Russisches Doppel

Russland: Eine Reise nach Moskau und St. Petersburg

Russland. Porträt eines gespaltenen Landes - eine Reise nach Moskau und St. Petersburg

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Es gibt zwei Rote Plätze. Der eine liegt in Moskau nahe der Mauer des Kremls, er misst 500 mal 150 Meter, und er ist der älteste und größte Platz der Stadt. Das Herz Moskaus, so wird das von Pflastersteinen bedeckte und von gelben und weißen Linien durchschnittene Areal genannt, das tagein, tagaus von Touristen und Einheimischen bevölkert ist. Der zweite Rote Platz liegt in der Türkei. In der Tourismushochburg Antalya ragen seit Jahren, fast maßstabsgetreu, die ikonografischen Moskauer Bauten in die Höhe: Kremlmauer, Basilius-Kathedrale und, mit viel Vorstellungskraft, das GUM-Kaufhaus. In der Mitte des Urlaubalptraumlands liegt aber kein Pflastersteinmeer. Der geballte Wille zu Erholung und Seelenbaumeln manifestiert sich in einer Badelandschaft mit Sonnenschirmen und Liegen. Es ist ein Sehnsuchtsort, der in den Sommermonaten von Russen überschwemmt wird. Es ist ein Stahlbad der guten Laune mit Lautsprecherdurchsagen und Sonnenölschwaden.


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Die Künstlerin Anna Jermolaewa wurde 1970 in St. Petersburg geboren und lebt seit 1989 in Wien. Den Kontakt zu Russland ließ sie nie abreißen. 2009 entdeckte Jermolaewa den Roten Platz in der Türkei. In einer Videoarbeit drehte sie die Schraube damals weiter. In Antalya dokumentierte sie das Ferientreiben, und sie engagierte den Doppelgänger des ehemaligen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow, den sie am Moskauer Roten Platz interviewte. Bald tauchten Zivilbeamte auf. Die Künstlerin und der falsche Gorbatschow wurden aufgefordert, den Platz sofort zu verlassen, das bis dahin entstandene Material wurde an Ort und Stelle zerstört. Im fertigen Film "Kremlin Doppelgänger“ spricht das Double in die Kamera. Der ehemalige Techniker erzählt von Sommergästen in Antalya, die ihn um Erinnerungsfotos baten, er sagt, er sei wie ein Arzt, er komme, sobald er gerufen werde, klein im Hintergrund sind im Film Kremlmauer und Roter Platz zu sehen. In einer der letzten Einstellungen wischt sich Gorbatschow II das aufgemalte Muttermal vom kahlen Schädelmassiv. Nach Drehschluss verriet der Politikerimitator der Künstlerin, dass es mindestens drei Stalin-Darsteller gebe, aber nur einen des Glasnost- und Perestroika-Initiators. Die Stalins seien ständig ausgebucht, als Gorbatschow hätte er dagegen noch den einen oder anderen Termin frei. Es geht einiges durcheinander, Russland lässt sich weniger denn je auf einen Nenner bringen.

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"Moskau ist schnell, dynamisch, spannend“, sagt Anna Jermolaewa. Sie spricht hastig, sie zerschneidet die Luft mit ihren Händen. An einem Finger trägt sie einen Ring mit Glitzersteinen, der im Licht funkelt. Man darf sie sich vorstellen als eine beharrliche Vorkämpferin für die Sache der Kunst. "Es ist aber auch eine Stadt, in der das Leben schwerfällt, in der es schwer ist, zu überleben. Als gebürtige St. Petersburgerin dürfte ich das ja nicht sagen, dennoch: Ich ziehe Moskau St. Petersburg vor. In Moskau findet sich eine vitale Kunstszene. Man nimmt voneinander Kenntnis, jede Nische ist besetzt, es findet ein ständiger Austausch statt. Nur deshalb bin ich Facebook beigetreten, um daran teilzuhaben. Moskau kann aber abstoßend wirken. Man grüßt sich hier nicht, schaut sich nicht in die Augen.“ Sie will damit sagen, dass die Moskauer nicht gerade zimperlich sind. "Kommt man mit den Menschen jedoch ins Gespräch, bemerkt man bald, dass sie freundlich und zuvorkommend sind. Man muss sich die Aufmerksamkeit der Moskauer verdienen.“ Jermolaewa unterstreicht den letzten Satz mit einer wegwerfenden Handbewegung. Die Geste sagt alles: Russland, ein Land im Zwiespalt.

