Die Geografie der Erinnerung

Istanbul: Weltmetropole der verschärften Gegensätze

Istanbul. Die Metropole am Bosporus präsentiert sich als Großraum verschärfter Gegensätze

Drucken

Schriftgröße

Umwege erhöhen nicht zwingend die Ortskenntnis. Der Arbeitsplatz von Petra Pronegg liegt im geografischen Mittelpunkt Istanbuls, im Herzen der Stadt. Will man ihr einen Besuch abstatten, sind Unterführungen und Stiegen zu überwinden, sind Gotteshäuser, Geldinstitute und kommunale Gebäude, die Palästen gleichen, zu passieren. Bereits die Wegbeschreibung mit der Zieladresse Kart Cinar Sokak 2 klingt kompliziert: vom Galataturm nach rechts, Richtung Spital, dann links bis zu einer kleinen Moschee, von dort wieder nach rechts, vorbei an einem weiteren Krankenhaus; oberhalb des Treppenaufgangs, in der Straße mit den Kreditinstituten, beim hellen Gebäude mit der türkischen Fahne, sei der Eingang zur Bibliothek am St.-Georgs-Kolleg zu finden, der stadtweit einzigen Sammlung mit österreichischer Literatur. Petra Pronegg, die Leiterin des Bücherspeichers, kennt die lange Mobilnummer des Portiers der Institution auswendig. Besuchern rät sie, die Zahlenkombination griffbereit zu halten. Im Gewirr der Gassen rund um den Galataturm, Wahrzeichen und Landmarke am Nordufer des Goldenen Horns, ist der höfliche Hauswart für Ortsunkundige oft die letzte Hilfe.


Größere Kartenansicht

Das Innenstadtviertel Karaköy, seit 2007 Standort der Bibliothek, wirkt mit seinem verwinkelten Straßennetz wie eine Miniaturausgabe der 20-Millionen-Stadt, wie ein urbaner Kosmos im Kleinen, eine Welt des Neben- und Gegeneinanders. Die meisten Bewohner des Viertels sind Moslems, bis vor zehn Jahren galt das Grätzel als Arme-Leute-Gegend, in der Strom und Wasser noch rationiert wurden. Inzwischen werden viele der baufälligen Häuser aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr abgerissen, sondern aufwändig renoviert und teuer vermietet. Boulevards grenzen an verschattete Gassen, in denen die Geschäfte untertags mit nackten Glühbirnen beleuchtet werden. In den engen Passagen drängen sich fahrende Händler und Einheimische, dazu Touristen, bäuchlings umgeschnallter Rucksack und fest umklammerter Fotoapparat; junge Burschen schlängeln sich durch den Menschenpulk, Tabletts mit Tee und Mittagessen balancierend. Das tumultartige Treiben wird von Fuhrwerken, Handwagen und Autos im Schleichtempo abgerundet. Stoisch schiebt ein Maronibrater seine Verkaufsstation auf Rädern durch die Gasse. Pkw-Lenker in Istanbul sind, so scheint es, vorschriftsmäßig zum Dauerhupen verpflichtet.

Gemeinsam mit dem deutschen Essen und dem ungarischen Pécs teilt sich Istanbul heuer den Titel „Kulturhauptstadt 2010“. Die große Unübersichtlichkeit der Stadt trägt, von einigen hauswandgroßen Plakaten abgesehen, nicht zur Wahrnehmung gesteigerter kulturhauptstädtischer Aktivitäten bei.

In Karaköy gibt es Synagogen, Moscheen und christliche Kirchen mit katholischer, armenischer, russischer, orthodoxer, türkisch-orthodoxer, syrianischer Ausrichtung. Petra Pronegg wird von ihren Kollegen nur „Schwester Petra“ gerufen. Im melodiösen Türkisch der ortsansässigen Bibliotheksmitarbeiter sticht Schwester Petra spaßig hervor.

Pronegg, 1959 in der Steiermark geboren, gehört dem Orden der Barmherzigen Schwestern an. Sie ist hier die letzte Vertreterin jener Religionsgemeinschaft, die in Istanbul vor mehr als hundert Jahren ein Waisenheim gründete, das später in eine deutschsprachige Schule samt Krankenhaus umgewandelt wurde; die beiden Einrichtungen werden inzwischen von einer Abordnung des Männerordens der Lazaristen geleitet. Seit 1977 ist die Ordensfrau am St.-Georgs-Kolleg als Fachsprachenlehrerin für Mathematik und Naturlehre tätig, als sie nach Istanbul kam, beherrschte sie auf Türkisch gerade einige Zahlen und ein Schimpfwort („Sohn eines Esels“).

