Kosice: Eine Stadt und ihr vergessener, großer Literaten-Sohn
Die Idylle ruht inmitten gefährlicher Gewässer. Am Hauptplatz von Kosice liegt ein kleiner Park mit einem Teich. Sobald sich aus unsichtbaren Lautsprechern Panflötenklänge über das Areal ergießen, kommt Bewegung in und um den ehemals still daliegenden Tümpel: Fontänen schießen in die Höhe, tanzen auf und ab; Touristen verharren mit ihren Digitalkameras vor dem künstlich bewegten Weiher, den Zeigefinger auf dem Auslöser. Steigert sich das Gedudel in der Grünanlage mit sattem Crescendo zum Refrain, erreicht das Wasserwallen seinen dramatischen Höhepunkt.
In der Musikauswahl, die in regelmäßigen Abständen durch die Anlage wabert, findet sich auch "Lara's Song" aus dem Kinoepos "Doktor Schiwago". Ende der siebziger Jahre interpretierte Schlagerstar Karel Gott die Melodie als Hymne deutschen Fernwehs: "Weißt du, wohin / die Träume all' entfliehn? - Weißt du, wohin / mein Herz auf Reisen geht?"
Die öffentliche Beschallung der kleinen Gartenanlage mit dem sehnsuchtsvollen Singsang wirkt wie ein groteskes Echo auf die große kosmopolitische Vergangenheit der ostslowakischen Stadt. Das rund 230.000 Einwohner zählende Kosice, dessen Zentrum von bedrohlich anmutenden Trabantenansiedlungen umsäumt wird, ist unter mehreren Namen bekannt: Kaschau (deutsch), Kassa (ungarisch), Cassovie (französisch).
Die Chronik der 1241 gegründeten Stadt berichtet von einer wechselvollen Historie: Jahrhundertelang war die nach Bratislava zweitgrößte Stadt der Slowakei ein kulturelles und wirtschaftliches Zentrum Oberungarns. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Region der Tschechoslowakei zugesprochen; 1938 fiel das Gebiet an Ungarn, 1945 erneut an die tschechische Regierung. Seit 1993 ist die Stadt, in der große ungarische und tschechische Minderheiten leben, Teil der slowakischen Republik.
Das Haus der nationalen Minderheiten in der Mäsiarska 35 nahe dem Zentrum ist ein heruntergekommener Bau mit schmucklosem Erker und dreckverschmierten Außenfenstern. Kabel baumeln lose vom Dach, auf dem ein meterhoher, mit Gestängen übersäter Antennenmast in den Himmel ragt. Der trostlose Eingang ist mit Graffiti verziert, und die Namenszüge auf der Gegensprechanlage sind unleserlich. In das Haustor ist Glas eingelassen; eine Scheibe ist zerborsten, hinter einer anderen steckt ein Hinweis, der in wenigen Worten mitteilt, dass der in dem Gebäude untergebrachte Gedächtnisraum, der dem Schriftsteller Sándor Márai (1900-1989) gewidmet ist, aufgrund technischer Probleme auf unbestimmte Zeit nicht zugänglich sei.
Wien, Berlin, Prag, Leipzig. Die Stadt übt, so scheint es, keinen allzu pfleglichen Umgang mit ihrem berühmtesten ehemaligen Bewohner, mit einem der großen Kosmopoliten der Weltliteratur - nach Aufenthalten in Wien, Leipzig, Budapest, Prag, Frankfurt, Berlin und Paris verließ der auf Fotos zumeist grimmig dreinblickende Literat seine kommunistisch gewordene Heimat 1948 endgültig, weil ihm "nicht nur die freie Rede und Schrift verboten war, sondern auch das freie Schweigen". Die Emigration führte Márai über die Schweiz nach New York und ins kalifornische San Diego, wo er 1989 seinem Leben freiwillig ein Ende setzte.
Während im umfangreichen Werk des Romanciers zahlreiche Zeugnisse für dessen Auseinandersetzung mit der Stadt seiner Kindheit und Jugend auszumachen sind - etwa im Erinnerungsband "Bekenntnisse eines Bürgers" (1934; dt. 1996) und in "Die jungen Rebellen" (1930; dt. 2001), dem Roman einer Jugend -, finden sich in Kosice selbst nur vereinzelt Spuren, die an den Schriftsteller erinnern. In der 1942 publizierten Textsammlung "Himmel und Erde" brachte Márai seine Zuneigung in Reimform: "Bei Wind bin ich geboren, abends um acht, / Habe Kaschau geliebt und Gedichte, / Frauen, Wein und die Ehre, / Wohl auch die Vernunft, wenn sie zum Herzen / spricht / Sonst liebt' ich nichts. Den Rest kennt keiner. / Kein Bitten, kein Flehn, erbarmt euch nicht / meiner."