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Jeder bessere Reiseführer beteuert, es gebe auch mehrere Moskaus. Da ist das Moskau der Architektur mit den unter Stalin hingeklotzten und bis heute imposanten "Zuckerbäcker“-Bauten - hoch in den Himmel ragend, mit sandsteingrauer Fassade, an denen der Beton wie von oben herabgegossen, erstarrt scheint. Sieben dieser Kolosse, teils noch mit den kommunistischen Symbolen Hammer und Sichel verziert, sind über die Stadt verstreut, in einem davon ist heute das Außenministerium untergebracht. "Sieben Schwestern“, so nennt der Volksmund die Türme, die nach 1945 von Stalins Triumph über Nazi-Deutschland zeugen sollten.

Das Moskau der Literatur und der Historie zeigt selbstbewusst, dass die Weltliteratur und die Weltgeschichte ohne russische Partizipation nur die halbe Weltliteratur und die halbe Weltgeschichte wären. Dostojewski thront auf meterhohem Sockel vor der staatlichen Bibliothek, Puschkin steht übergroß in der Fußgängerzone, Lenin-Reliefs schmücken Hauswände, aus hellem Stein scheint sich Karl Marx zu schälen. Für anderes ist kein Platz mehr.

Es gibt das Moskau der U-Bahnen mit ihren prachtbaugleichen Haltepunkten, die tief in die Erde gegraben sind, zu denen steil abfallende, endlos lange Rolltreppen führen. In vielen Haltestellen der in den 1930er-Jahren erbauten Metro sind einst ernst gemeinte Beiträge zur Verbesserung des Menschengeschlechts ausgestellt. Die Wände und Decken der Kiewskaja, der Kiewer Station, zieren Idyllen aus dem Landleben, pausbackige Buben, die dünnen Arme um Blumengebinde geschlungen, Mädchen in Tracht, dazu Soldaten, durchgedrückter Rücken, das Kinn im Wind, die Insistenz des stählernen blauen Scharfblicks. Niemand schenkt den Bildern im Untergrund Beachtung, die Menschenmassen strömen achtlos daran vorbei, als ob die Zeichen an Wänden und Decken Witze wären, denen der Rang fahler Propaganda gebührt. Ein übermannsgroßer Bronzesoldat mit Hund im Arm wacht über die Passanten. Beim Vorbeihasten berühren viele die Schnauze des Viehs. Schon ganz glänzend hell ist sie davon geworden. Das Glück wollen hier viele auf jede nur mögliche Art erzwingen.

Und es gibt das Moskau des Pomps und des Zeremoniells, das mit schierer Größe und zeitloser Faszination besticht. Der Rote Platz mit Basilius-Kathedrale und Erlöser-Turm mit dem in der Sonne goldglänzenden Uhrwerk, von dem es heißt, es liefere die einzige genaue Uhrzeit in der Russischen Föderation. Das Luxuskaufhaus GUM, ein langgestreckter Bau wie ein gestrandetes Hochseeschiff, das in der Nacht märchenhaft-kitschig erstrahlt und in dessen hochgerüsteter Feinkostabteilung ganze Regalreihen von Mozartkugeln, Mozarttalern und Mozartherzen lagern.

