Digitalisierung und Arbeitszeit: Wenn der Job nie aufhört

Die Digitalisierung der Wirtschaft lässt keinen Stein auf dem anderen - nicht einmal bei der Arbeitszeit. Um die Wettbewerbsfähigkeit zu halten, fordern immer mehr Manager rasche Flexibilisierung. Psychologen warnen vor zusätzlichen Belastungen für die Belegschaft.

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"Ein kreativer Job hört nur selten auf, wenn man das Büro verlässt, und startet meist schon, bevor die Chance auf den ersten Espresso besteht. Viele Dinge sind nicht immer planbar, so wie ein Telefonat mit der Geschäftsleitung am Abend. Durch das Handy kann ich unabhängig von Zeit und Ort arbeiten, bin aber permanent verfügbar und muss reagieren, wenn ein unerwarteter Auftrag zu erledigen ist. Ich bin sicher, diese Situation betrifft heute immer mehr Menschen und Berufsgruppen.“ Auch bei A-Trust hat das Tempo, das aus der Datenleitung kommt, den Business-Alltag verändert - Julia Wolkerstorfer, die bei jenem Lösungsanbieter für digitale Signaturen den Bereich PR und Kommunikation betreut, kennt die Folgen aus der Praxis. Etwa die fließenden Grenzen zwischen Dienstschluss und Privatsphäre, wenn abends noch Mails auf Beantwortung warten. "Die Geschwindigkeit im Job wird weiter zunehmen“, prophezeit die 34-Jährige. "Höhere Flexibilität der Arbeitszeit ist kaum zu vermeiden, denn Digitalisierung bedeutet - zumindest theoretisch - eine Sieben-Tage-24-Stunden-Verfügbarkeit. Somit schafft sie neue Rahmenbedingungen.“

Die Veränderung geschäftlicher Abläufe durch das Internet dreht an den Unternehmens-Uhren. Das aktuelle Arbeitszeitmodell, großteils basierend auf der Gesetzgebung der 1960er-Jahre, also aus einer Epoche, in der Farbfernsehen ein technisches Highlight darstellte, gerät immer stärker unter Beschuss. Eine Befragung des Beratungsunternehmens Sopra Steria Consulting unter deutschen Führungskräften übermittelt dazu handfeste Indizien: Neun von zehn Entscheidungsträger glauben, bezüglich der Arbeitszeit-Begehrlichkeiten ihres Personals künftig offener sein zu müssen.

Diese Tendenzen kommen nicht zuletzt den Bedürfnissen jüngerer Personen entgegen, die eine wesentlich elastischere Gestaltung ihrer Arbeitszeit erwarten

"Generell fördert Digitalisierung aufgrund der starken Vernetzung die Flexibilisierung von betrieblichen Abläufen. Mitarbeiter sind somit weniger an die Räumlichkeiten der Firma gebunden und können Tätigkeiten außerhalb des Büros verrichten. Damit verliert die Durchgängigkeit eines herkömmlichen Arbeitstages an Bedeutung. Diese Tendenzen kommen nicht zuletzt den Bedürfnissen jüngerer Personen entgegen, die eine wesentlich elastischere Gestaltung ihrer Arbeitszeit erwarten“, betont Werner Girth, Experte im Beratungsunternehmen KPMG.

Neben Digital Natives finden auch Wirtschaftskapitäne Gefallen an der Auflösung scheinbar angestaubter Job-Relikte. Der Daueralarmton aus vielen Chefetagen klingt wenig überraschend: Ohne Neuordnung sei der Weg in die Sackgasse unvermeidlich, weil Betriebe mit den Spielregeln einer digitalisierten Welt nicht mehr Schritt halten könnten. Österreichs Industriebetriebe stehen in einem ständig schärfer werdenden internationalen Wettbewerb, das Marktumfeld wird stetig volatiler. "Flexibleres Arbeiten schafft mehr Spielräume für Unternehmen und macht es leichter, kunden- und bedarfsorientierter zu agieren. Aus diesem Mehr an Entrepreneurship lassen sich Marktpotenziale wesentlich einfacher erschließen“, unterstreicht Günter Thumser, Präsident von Henkel CEE.

Mitarbeiter aus Osteuropa, die sich bei uns zur Ausbildung befinden, reagieren gelinde gesagt verblüfft, wenn wir sie strikt nach Hause schicken

Einer der Betablocker für geschäftliche Höhenflüge ist natürlich bereits identifiziert und liegt ihm so wie seinen Kollegen durchaus nachhaltig im Magen: die Tageshöchstarbeitszeit von zehn Stunden. "Mitarbeiter aus Osteuropa, die sich bei uns zur Ausbildung befinden, reagieren gelinde gesagt verblüfft, wenn wir sie strikt nach Hause schicken, um der Vorgabe zu entsprechen. Sie wollen aber dazulernen, ihre Projekte voranbringen und verstehen nicht, warum sie daran gehindert werden“, äußert Thumser seinen Unmut über vorhandene Hürden.

Nach wie vor ist Österreich mit einem geringen Investitionsniveau und weiterhin wachsenden Arbeitslosenzahlen konfrontiert - im Gegensatz zum europäischen Trend: Es ist nur eines von drei EU-Mitgliedsländern, in denen die Arbeitslosigkeit weiter steigt. Moderne und flexiblere Arbeitszeitregelungen könnten daher auch ein wichtiger und kostenneutraler Impuls für Investitionen, Wachstum und Arbeitsplätze sein. Wie wichtig die Industrie und die mit ihr verbundenen Sektoren für die Beschäftigung im Land sind, zeigen Daten des industriewissenschaftlichen Instituts: Trotz aller Wachstumsschwäche und Belastungen sichert dieser Wirtschaftssektor direkt und indirekt bis zu 2,5 Millionen Arbeitsplätze.