Die Stadt ließ den Schriftsteller zeitlebens nicht los. "Sonntagnachmittag in Kaschau, zum ersten Mal wieder seit fünfundzwanzig Jahren", vermerkte er während eines seltenen Blitzbesuchs. "Mit dem schweren Geruch des dichten Schmerzes in der Luft, des Schmerzes der Kindheit. Diese Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit, die kindliche Nervosität der Sonntage, das Halbdunkel der Kaffeehäuser ... Der ganze Schmerz der Kindheit befällt mich und streckt mich nieder in diesen Stunden; das Ungeheure, das Ungeheure der Langeweile und des schrecklichen Wartens lauert auch heute in diesen Häusern, hinter den Fenstern, unter diesen Toreingängen."
In seiner Eigenschaft als Romancier und Verfasser von autobiografischen Schriften geriet Márai während der vergangenen Jahrzehnte beinahe völlig in Vergessenheit; der späte weltweite Ruhm des Schriftstellers gründet sich unter anderem auf den 1998 ins Deutsche übertragenen Roman "Die Glut" (1942), der eine wahre Márai-Renaissance auslöste. Zahlreiche Publikationen des Vielschreibers stehen seit damals in den Regalen der Buchhandlungen: Tagebücher, Notizbände, Reisebilder, Erzählungen, biografische Texte, Gedichte. Nur in Kosice selbst harrt der Schriftsteller seiner Entdeckung.
Verlegenheitslösung. Márai verbrachte die ersten achtzehn Jahre seines Lebens in der Stadt. Exakte Angaben dazu lassen sich in Kosice nur mit Mühe finden. In einem der wenigen Stadtführer, in dem der Schriftsteller überhaupt erwähnt wird, ist etwa zu lesen, dass sich an der Stelle, wo einst Márais Geburtshaus stand, heute ein Supermarktbau namens "Dargov" befinde, ein, was Architektur und Warenangebot betrifft, nahtlos an die realsozialistische Vergangenheit des Landes anknüpfender Einkaufstempel.
Ebenso sei die Unterbringung des Hauses der Minderheiten in dem desolaten Bau in der Mäsiarska 35, so der Autor des Reisehandbuchs weiter, einst mit Bedacht gewählt worden: Unter dieser Adresse logierte Márai eine Zeit lang. Heute erinnert eine schlichte Gedenktafel an den einstigen Bewohner. In der autobiografischen Darlegung "Bekenntnisse eines Bürgers" berichtet Márai detailgenau über die an der Hauptstraße der Stadt situierte Wohnung seiner Kindheit: "Wenn ich das Wort, daheim' denke, sehe ich den breiten Hof hinter dem Haus an der Hauptstraße vor mir, die langen, vergitterten Gänge, das große Teppichklopfgestell und den Brunnen mit dem Elektromotor." Wo sich die von Sándor Márai in späteren Jahren noch öfters aufgesuchte Wohnung heute befindet - und ob sie überhaupt noch existiert -, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei klären.
Wie eine Verlegenheitslösung wirkt jenes Denkmal, das in der Nähe des Márai-Hauses in der Mäsiarska aufgestellt ist. Das Standbild grenzt an eine belebte Straßenkreuzung und ist von einem Gebäudekomplex mit rissiger Fassade und dem schreierischen Firmenschild eines Autoersatzteilhandels eingekreist. Der Dichter sitzt als lebensgroße Figur mit verschränkten Beinen auf einem Sessel, im Rücken eine Steinstele, auf der Name sowie Geburts- und Sterbejahr Márais angegeben sind. Gegenüber dem zum Mahnmal erstarrten Autor, der ein wenig dem späten Philip Roth ähnelt, befindet sich eine fix zur Assemblage zählende zweite Sitzgelegenheit. Mögliche Zwiesprache mit dem Schriftsteller hält selten einer der zahlreichen Passanten, die den Erinnerungsort kreuzen.
Das Altstadtzentrum von Kosice wird von einer sich über rund einen Kilometer erstreckenden Aneinanderreihung verschiedenfärbiger Häuschen in unterschiedlichem Verfallszustand gebildet: Schmuckkästchen grenzen an Ganz- oder Teilruinen. Im Mittelpunkt der Stadt, geografisch wie ideell, prangt eine zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert errichtete Kathedrale, Dreh- und Angelpunkt vieler Texte Márais.
In "Himmel und Erde" notierte er etwa: "Ich wusste nicht, dass dieser Dom, der Prachtbau meiner Geburtsstadt, diese mit Sorgfalt und mit dem Kunstverstand von Jahrhunderten erbaute Vollkommenheit, so großartig ist. Mit gerührtem Entzücken betrachte ich jeden einzelnen Stein. Es gibt nur wenig Vergleichbares in Europa: vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig. Diese paar Kathedralentürme, von Chartres, von Reims, von Köln, von Kaschau, bedeuteten in der verflossenen Zeit das ewige Europa."
