Marktlücken: Wie Start-ups am Vertrieb scheitern
Helga hat etwas mehr Erklärungsbedarf: ungewohnte Inhaltsstoffe, nicht so süß wie andere, sehr kalorienbewusst, außerordentlich gesund. Das Erfrischungsgetränk besteht unter anderem aus einer Süßwasseralge namens Chlorella; sein Name leitet sich konsequenterweise aus healthy algae ab. Von der ungesunden Konkurrenz unterscheidet sich Helga aber nicht nur wegen der Inhaltsstoffe, sondern auch durch eine gewisse Exklusivität. Erhältlich ist die Algen-Limo derzeit nämlich vor allem in Lokalen und in einigen wenigen Lebensmittelgeschäften wie etwa bei Meinl am Graben in Wien. „Wir haben ganz gezielt die urbane Gastronomie als ersten Vertriebskanal gewählt, um die Marke zunächst mal bekannt zu machen“, sagt Renate Steger, eine der drei Gründerinnen des Start-ups Evasis, das hinter Helga steht.
Gemeinsam mit Ute Petritsch und Anneliese Niederl-Schmidinger hat sie im April des Jahres die Firma im niederösterreichischen Berndorf gegründet, davor war das Algengetränk entwickelt worden. „Wir haben schon früh versucht, mögliche Vertriebswege zu berücksichtigen und unter anderem auch an entsprechende Kooperationspartner gedacht“, erläutert Steger.
Vertrieb wird oft vernachlässigt
Das ist keine Selbstverständlichkeit für junge Unternehmen: Gerade der Vertrieb ist ein Faktor, der in den ersten Jahren oftmals vernachlässigt wird. Kein Wunder: Bei all der Begeisterung über das eigene Produkt oder die neue Dienstleistung wird gerne darauf vergessen, wie denn überhaupt Kunden erreicht werden können. Dabei ist der Aufbau einer Vertriebsorganisation und das Entwickeln der richtigen Vertriebsstrategie das A und O für junge Unternehmen. Und nicht nur für diese – auch große, etablierte Konzerne sind nicht vor gravierenden Fehlern beim Vertrieb gefeit. Das beweist unter anderem bauMax: Die Handwerkerkette, die Ende Oktober endgültig vom Markt verschwunden ist, hatte laut dem Produktivitätsberater Alois Czipin vor allem im Kernmarkt Österreich „fundamentale Vertriebsschwächen“ aufgewiesen – die Folge seien Nachteile im Wettbewerb gegen Hornbach und Obi gewesen. Der Grund war unter anderem schlechte oder nicht vorhandene Verkaufsberatung in den Geschäften.
Leider wird das Thema Vertrieb von Gründerinnen und Gründern oft unterschätzt.
Ist es bei etablierten Unternehmen eine gewisse Betriebsblindheit, so führt bei jungen Unternehmen eher die Anfangseuphorie zur Nachlässigkeit bei der Vertriebsstrategie. Laut einer Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung sind Probleme auf Absatzmärkten und zu starke Bindung an einzelne Kunden Hauptgründe für das Scheitern von Start-ups. „Leider wird das Thema Vertrieb von Gründerinnen und Gründern oft unterschätzt“, sagt Elisabeth Zehetner-Piewald, Leiterin des Gründerservice der Wirtschaftskammer. Denn die Jungunternehmer sind nach der Akquise von ersten Kunden mit neuen und aktuellen Projekten zeitmäßig ausgelastet. Zudem fühlen sich nicht alle Gründer in der Rolle als Verkäufer gut. „Gerade in kleinen, neu gegründeten Unternehmen gibt es selten eine eigene Vertriebsmannschaft“, weiß Zehetner-Piewald. Bei Ein- Personen-Unternehmen wird das Thema oft gar nicht beachtet.