Vor dem Lenin-Mausoleum am Roten Platz standen die Schüler Moskaus einst stundenlang Schlange. Die glorreiche Geschichte als erste Bürgerpflicht. Heute entströmen Touristen aus China den Reisebussen und pilgern im Gänsemarsch am wächsernen Leichnam Lenins vorbei. Jungsoldaten mit wagenradgroßen Uniformmützen, die so wirken, als ob man damit im Regen nicht nass würde, mahnen den kaum je abreißenden Besucherstrom im Grabmal zur Eile. Hände aus dem Hosensack! Weitergehen! Ruhe! Kappe vom Kopf!

Man muss nicht lange suchen, um die Maxime in Erfahrung zu bringen, nach der sich die Millionenmetropole zu richten scheint. Der russische Mensch kenne keine Mitte, sagen die Moskauer, nur das Entweder-oder: reich oder arm; schwarz oder weiß; alles oder nichts. Klar konturiert müssen die Dinge sein.

Es ist eine hübsche Pointe, dass just beim Auferstehungstor am Roten Platz der symbolisch wichtigste Punkt Russlands zu finden ist: eine in das Straßenpflaster eingelassene Scheibe, von der einst sämtliche Distanzen und Kilometerangaben innerhalb des Riesenreichs genommen wurden, in dem man tagelang mit dem Zug in eine Richtung fahren kann. Einheimische und Touristen stellen sich auf den matt schimmernden Flecken, werfen auf der Suche nach Glück Münzen über ihre Schultern. Alte Frauen mit klobigen Handtaschen und unförmigen Wollhauben stürzen sich auf die Rubel und Cent. Wie übergroße Krähen mit Mänteln in verschlissenen Farben picken die Frauen die Geldstücke auf.

Gleich nebenan lodert das Ewige Feuer am Grab des Unbekannten Soldaten. Hier steht auch ein Erinnerungszeichen, dessen Zeitlosigkeit sich womöglich bald auflöst. 1965 wurde die später von Moskau abgespaltene ukrainische Hauptstadt Kiew für ihren Überlebenswillen und ihre Standhaftigkeit im Zweiten Weltkrieg zur "Heldenstadt“ ernannt. In einem der zwölf Heldenstädte-Kuben, rostroten Edelsteinquadern entlang der Kremlmauer, lagert Erde aus Kiew. Noch ist Kiews Heldenstatus unangetastet, der Zwiespalt aber offensichtlich. "Die Stimmung im Land ist seit der Ukraine-Krise gespalten, bis in einzelne Familien hinein“, sagt Anna Jermolaewa. "Jene, die ihre Informationen durch das staatliche Fernsehen erhalten, sind tendenziell Putin-Wähler. Wer sich via Internet informiert, glaubt der Propaganda meistens nicht. Putin machte dem Westen lange Zeit vor, es gebe in Russland Demokratie, und der Westen wollte das gern glauben. Nun ist die Maske gefallen.“

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Nahe der Kremlmauer liegen auch die Grabstätten ehemaliger KP-Granden. Stalin ist hier begraben. Ein Strauß roter Nelken auf dem Grabstein, dazu zwei rosafarbene. Bei der Begräbnisstätte von Kosmonaut Juri Gagarin türmen sich Blumengestecke. In staatlich verordneter Heldenverehrung sind die Menschen hier geübt. Jetzt herrscht freie Heldeninflation, gruseliger Stalin-Kult und das Sentiment für die gute alte Zeit, als Russland noch Imperium war, im Himmel und auf Erden. Die Rolle der Unverstandenen spielen die Moskauer mit Stolz und Trotz. Man versüßt sich die Gegenwart von Krim-Krise und Ukraine-Konflikt, buchstäblich. "Alönka“-Schokolade, ein seit Post-Stalin-Zeiten hergestelltes Produkt, ist der Renner, auf der Verpackung ein Mädchen mit farbigem Kopftuch und puppenhaftem Antlitz. Ein Fall für Nostalgiker.