Damit heimische Betriebe nicht zwischen Web 2.0. und Industrie 4.0. in Crash-Gefahr geraten, wäre etwa die Anhebung der zulässigen Tageshöchstarbeitszeit bei Gleitzeitmodellen von zehn auf zwölf Stunden ein wichtiger Fortschritt - und das bei gleichbleibender Wochenarbeitszeit von 40 Stunden, wie bereits im aktuellen Regierungsprogramm vorgesehen. Hier betonten Industrievertreter, dass es nicht darum gehe, in Summe mehr zu arbeiten, sondern dann, wann es sinnvoll ist - praxisgerecht für Unternehmen, flexibel für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Wir wissen zwar noch nicht, wohin die Reise der Digitalisierung geht, ihre Chancen sollten aber genutzt werden

Außerdem verweist so mancher Verantwortliche darauf, dass gar nicht so wenig Arbeitnehmer Beifall spenden würden, sollte die Zehn-Stunden-Regelung endgültig in Pension gehen. Veit Schmid-Schmidsfelden, Unternehmer und Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales der Industriellenvereinigung, sieht Vorteile für das Personal: "Wir wissen zwar noch nicht, wohin die Reise der Digitalisierung geht, ihre Chancen sollten aber genutzt werden. Projektmanager oder Entwickler schauen mich immer wieder verwundert an, wenn ich ihnen sage, dass nach zehn Stunden Schluss ist. Diese Mitarbeiter wollen ihre Arbeitszeit möglichst autonom gestalten. Das Resultat ist nicht nur höhere Effizienz, sondern ebenso gesteigerte Arbeitszufriedenheit durch mehr Selbstverantwortung.“

Was in der Theorie sinnvoll klingt, hat Martina Paul bei ITSV bereits im Testlauf. Ihre Funktion als Bereichsleiterin Software Operations im Hause des IT-Lösungsanbieters für die Sozialversicherung verläuft abseits gewohnter Strukturen: "Der klassische Bürotag von 9 bis 17 Uhr existiert für mich nicht. Es gibt nur mehr Jahresziele und strategische Ziele. Wie ich diese erreiche, bleibt mir überlassen. Technisch wie sozial besteht die Option, unter Beachtung der Rahmenbedingungen und in Absprache mit den Vorgesetzten selbst zu entscheiden, wann und wo ich meine Arbeit erledige. Ohne ein steifes Zeitkorsett, in das ich mich irgendwie zwängen muss.“

Solche Worte dürften Balsam auf die Seelen aller Newcomer sein, die durchwegs auf Augenhöhe mit der Digitalisierung agieren: Bei Online-Start-ups wie Yipbee bestellt der Kunde via Internet seine Lebensmittel. Personal Shopper sowie Fahrer erledigen dann den Einkauf im Großhandel Metro Cash & Carry und liefern die georderten Produkte österreichweit aus. Während der Verbraucher also nach wenigen Klicks sein Joghurt genießen kann, schmeckt Yipbee-Gründer Umut Kivrak das aktuelle Zeit-Menü nicht sonderlich: "Eine junge Firma benötigt flexible Modelle, um die Kosten schlank zu halten. Diese sollen mit dem Betrieb wachsen, nicht umgekehrt“, lautet seine Analyse. Kivrak beschreibt die Zwickmühle, in der gerade junge Unternehmen oft stecken, folgendermaßen: "Der Kunde will eine prompte Zustellung. Dafür bräuchten wir idealerweise mehrere Shopper auf Abruf, die variable Kosten verursachen, speziell wenn nur eine Bestellung vorliegt. Derzeit sind die Mitarbeiter angestellt, und so fällt selbst bei wenigen Aufträgen die volle Belastung an. Nötig sind vom Land geförderte flexible Modelle für Start-ups.“

Work-Life-Balance sollte nicht bedeuten, dass man sich in einer Phase für den Job aufopfert und später dafür mehr Freizeit bekommt

Trotz aller Hinweise auf die Dringlichkeit neuer Verhältnisse finden sich bei diesem Thema auch kritische Stimmen. Angesichts eines Zwölf-Stunden-Tages befürchten manche Experten insgesamt mehr Belastungen und weniger Ruhephasen für Betroffene - auch dann, wenn die maximale Wochenarbeitszeit gleich bleibt. Arbeitspsychologin Veronika Jakl betrachtet etwa das Argument der besseren Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit kritisch: "Work-Life-Balance sollte nicht bedeuten, dass man sich in einer Phase für den Job aufopfert und später dafür mehr Freizeit bekommt. Das Ziel müsste eine durchgängige Passform aller Lebensbereiche sein.“

In der Realität bringt den meisten Menschen ein langes Wochenende nichts, wenn sie dafür an bestimmten Tagen von 8 Uhr bis 20 Uhr arbeiten und sich darüber hinaus um außertourliche Kinderbetreuung kümmern müssen.“ Dieser Problematik ist man sich in Wirtschaftskreisen bewusst: "Nichts soll übertrieben werden, was die Flexibilisierung der Arbeitszeit und mögliche Belastungen betrifft“, bestätigt Veit Schmid-Schmidsfelden. "Es geht nur um angemessene Reaktionen auf die voranschreitende Digitalisierung.“