Die Unruheständischen

Immer mehr Pensionisten suchen nach beruflicher Herausforderung

Arbeit, Teil IV. Immer mehr Pensionisten suchen nach beruflicher Herausforderung

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Von Michaela Ernst

Sie lassen sich gern zum alten Eisen zählen, denn in Österreich bilden sie die vorherrschende Gruppe: Jene Berufstätigen, die den Pensionsstichtag als einen ihrer Karrierehöhepunkte erleben. Dass das Land bei der Erwerbsquote älterer Arbeitnehmer im EU-Vergleich nach wie vor nachhinkt, führt Sabine Mlnarsky-Bständig, Personalchefin der Erste Bank, die ein eigenes Programm für ältere Arbeitnehmer bietet, auch auf den Aspekt zurück, „dass sich das Pensionssystem alle paar Jahre ändert, was die Menschen verunsichert. Sie wollen auf ihre wohlerworbenen Rechte nicht verzichten“.

Doch in den vergangenen zwei Jahren macht sich ein Gesinnungswechsel bemerkbar. Parallel zu den genannten Fakten nimmt jene Anzahl von Menschen zu, die länger im Job glücklich bleiben will. „Ich habe 2001 begonnen, beim Seniorenbund zu arbeiten“, erzählt Susanne Walpitscheker, heute dort Vize-Generalsekretärin. „Nahezu wöchentlich erhielten wir Briefe, in denen sich Menschen erkundigten, wie sie früher in Pension gehen könnten. Seit 2010 verhält es sich umgekehrt: Seither bitten Menschen um Hilfestellung, weil sie länger im Berufsleben bleiben wollen.“
Zahlreiche Angebote unterstützen die Trendwende – schließlich ist es deklariertes EU-Ziel, dass die Beschäftigungsquote der Arbeitnehmer jenseits der 50 bis ins Jahr 2020 bei 75 Prozent liegen soll. Die Pensionsbonifikationen werden ab 2014 von derzeit 4,2 Prozent auf 5,1 Prozent jährlich angehoben und können bis zu maximal drei Jahre beansprucht werden. Und auch wenn die Zahl immer noch verschwindend gering ist, setzt eine wachsende Zahl von Unternehmen auf die Expertise älterer Arbeitnehmer.

Parallel dazu entstehen Initiativen wie das Projekt „Länger Arbeiten“ des Austrian Senior Experts Pool (ASEP). „Wir arbeiten eng mit dem AMS und der Wirtschaftskammer zusammen, um sogenannten Unruheständischen, also Leuten, die nicht in Pension gehen wollen, neue Möglichkeiten zu zeigen“, so ASEP-Präsident Konrad Steinbach. „Außerdem unterstützen wir Unternehmungen mit unseren Netzwerken, unsere Experts helfen Businesspläne zu erstellen. Wir sind keine Philosophen, wir bieten effektive Lösungen.“

Einen Startvorteil beim Karrieremanagement im letzten Lebensdrittel genießen naturgemäß die Selbstständigen, da ihnen keiner vorschreiben kann, wann sie aufhören müssen. Ist es ihnen gelungen, bis ins Pensionsalter ihren Betrieb gut zu führen, so können sie dieses auch weiterhin getrost ignorieren.

Keine Muße fürs Garteln
Pünktlich an seinem Sechziger verabschiedete sich Hans-Heinz Leimer (Foto) in die Pension. Dort wollte der Kürschnermeister – abgesehen von der Betreuung der einen oder anderen Stammkundin – eigentlich auch bleiben. Wäre ihm nicht die Anti-Pelz-Bewegung dazwischengekommen. „1988 hat der Pelzschutz in Österreich begonnen. Es wurden die Vier-Pfoten gegründet“, sagt Leimer, als wäre es gestern gewesen. „Seither wurde es mit der Kürschnerei immer schwieriger.“

Sein Sohn, ebenfalls gelernter Kürschner, arbeitete zwar damals bereits bei ihm im Betrieb, begann jedoch parallel dazu als Versicherungsmakler sein Einkommen aufzubessern. Mit der Zeit löste beim Juniorchef der eine lukrativere Job den anderen problembehafteten ab. So stand Hans-Heinz Leimer, der bis 2010 stellvertretender Innungsmeister war und bis 2015 noch die Funktion des Vorsitzenden der Gesellenprüfungskommission innehat, erneut bald wieder jeden Tag in seinem Geschäft am Dornerplatz in Wien Hernals.