Auch der Vertriebsexperte Gerald Geretschläger sieht bei jungen Unternehmen oft dieses Problem – was nicht bedeutet, dass nicht auch große Firmen beim Vertrieb in die falsche Richtung unterwegs sein können. Geretschläger hilft als Geschäftsführer des auf Vertriebsentwicklung spezialisierten Trainings- und Beratungsunternehmens Ewos Firmen beim Finden und Umsetzen von Vertriebsstrategien, denn „die beste Idee nützt nichts, wenn ich sie nicht an den Kunden bringe“. Es sei leichter, eine schlechte Idee mit einem guten Geschäftsmodell zu verwirklichen als die beste Idee ohne ein solches. Die Definition einer guten Leistung im Vertrieb ist aber gar nicht leicht zu erfüllen: Es braucht die passenden Zielgruppen, die richtigen Märkte, außerdem wirksame Botschaften, funktionierende Vertriebswege, und die angebotenen Produkte und Dienstleistungen sollten nach Möglichkeit konkrete Bedürfnisse der Kunden erfüllen.
Die richtigen Kanäle finden
Um das alles zu schaffen, bedarf es einiges an Aufwand. „Der größte Fehler ist das Fehlen einer konsistenten Vertriebsstrategie“, meint Geretschläger. Schlechte Abgrenzung innerhalb des Wettbewerbs ende stets darin, so der Experte, dass der Preis die einzige Unterscheidungsmöglichkeit sei und der Preiskampf in weiterer Folge unausweichlich.
Wie schwierig es sein kann, die richtigen Vertriebskanäle auszuwählen, weiß auch Dominik Thor, der gemeinsam mit seinem Bruder Benedikt unter dem Namen „Company of Glovers“ seit dem Vorjahr Lederhandschuhe in Einzelanfertigung verkauft. Seine Geschäftsidee: Kunden erstellen im Internet ein individuelles Paar Handschuhe, indem sie aus mehreren Millionen Stoff-, Farb- und Designvarianten ihre Wunschkombination wählen. Diese wird dann in Werkstätten maßgefertigt. Das Interesse ist vorhanden, doch nun will Thor das Geschäftsmodell erweitern und eine fertige Kollektion anbieten. Und er wird im Vertrieb mit großen Modeketten kooperieren und stärker als bisher geplant in den Einzelhandel gehen. „Die Margen sind dort nicht sehr interessant, aber die Platzierung im Shop bringt Vorteile im Online-Geschäft.“
Wir beobachten leider oft eine fehlende Struktur in der Analyse der Zielgruppen und Vertriebswege.
Die Kunden müssen ein neues Produkt erst einmal – im besten Wortsinn – begreifen. E-Commerce wird zwar die wichtigste Stoßrichtung der Firma bleiben, doch ohne den stationären Handel geht es nicht, hat Thor gelernt. „Ein reiner Online-Vertrieb ist gerade für Start-ups verlockend, doch in vielen Bereichen werden Produkte nicht nur im Internet gekauft.“
Überlegungen, die in vielen Businessplänen indes nicht zu finden sind, weiß Elisabeth Zehetner-Piewald: „Wir beobachten leider oft eine fehlende Struktur in der Analyse der Zielgruppen und Vertriebswege.“ Ebenso wie Preisgestaltung und Kundenmanagement sei das aber die Voraussetzung für eine erfolgreiche Vertriebstätigkeit. Bei der Beurteilung von Businessplänen durch das Gründerservice wird daher darauf geachtet – darin sollten beispielsweise Zielgruppensegmente definiert sein.
Strategie schlägt Zufall
Dass der Vertrieb einmal ausschlaggebend sein würde für den Erfolg seines Unternehmens, stand für Franz Seher schon vor der Gründung von holis market fest. Seine Geschäftsidee ist der verpackungsfreie Einkauf von Bio-Lebensmitteln. Motiviert wurde er dazu von den Unmengen an Verpackungsmüll, die nach einem üblichen Einkauf im Supermarkt übrigbleiben. Weshalb sollte es nicht möglich sein, eine umweltfreundliche Alternative aufzubauen? Das im Frühjahr gegründete Start-up hat zunächst eine Online-Plattform und ein Rezeptboxen-System geschaffen, ehe vor zwei Monaten in der Linzer Innenstadt der erste echte holis-Markt eröffnet wurde, ein „Zero-Waste-Lebensmittelmarkt“. Wer dort einkauft, füllt sich die gewünschten Waren in mitgebrachte Mehrwegverpackungen oder nutzt die bereitgestellten Behältnisse.