„Viele glauben, wir befinden uns in einem Entwicklungsland“, sagt Pronegg, lustige Augen im runden Gesicht, in dunkelgraue Amtstracht gewandet. „Gerade bei Besuchen in Österreich wird mir häufig die Frage gestellt:, Was machst du denn da unten?‘ Alexander von Humboldt stellte einst fest, dass Istanbul überhaupt die schönste Stadt sei. Viele wären überrascht, wie modern dieser Weltort der Kultur, Wirtschaft und Innovation ist. Dennoch bedaure ich, dass sich Istanbul immer mehr dem Bild einer europäischen Stadt anpasst.“

Schwester Petra steht nach Absolvierung eines zügigen Fußmarschs durch winkelige Gänge und über breite Treppen auf einer der Terrassen im achten Stock des weitläufigen Gebäudekomplexes. „Die lange Geschichte dieser Stadt fasziniert mich, den Ruf des Muezzin liebe ich“, sagt Pronegg. Sie kann ausschweifende Monologe halten, gespickt mit Details und Jahreszahlen, über die historischen Zentren, die Gotteshäuser und Kunstbauwerke, die Basare, Bahnhöfe und Brücken, und sie verweilt gern auf dem Flachdach, das Panorama der Metropole im Blick. Ihr ausgestreckter Zeigefinger deutet auf viele Punkte entlang der Stadtsilhouette, auf Stadtviertel und Flussverläufe, auf Monumente und Moscheen.

Links sind der Bosporus und das Marmarameer zu sehen, dazu ein Teil von Kadiköy, dem Stadtteil auf der asiatischen Seite des Festlands: Istanbul ist die einzige Megacity des Globus, die sich über zwei Kontinente erstreckt. Es bietet sich das Bild einer Idylle: Das Blau des Meeres ist dunkel, bis in die Ferne meint man zu erspähen, wie sich Wellen bilden und brechen.

Klassiker & Bestseller. Schwester Petra lenkt die Aufmerksamkeit auf die europäische Seite, in Richtung Topkapi-Palast, des ehemaligen Regierungssitzes der Sultane. Der Kuppelbau der Hagia Irene, der ersten Kirche des ehemaligen Konstantinopel, ist im Dunst der Stadt schwer auszumachen. „Und da, die Hagia Sophia, einst größte Kirche des Christentums, dann Moschee, heute Museum. Dort drüben befindet sich die Blaue Moschee, offizieller Name: Sultanahmet Camii, ab 1609 im Auftrag von Sultan Ahmet I. erbaut, eines der seltenen islamischen Gotteshäuser mit sechs Minaretten“, erklärt die Hobbyhistorikerin. Sie weist auf steil aufragende Spitztürme hin, zählt Namen auf, das Wort „Camii“, zu Deutsch: Moschee, verschluckt sie: „Rüstem Pa, Süleymaniye, Yeni, Fatih sowie Eyüp, eine der heiligsten der Stadt.“ Man muss sich als Besucher schon Zeit nehmen, um die von Petra Pronegg auf der Veranda des St.-Georgs-Kollegs spontan erstellte Liste sehenswerter Istanbuler Orte und Plätze auch nur annähernd abzuhaken.

Neben dem Großen Basar und dem Gewürzmarkt empfiehlt die Kennerin eine Bosporus-Rundfahrt sowie eine Bustour quer durch die Stadt, um einen Eindruck von den modernen Randbezirken zu erhalten; zudem regt die weltzugewandte Ordensfrau eine Visite des archäologischen Museums und einen Besuch der ehemaligen byzantinischen Chora-Kirche an. „Als Ausklang vielleicht ein Heißgetränk mit traditioneller Backkunst auf der Aussichtsterrasse des Restaurants, Pierre Loti‘ im Stadtteil Eyüp gefällig?“, beendet Pronegg, rein rhetorisch, ihre virtuelle Istanbul-Tour.

Pierre Loti (1850–1923) war ein französischer Weltreisender und Schriftsteller mit einem Faible für die Stadt zwischen den Erdteilen. Der heute nahezu vergessene Autor schier unzähliger Romane und Reiseberichte, viele davon Bestseller des ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts, ist Teil von Proneggs dritter großer Leidenschaft. Neben der Gottgefälligkeit und der Geschichte Istanbuls befasst sich die Ordensdame gern mit Literatur.