Mittlerweile schlängelt sich ein Walk of Fame entlang der Außenmauer des Gotteshauses und versammelt eine Zahl von Prominenten, die der Stadt einst einen Besuch abstatteten oder hier zumindest bleibenden Eindruck hinterlassen haben: Steinplatten mit den Namen von Papst Johannes Paul II., Otto von Habsburg und Tenor Luciano Pavarotti zieren den Gehweg. Auch der österreichische Bundespräsident ist hierorts eine geehrte Größe: "Heinz Fischer - der Bundespräsident der Republik Österreich 14. 6. 2008" ist auf Marmorgestein an einem der Seiteneingänge eingraviert. Einen Hinweis auf den Schriftsteller, der dem Dom ein singuläres literarisches Denkmal setzte, sucht man vergebens.
Versunkene Welt. In den gut frequentierten Buchläden der Fußgängerzone, die zugleich als touristischer Trampelpfad dient, dieselbe Situation: Sándor Márai? - Nie gehört. Nur in der etwas abseits des urbanen Kerns gelegenen Sortimentbuchhandlung "ArtForum", in der ein etwas gelangweilter Verkäufer seinen Dienst versieht, sind Márai-Titel vorrätig. Auf dem Tisch gleich bei der Kassa lagern in slowakischer Übersetzung die soeben publizierten Tagebücher des Schriftstellers, die Anfang 2009 auch in deutscher Übertragung erscheinen werden. Die beiden Márai-Erinnerungsbände liegen neben einem Stapel mit Paulo-Coelho-Bestsellern.
Gleich vis-à-vis dem Dom ist ein kleines Wachsfigurenmuseum mit lustigen Exponaten untergebracht. Neben historischen Lokalberühmtheiten ist eine mit blondem Kunsthaar ausgestattete Gestalt in dem Turmbau zu besichtigen. Die wächserne Künstlerpuppe, die Andy Warhol darstellen soll, dessen Eltern aus der Region stammen, trägt auf der Nasenwurzel eine Kassenbrille mit breitem Steg und großen Gläsern. Es ist so, als ob die erstarrte Kunstfigur in einer Andy-Warhol-Parodie auftritt. Auch die freundliche Frau an der Kassa des Stadtmuseums weiß mit dem Namen Márai nicht viel anzufangen. Keine fünf Gehminuten vom vermuteten Geburtsort des Publizisten und Stilisten entfernt, in dessen Vita und Werk sich die Schrecknisse des Jahrhunderts - Krieg, Exil, Sprach- und Heimatverlust - auf drastische Art widerspiegeln, ist Márai heute ein Unbekannter. Dabei fand der Erzähler stets neue, übersteigerte Bilder, die seiner lebenslangen Leidenschaft für die "liebe Stadt, die allerliebste" Ausdruck verleihen sollten. "Die Stadt ist in dieser Stunde so gepflegt, frisch frisiert und gewaschen wie ein vornehmer Beamter, der nach dem Frühstück die Schritte in sein Amt lenkt", notierte er einmal. In die versunkene Welt seiner Kindheit versuchte Márai bisweilen auch mittels eigentümlicher Praktiken zurückzukehren: "Ich sauge diese Luft wie der Säugling die Muttermilch in mich hinein", berichtete er von einen Spaziergang durch die engen Gassen Kosices. "In ihrem Geschmack, ihrem Duft ist noch der Nachgeschmack der frühen Erfahrungen des Lebens enthalten."
Bibliothek
Bücher von Sándor Márai (Auswahl)
Von Sándor Márai sind derzeit rund zwanzig Titel in deutscher Übersetzung lieferbar, darunter die Romane "Die Glut", "Wandlungen einer Ehe", "Die Gräfin von Parma", "Die jungen Rebellen", "Ein Hund mit Charakter" und "Die Möwe" sowie die Textsammlungen "Himmel und Erde", "Schule der Armen" und "Der Wind kommt vom Westen". Für den 20. Jänner 2009 ist das Erscheinen der Tagebücher "Literat und Europäer" und "Unzeitgemäße Gedanken" angekündigt. Die beiden Bände werden von dem in Innsbruck wohnhaften Márai-Experten Ernö Zeltner, der auch einige Bücher des Schriftstellers ins Deutsche übertragen hat, herausgegeben. Die Bücher Sándor Márais erscheinen im Münchner Piper Verlag.
Reise. Die Donaumonarchie, die vor 90 Jahren ihr Ende fand, brachte eine Vielzahl von Schriftstellern und Kaffeehausliteraten hervor, deren Romane und Erzählungen in die Weltliteratur eingegangen sind - darunter so prominente Namen wie Joseph Roth, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Karl Emil Franzos, Ödön von Horváth, Stefan Zweig, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Alfred Polgar, Peter Altenberg und Felix Salten. Zudem sind viele Werke der bedeutendsten Nachkriegsautoren untrennbar mit dem habsburgischen Mythos verknüpft - etwa Robert Musils in Etappen veröffentlichter Romantorso "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-1952), Heimito von Doderers narratives Großprojekt "Die Strudlhofstiege" (1951) und Gregor von Rezzoris Stadtroman "Ein Hermelin in Tschernopol" (1958). profil begibt sich in einer mehrteiligen Serie auf Spurensuche nach den Schauplätzen zentraler literarischer Arbeiten jener Zeit.