht ist. Manche historische Berichte sprechen beispielsweise von 24 Tagen Abwehrschlacht am Musa Dagh, andere von 36, wieder andere von 52. Bei Werfel sind es vierzig – mit gutem Grund. „Vierzig Tage rufen biblische Assoziationen wach: Vierzig Tage und Nächte währte die Sintflut, vierzig Tage und Nächte blieb Moses auf dem Berg Sinai, vierzig Jahre zog das Volk Israel durch die Wüste“, führt der Schriftsteller und Werfel-Kenner Peter Stephan Jungk aus. Der Freiheitsheld, der die Widerständler anführt, ist eine literarische Figur, ihr Name an ein altes armenisches Königsgeschlecht angelehnt.

Als Werfel die „Vierzig Tage des Musa Dagh“ schrieb, konnte er nicht wissen, dass sich das Schicksal der Armenier schon bald in vielfach gesteigerter Form an den Juden Europas, den Zigeunern, den Homosexuellen und anderen Minderheiten wiederholen würde.

Noch vor Veröffentlichung des Romans wurden Werfels Bücher in Deutschland verbrannt. Während die „Vierzig Tage“ auf die schwarze Liste kamen, sorgte ihre Veröffentlichung in den USA und Frankreich ab 1934 nicht nur in der armenischen Diaspora für Furore. Vier Jahre später war Werfel selbst auf der Flucht – und sein Roman wurde nicht nur in seinem historischen, sondern auch in seinem aktuellen politischen Kontext gelesen: Als Parabel auf den Terror der Nazis. 1943 wappneten sich die Gefangenen des Warschauer Ghettos unter anderem mit der Lektüre der „Vierzig Tage des Musa Dagh“ psychologisch für den Aufstand gegen die Nationalsozialisten.

Es waren Sätze wie diese, die ihnen dabei Mut gegeben haben mögen: „Die Armenier schossen bedächtig und sicher, einer nach dem anderen, ohne jede Erregung. Sie hatten Zeit zum Zielen. Jeder wusste, dass keine einzige Patrone verschwendet werden dürfte … Jäh löste sich der Bann von den türkischen Soldaten. Sie flüchteten, wild schreiend, in den Sattel hinab, viele Tote und Verwundete zurücklassend … Gabriel schoss nicht. Ihm war plötzlich leicht und schwebend zumute. Die Wirklichkeit wurde so unwirklich, wie sie es in ihren wirklichsten Verdichtungen immer ist.“

Als das Ghetto von Warschau fiel, war Werfel, der es nach beschwerlichem Weg zu Fuß über die Pyrenäen in die USA geschafft hatte, bereits schwer herzkrank. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Untergang von Nazi-Deutschland überlebte er um wenige Wochen, er starb am 26. August 1945 als amerikanischer Staatsbürger.

„Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben“, soll, berichtet Alma Mahler-Werfel in ihrer Biografie, ein armenischer Priester in den USA einst von der Kanzel gepredigt haben. 2006 wurde Werfel bei einer Feierstunde in Wien postum die armenische Staatsbürgerschaft verliehen. Das Land selbst hat er nie mit eigenen Augen gesehen.

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: In Istanbul, einer der am dichtesten bevölkerten Städte Europas, findet sich etwa eine überraschend umfassende Austro-Bibliothek. Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer, und die Linzer Autorin Anna Mitgutsch sammelte während mehrerer Aufenthalte in Israel Stoff für ihren Roman „Abschied von Jerusalem“ (1995); die Indien-Visiten von Büchnerpreisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk – von „Domra – Am Ufer des Ganges“ (1996) bis „Roppongi“ (2007). Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie begibt sich profil in einer neuen mehrteiligen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat – unter anderem in Rom, Tel Aviv und Neu-Delhi.