Seher hat allerdings schon das erste Lehrgeld bezahlen müssen: „Wir merken nun, dass das Sortiment zu gering war, das drückt den Umsatz pro Kunde.“ Die Kunden seien eben die riesige Auswahl aus herkömmlichen Supermärkten gewohnt, daher arbeiten Seher und sein Team nun an einer raschen Ausweitung des Sortiments. So wird es im holis-Markt in Zukunft auch Fleisch zu kaufen geben. Für Seher war die richtige Vertriebsstrategie immer etwas, das man ständig im Auge behalten muss. „Die Gefahr besteht, dass man vom eingeschlagenen Weg abkommt und sich vom Kunden leiten lässt. Gleichzeitig sind Kompromisse nötig.“
Wir müssen uns vom Einheitskunden verabschieden.
Ein Dilemma, das Gerald Geretschläger aus seiner Praxis kennt: Stur auf dem Weg bleiben oder besser flexibel auf Wünsche und Anforderungen des Marktes reagieren? „Strategie schlägt auf Dauer den Zufall“, sagt der Vertriebsexperte. Andererseits müsste man sich zusätzliche Möglichkeiten offenhalten – so wie der Online-Händler Amazon, der in den USA stationäre Shops eröffnet. Es ist also nicht die Frage, ob online oder offline – sondern die Frage nach dem richtigen Mix. Kein Wunder: Studien zufolge informieren sich rund ein Drittel der Kunden zunächst im Geschäft über konkrete Produkte, um diese dann erst recht im Internet zu bestellen. Doch rund 40 Prozent informieren sich umgekehrt zunächst im Internet, um dann doch im stationären Handel einzukaufen. „Kunden sind heute übersättigt von Angeboten und Informationen und verfügen generell über immer weniger Zeit“, konstatiert Geretschläger. Gerade deshalb sei es wichtig, auf mehreren Kanälen unterwegs zu sein. „Wir müssen uns vom Einheitskunden verabschieden.“
Innovative Ideen auf der einen, bewährte Vertriebskanäle auf der anderen Seite: In Zukunft müssten Jungunternehmer und große Unternehmen stärker zusammenarbeiten, um die jeweiligen Stärken nutzen zu können. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Beratungsunternehmens Accenture. Doch Unterschiede in der Firmenkultur und das Gefühl bei den Gründern, die großen Partner würden ihr Vorankommen nicht ausreichend unterstützen, verhindern oftmals diese Zusammenarbeit. Klaus Malle, Geschäftsführer von Accenture Österreich, meint: „Start-ups sind risikobereiter, flexibel und experimentierfreudig, machen Fehler und lernen rasch daraus. Große Unternehmen wägen Risiken stärker ab, sind langsamer in ihren Prozessen und versuchen Fehler zu vermeiden.“
Würden solche Unterschiede verstanden und gut gemanagt, dann könne die Zusammenarbeit durchaus erfolgreich sein – doch dafür brauche es eine gemeinsame Vision und Regeln auf Augenhöhe. „Die großen Unternehmen können sich einiges vom Start-up-Spirit abschauen, was Agilität und Fehlerkultur betrifft.“ Im Gegenzug profitieren die Kleinen von den Großen – etwa bei Erfahrung, globaler Reichweite und einem großen Vertriebsnetz.
Robo-Wunderkinder
Online oder stationärer Handel? Europäischer oder weltweiter Vertrieb? Nischenmärkte oder breite Aufstellung? Mit solchen und ähnlichen Fragen schlägt sich auch Anna Iarotska herum. Sie hat gemeinsam mit Rustem Akishbekov und Yuri Levin in Wien das Unternehmen Robo Wunderkind gegründet, das einen Spielzeug-Roboter entwickelt: Aus Einzelteilen lassen sich programmierbare Mini-Roboter zusammenbauen, deren Bedienung besonders einfach sein soll. Vor Kurzem haben die Robo-Gründer für den Start der Produktion rund 225.0000 Euro über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter eingesammelt; nächsten Sommer sollen die ersten Robos anrollen. „Für uns war der Vertrieb immer extrem wichtig“, sagt Iarotska, schon seit Langem werden Gespräche mit Experten und möglichen Partnerunternehmen geführt. Die Strategie: Die Roboter-Sets werden auf verschiedenen Kanälen verkauft: Online über die eigene Website und über Händler, im Einzelhandel vor allem über Spielzeuggeschäfte und Elektronikmärkte. „Es ist für uns wichtig, die Player in diesem Bereich zu erreichen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.“
Überrascht wurden die Robo-Gründer vom Interesse aus aller Welt, eigentlich wollten sie zunächst nur in Europa starten – „nun ist aber der weltweite Vertrieb unser Ziel“, sagt Anna Iarotska. Die Kickstarter-Kampagne hat die Bekanntheit erhöht, darauf musste reagiert werden.