„Ich habe immer gern gearbeitet, deshalb bedeutet dies keine Strafe für mich“, lacht der sportlich-schlanke 75-Jährige. „Im Gegenteil, mein Beruf ist mein Hobby – ich wäre nicht der Mensch, der im Alter zu Garteln beginnt.“ Kurz habe er versucht, sich vorzustellen, wie dieses andere Dasein, von dem so viele Österreicher ihr Erwerbsleben lang träumen, aussehen könnte: „Ich wäre jeden Tag zur Konditorei Aida in den ersten Bezirk gefahren, hätte meinen Kaffee getrunken, die Gespräche rund um mich herum belauscht und anderen bei ihrem Tun zugeschaut. Das hätte mir einen Monat lang gefallen, vielleicht einen zweiten. Nur, wie wäre es dann mit mir weitergegangen?“

Sicher – in den vergangenen 15 Jahren gab es immer wieder Momente, in denen er daran dachte, seinen Laden dichtzumachen. „Aber dann kommen die Stammkundinnen und sagen: ,Gehen S’ Herr Leimer, Sie schauen doch noch so gut aus!‘ Ich kann immer nur für ein oder zwei weitere Jahre planen. Ich habe mehrere Herz-Stents, doch es geht mir gut.“ Ein wirtschaftlicher Erfolg wie einst sei das Geschäft heute nicht mehr: „Wäre ich nicht nach wie vor so stark als Gutachter in Schadens- oder Streitfällen gefragt, würde es sich für mich wirtschaftlich nicht ausgehen. Meine Geschäftskosten sind deutlich höher als die Erträge durch reine Pelzverkäufe oder -lagerungen“, gibt er offen zu.

Bis vor drei Jahren habe er noch Wettbewerbe organisiert, bei denen junge Modeschüler aus den Fellen heimischer Tiere, die gegessen werden, Entwürfe nähten. Hans-Heinz Leimer zieht, zwischen Nerz und Waschbär gut versteckt, einen schwarz-beigen, im Matrosen-Look gestreiften Persianermantel hervor und lächelt wehmütig: „Sehen Sie, so stellen sich heute die Jungen einen Pelz vor.“

„Koa Batzl“ schaffensmüde
Soll keiner sagen, dass in so einem Alter nicht mehr viel passiert. Denn auch wenn all ihre Freundinnen und Freunde schon gestorben sind, führt Thresl Handl immer noch ein geselliges Dasein. Trotz ihrer 101 Jahre schafft es die agile Kämpferin, deren Lebenselixier es ist, Wirtin zu sein, Stammgäste an ihr Haus zu binden. Nicht nur die älteren Herrschaften im Ort oder die treuen Gäste aus Deutschland, die seit mehr als 50 Jahren jeden Sommer in den „Harhamwirt“, der an der B33 in Saalfelden liegt, einkehren, sondern auch die Jungen. Sie kennt sich aus, wer mit wem, wann die ersten sich scheiden lassen und dann doch wieder zusammenkommen. „Verrückt ist das“, sagt sie kopfschüttelnd.

Ihr Tag beginnt um acht Uhr früh mit dem Schlichten des Holzes, mit dem sie den Küchenherd einheizt. Will das Holz nicht so, wie sie es braucht, weil etwa ein Nagel heraussteht oder zwei Scheiter ineinander verkeilt sind, wird sie energisch und schimpft: „So a Sau!“. Danach stellt sie Kartoffel auf, um ihre berühmten Erdäpfelnidei, eine regionale Spezialität, oder Zwetschkenknödel zuzubereiten. Alternierend dazu gibt es auch Schweinsbraten oder Gulasch. Gegen elf Uhr finden sich die ersten Gäste ein und bleiben bei Bier und Schnaps oft mehrere Stunden bei ihr hängen. „Manchmal versammeln sich bis zu 20 Menschen in ihrer Küche, ich weiß gar nicht, wie sie das schafft“, erzählt ihr Enkelsohn, der Filmemacher Richard Rossmann fasziniert, der seiner „Omami“ mit dem Filmporträt „Tagaus, tagein“ ein pathosfreies, dennoch liebevolles Denkmal setzte. Sie meint nur trocken: „Noch tut es, weil ich noch weiter kann. Aber wenn ich nicht mehr weiter kann, dann tue ich gern sterben.“