Seit Mai 2007 leitet sie, so rührig wie resolut, die im Kellergeschoß des Kollegs untergebrachte, rund 7000 Bände umfassende Österreich-Bibliothek. Die Kennzeichnung an den Buchrücken ist rot-weiß-rot; Klassisches von Grillparzer, Nestroy und Raimund ist in den massiven Bücherkästen mit Glasschiebetüren ebenso vorrätig wie Franz Michael Felders Außenseiterbericht „Aus meinem Leben“, Thomas Glavinics aktueller Bestseller „Das Leben der Wünsche“ und Michaela Falkners verspielte Sprachexperimente. Auf der türkischen Übersetzung von Thomas Bernhards 1986 veröffentlichtem Roman „Auslöschung“ ist der Autor in Angriffsstellung, mit wutverzerrtem Gesicht und einem Messer in der Hand, abgebildet. Als Petra Pronegg einen Erzählband von Jürg Amann zufällig in einem der Regale entdeckt, wird die Publikation des Schweizer Autors, der in einem österreichischen Verlag publiziert, kurzerhand aus der Austro-Bücherei entfernt. „Der kommt rauf in die Schulbibliothek“, sagt sie.

Geplänkel. Den Bücherkeller ziert ausnahmsweise kein Mustafa-Kemal-Atatürk-Foto, es findet sich auch kein Standbild des „Vaters der Türken“. In jedem Klassenraum der Schule hängt, neben einem Porträtfoto, des Politikers „Rede an die Jugend“ und die Landeshymne hinter Glas; der Nationalgesang ist von Schülern und Lehrern regelmäßig zu intonieren, montags vor der ersten und freitags nach der letzten Unterrichtseinheit. An den Wänden der Istanbuler Literatur-Enklave hängen Poster von Thomas Bernhard, Peter Handke und Friederike Mayröcker. Dem Foto von Barbara Frischmuth hat Pronegg einen Ehrenplatz zugewiesen: Die studierte Turkologin ist häufiger Gast der Schule, die Bücher der Schriftstellerin füllen eineinhalb Regallängen. Den Band mit Gerhard Fritschs gesammelten Gedichten nimmt Schwester Petra oft in die Hand, wenn sie Besucher in den schlichten Bücherspeicher mit den weißen Bodenfliesen führt. Der 1969 verstorbene Wiener Autor überschrieb eines seiner Gedichte mit „Burgaz“ – und pries in Versform die Sommerresidenz der Schule, die auf einer gleichnamigen, rund zehn Kilometer vom Zentrum entfernten Insel liegt: „Namen, Orte. Die Geografie / der Erinnerung verdämmert.“

Eher einsilbig gibt sich das österreichische Lehrpersonal dagegen über die kürzlich erfolgten Verhaftungen türkischer Systemkritiker, die Terroranschläge von 2008, für die PKK-Sympathisanten verantwortlich gemacht werden und bei denen 17 Menschen getötet wurden. „Darüber werden nicht viele Bemerkungen gemacht“, sagt Pronegg. Sie wirkt dabei so, als wisse sie genau, worüber sie spreche. Auslandsschulen in Istanbul werden regelmäßig von staatlichen Inspektoren kontrolliert. Beinah erheiternd wirkt da jenes Geplänkel, das Pronegg seit Gründung der Bibliothek mit den behördlichen Aufsichtsorganen führt. Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933), die literarisierte Beschreibung des historischen Massakers an den Armeniern, hat sie in vorauseilendem Gehorsam ebenso aus den Buchregalen verdammt wie Karl Mays Abenteuererzählung „Durchs wilde Kurdistan“. Die Biografie über Prinz Eugen, als Oberbefehlshaber des kaiserlichen Militärs in den Türkenkriegen glorreicher Sieger über das osmanische Heer, versteckt Schwester Petra, steht Inspektorenbesuch ins Haus, kurzfristig hinter weniger belastetem Lesestoff.

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: In Istanbul, einer der am dichtesten bevölkerten Städte Europas, findet sich etwa eine überraschend umfassende Austro-Bibliothek. Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer, und die Linzer Autorin Anna Mitgutsch sammelte während mehrerer Aufenthalte in Israel Stoff für ihren Roman „Abschied von Jerusalem“ (1995); die Indien-Visiten von Büchnerpreisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk – von „Domra – Am Ufer des Ganges“ (1996) bis „Roppongi“ (2007). Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie begibt sich profil in einer neuen mehrteiligen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat – unter anderem in Rom, Tel Aviv und Neu-Delhi.

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.