Für Start-ups stellt sich außerdem recht rasch die Frage, wie sie es mit Kooperationen halten; vor allem im Vertrieb kann diese Frage überlebenswichtig sein. holis-market-Gründer Franz Seher meint: „Wir würden gern unabhängig bleiben, aber eventuell wird mal ein Partner nötig sein.“ Der Ausbau des Unternehmens soll in den nächsten Monaten über Franchise-Partner erfolgen, als Ziel soll es langfristig in jeder Landeshauptstadt einen holis-Markt geben – beispielsweise in Wien auf der Mariahilfer Straße. Bei der Auswahl seiner Partner ist Seher wählerisch. „Wir brauchen Franchisenehmer mit den entsprechenden Fähigkeiten und Erfahrung – und natürlich mit ausreichend Kapital.“ Der Vorteil: Das Konzept von holis market war von Anfang an auf Skalierbarkeit ausgelegt.
Um unabhängig zu bleiben, braucht es einen längeren Atem.
Für Anna Iarotska von Robo Wunderkind ist es wiederum wichtig, Netzwerke aufzubauen. „Je innovativer ein Produkt ist, desto leichter fällt das: Alle sind auf der Suche nach spannenden neuen Ideen.“ Für Renate Steger von Evasis hingegen kommt es nicht infrage, sich auf das Spiel der großen Handelsfirmen einzulassen. „Wir haben lieber kleinere Vertriebspartner.“ Sie weiß aber auch: Um unabhängig zu bleiben, braucht es einen längeren Atem. Ihren Algentrink Helga wird es daher nicht so bald in allen Supermärkten geben. „Es ist nicht unser Ziel, jedem Österreicher unser Produkt reinzudrücken“, sagt Steger. Es brauche eben Zeit, das Produkt zu erklären, und die einmal eingeschlagene Vertriebsstrategie soll nicht aufgegeben werden. „Wir wissen ja, dass eine Firma mit dem Vertrieb steht und fällt.“
Die Checkliste für Ihren Vertrieb
Worauf sollten kleine und junge Unternehmen beim Aufbau einer Vertriebsorganisation achten? Nach Ansicht des Vertriebsexperten Gerald Geretschläger, Chef von Ewos, sollten folgende Fragen beantwortet werden können:
-Welcher grundsätzliche Kundennutzen soll geschaffen werden? Das könnten beispielsweise Zeitersparnis, Kostenersparnis oder ein Wettbewerbsvorteil durch neue Techniken sein.
-Warum sollten potenzielle Kunden ausgerechnet zu diesem einen Produkt greifen oder bei diesem einen Anbieter kaufen? Gründe dafür könnte die Expertise oder die Erfahrung des Unternehmens sein. Ebenfalls denkbar: Preis oder Einfachheit des Produkts.
-Welche sind die aussichtsreichsten Marktsegmente und Zielgruppen und auf welche konzentriert man sich dann? Länder, Regionen, Branchen, Kundengruppen fokussieren.
-Welche Vertriebskanäle eignen sich zur Erschließung der angebotenen Marktsegmente und Zielgruppen? Sind eigene Verkäufer, Großhändler, Partner, Importeure oder Web-Shops die geeigneten Wege?
-Welche Positionierung strebt man im Vergleich zu den Mitbewerbern an? Will man Qualitätsführer, Innovationsführer oder gar Preisführer sein?
-Welche sind die Hauptwettbewerber und wie kann man sich differenzieren? Was kann man besser als Mitbewerber, und wie erkennen das die Kunden?
-Auf welche Produkte bzw. Leistungen konzentriert man sich?
-Welche vertriebsbezogenen Ziele strebt man mittelfristig an? Das könnten unter anderem sein: Umsatz, Ertrag, Absatz, Marktanteil oder Zahl der Kunden.
Internet-Tipp: Marktplatz der Wirtschaftskammer für B2B-Geschäfte