Die Einkäufe erledigt ihre Tochter Maresi, 65 Jahre alt. Ihr Sohn Hans – mittlerweile selbst 78 Jahre alt und phasenweise von einem Prinz-Charles-Syndrom befallen, weil seine Mutter die Gastwirtschaft nie an ihn abgeben wollte – bewirtschaftet die Landwirtschaft, die zu ihrem Wirtshaus gehört, in dem sie mit Hund Tina und einer Katze lebt. Vor ein paar Jahren noch versuchte die Familie, Thresl Handl dazu zu überreden, ihren Enkelsohn in Berlin zu besuchen – Rossmann wohnt und arbeitet, wenn er nicht im Pinzgau ist, auch in der deutschen Hauptstadt. Dort hat er seinen neuen Film „Max und die Anderen“ gedreht, der im September in Rom Premiere haben wird. Aber sie will und wollte nie in die Fremde: „Ich könnte nicht sein, wo kein Berg ist. Interessiert mi koa Batzl net“, sagt sie trotzig. Umso glücklicher macht es sie, wenn die Menschen zu ihr kommen. Vor allem abends, wenn es keine Sperrstunde gibt und man sich beim „Harhamwirt“ zum Kartenspielen trifft. „Sie will, dass die Gäste recht lange bei ihr bleiben“, erzählt Rossmann. „Und das Lustige ist, dass meist auch sie diejenige ist, die beim Kartenspielen gewinnt.“

Der doppelte Seiltänzer
„Ich war nie im Pensionsalter. In meinem Beruf gibt es so etwas nicht“, sagt Erich Lessing und lehnt sich alles andere als enttäuscht zurück. So ein Satz lässt sich natürlich nur dann gelassen aussprechen, wenn er ausreichend mit Erfolg gepolstert ist: „Als Fotograf arbeitest du, solange du Aufträge und Spaß hast. Es ist ein Seiltänzer-Beruf, der ganz davon abhängt, wie sehr dich der Markt braucht.“ Erst im Vorjahr fotografierte der Doyen der Fotografie und Mitglied der weltweit renommierten Fotografenkooperative Magnum (die außer Lessing nur noch zwei andere Österreicher – Inge Morath und Ernst Haas – aufnahm) für das Klimt-Zentrum am Attersee eine Serie, für die er sich auf die Spurensuche der Klimt’schen Landschaften begab. „Klimt hat die Gegend durch ein Fernrohr betrachtet und diese Verdichtung auf seine Bilder übertragen. Das ist mir natürlich nicht gelungen, weil ich nicht gleichzeitig durch ein Fernrohr und eine Kamera schauen kann.“ Mit dem Ergebnis seiner Arbeit ist er trotzdem zufrieden, die Ausstellung im Salzkammergut war ein Erfolg – nun sind die Bilder bis in den Herbst in seiner im Vorjahr eröffneten Galerie in der Wiener Weihburggasse zu sehen.

Womit man bei Lessings zweitem Seiltanz-Akt wäre: „Solange die Miete erträglich bleibt und die Besucher nicht weniger werden, wird es die Galerie geben“, sagt er. Dass er sich mit 89 Jahren unter die Kunsthändler begab, war dem Umstand zu verdanken, dass das gut überschaubare Innenstadtlokal vor einem Jahr von seiner vormaligen Betreiberin geräumt und damit eine ideale Heimat für Lessings umfangreiches Archiv frei wurde – derzeit besteht dieses aus rund 4000 Vintage-Prints und 60.000 digital verarbeiteten Originalen. „Österreich ist kein visuelles Land, sondern ein musisches, daher gibt es bei uns keine ausgeprägte Sammlerkultur“, macht er sich nichts vor, ortet aber gleichzeitig zarte Veränderung: „In den vergangenen Jahren haben rund sieben Galerien in Wien aufgemacht, die entweder ausschließlich Fotografien zeigen oder diese in ihren Fokus rücken. Vielleicht auch, weil es doch nicht so viele Menschen gibt, die das Geld haben, sich einen Picasso in die Wohnung zu hängen.“

Wenn er in Wien ist – noch immer reist der 90-Jährige erstaunlich viel in der Welt herum –, schaut er fast täglich in seiner Galerie vorbei, die von einem jungen Team geführt wird. Gibt Interviews, hält Vorträge, signiert die Prints, die man über seine Homepage (www.lessing-photo.com) in unterschiedlichen Ausführungen erwerben kann. Und er entwickelt unermüdlich Ideen, um den Ort attraktiv zu halten: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen Bilder dann kaufen, wenn sie zu deren Sujets einen weitläufigen, familiären Bezug erkennen. Also werde ich schon demnächst zu unterschiedlichen Themen Sammlermappen
zusammenstellen.“

Doch nicht Geschäftseifer ist es, der den großen Geschichte-Erzähler treibt, sondern Lust auf Fortsetzung, wenn auch mit anderen Mitteln – und Freude am Aktivsein: „Würde ich in Paris oder New York leben, hätte ich sicher einen anderen Kundenkreis. So aber habe ich in erster Linie Spaß, den ich mir so lange leiste, solange er mich nicht zu viel kostet. Außerdem macht es ganz große Freude, nochmals all die eigenen Bilder zu sehen.“

Der sportliche Mentor
Das ist nicht oft so in Österreich. Aber hin und wieder gibt es Momente, in denen Angestellte die selbstständig Tätigen beneiden. „Mein bester Freund ist Weinbauer“, erzählt der 65-jährige Bankangestellte Hubert Beck. „Immer wenn er sich über seine Arbeit beschwert, sage ich ihm: ,Sei doch froh, du kannst wenigstens arbeiten, so lange du willst!‘“ Denn für Beck sind diesbezüglich die Jahre gezählt. Er ist zwar heute Teil des Lifetime-Projekts, das er selbst im Jahr 2003, damals als Personalentwickler der Erste Bank, mitinitiiert hat und das einer überschaubaren Anzahl von langjährigen Mitarbeitern altersadäquate Arbeits- und Entwicklungsbedingungen ermöglicht. Allerdings muss Beck, seit er das Pensionsalter erreicht hat, Jahr für Jahr seinen Vertrag neu ausverhandeln.
Derzeit engagiert er sich als Mentor für jüngere Arbeitnehmer der Bank, die kurz davor sind, erstmals eine Führungsposition zu beziehen. Jeden Montag und Dienstag ist er in der Personalabteilung der Bank anzutreffen, in der er zuvor jahrzehntelang tätig war – „wobei ich natürlich auch an jedem anderen Tag ins Büro kommen würde, wenn es notwendig ist“.

Beck zählt nicht zur Gruppe jener Arbeitnehmer, die bis zum regulären Pensionsantritt, der in seinem Fall im April erfolgt wäre, mit einem geistigen Stundenfresser durchs Leben gelaufen sind. Ganz im Gegenteil: „Meine Tätigkeit hat mir immer sehr viel Spaß gemacht, und innerlich habe ich überhaupt nicht eingesehen, warum ich jetzt aufhören soll, nur weil ich 65 Jahre alt geworden bin. Also habe ich ein halbes Jahr vor dem Stichtag das Gespräch mit meinen Vorgesetzten gesucht und konnte zumindest fürs Erste meinen ursprünglichen Job, wenn auch ab nun in eingeschränkter Form, um ein Jahr verlängern.“ Wie es nach Ablauf desselben weitergehen wird, „entscheidet der Arbeitgeber – aber auch die Arbeitsplatzsituation im Unternehmen“.

Der Freizeitüberschuss, mit dem er seit einem Vierteljahr konfrontiert ist, stellt für ihn derzeit kein Problem dar: „Ich bin sehr sportlich, gehe viel Rad fahren, sehe vermutlich aus diesem Grund auch nicht wie ein 65-Jähriger aus, fühle mich jung.“ Was er allerdings beobachtet: „Obwohl ich immer noch jede Woche zwei Tage in der Bank arbeite, bin ich nicht mehr so auf dem Laufenden wie in der Zeit, als ich noch einen Fulltimejob hatte. Der Informationsfluss lässt nach.“ Besonders erfreulich für ihn jedenfalls ist, dass er noch für einige Zeit einen der schönsten Aspekte seines Berufs konservieren kann, nämlich die Anerkennung: „Die jüngeren Kollegen, mit denen ich arbeite, sind stark auf mich fixiert, schließlich kann ich ihnen viel von meiner Erfahrung weitergeben.“

Foto: Walter Wobrazek für profil