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Die sammeln sich auch am Ausgang des Arbat, Russlands erster Fußgängerzone, die viel von der jüngeren Geschichte des Landes erzählt. Russland ist eine Nation der Museen und Monumente, die ruhmreiche Vergangenheit soll bis in die glanzvolle Gegenwart hineinwirken. Auch entlang des Arbat, einst Viertel der Literaten und Künstler, heute Einkaufsstraße mit reihum grellfarbigen Geschäftsportalen und Kaufhausmusikdudelei, finden sich allenthalben Erinnerungsorte. Es gibt hier ein kleines Puschkin-Museum, eine Puschkin-Statue, ein Denkmal für den Liedermacher Bulat Okudschawa, im Haus mit der Nummer 14 wohnte der Literaturnobelpreisträger Iwan Bunin. In einer Seitenstraße ist die Kirche zu besuchen, die dem Maler des berühmten, um 1878 entstandenen Gemäldes "Moskauer Höfchen“ als Vorlage diente, ein Bild, das für viele Moskauer die heile Welt von anno dazumal heraufbeschwört. Für Erinnerung bleibt hier aber keine Zeit. Es regiert auch in Moskau, einer der teuersten Städte Europas, die gefräßige Welt des Kapitalismus. 24-Stunden-Geschäfte schießen aus dem Boden, an den Einkaufssamstagen kommt man im Arbat nur im Schneckentempo voran. Einkaufen als sportliche Disziplin, die zu Höchstleistung reizt. Viele strömen in die Konditorei am Ende der Straße. Hier trinkt man Kaffee aus Plastikbechern und isst dazu Vogelmilchtorte, die es bereits zu Zeiten des Sozialismus gab. Früher nahm man für ein Stück Vogelmilchtorte eine weite Anreise und lange Menschenschlangen in Kauf. Heute schwelgt man mit Kuchen und dünnem Kaffee im Damals.

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Jeder Himmelsrichtung ihr Venedig. St. Petersburg, so heißt es in so gut wie jedem Stadtführer, sei das Venedig des Nordens, die nördlichste Millionenstadt der Welt. Moskau und St. Petersburg, rund vier Stunden Schnellzugfahrt voneinander entfernt, verbindet mehr als der hunderte Kilometer lange Zaun mit weißen Pfosten, der sich in türkisfarbener Endloslinie entlang der Gleise zieht und nur in Bahnhöfen und über Brücken unterbrochen ist. In St. Petersburg setzt sich fort, was in Moskau seinen Anfang nimmt, teils abgemildert, teils radikalisiert.


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Die Reißbrettstadt St. Petersburg wurde von Gründer Peter I. als Fenster nach Europa geplant und 1712 zur Hauptstadt des russischen Reichs erklärt. In St. Petersburg ereignete sich 1905 der "Blutige Sonntag“, bei dem auf Zarenbefehl hunderte demonstrierende Arbeiter niedergeschossen wurden; 1917 wurde Lenin in einem verplombten Waggon aus dem Schweizer Exil in die Stadt gebracht; unter ihrem damaligen Namen Leningrad erinnert die Stadt an ein trauriges Kapitel europäischer Geschichte: 1941 greifen deutsche Truppen die Sowjetunion an. Leningrad wird 900 Tage lang belagert, mehr als eine Million Menschen verhungern, erfrieren, sterben im Bombenhagel. "Weg des Lebens“, so hieß die einzige Verbindung ins Hinterland über den zugefrorenen Ladoga-See.

Es gibt zwei St. Petersburg, mindestens. Da ist die Stadt, die ihre Besucher mit Flair und überbordender Kultur empfängt. Mit der Eremitage besitzt St. Petersburg eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. In einem unscheinbaren Haus in einem verwinkelten Viertel der Stadt starb 1881 Dostojewski. Bis heute existieren Kirche und Markt, deren geografische Nähe der Epiker und Almosen-Verteiler schon damals suchte.

Außerhalb von St. Petersburg, im Kaff Puschkin, nach halbstündiger Fahrt mit Bus K 347, erreicht man den Katharinenpalast mit seinem 800 Quadratmeter großen Festsaal, ein Ort vollkommener, auf Grundlage rarer Zeugnisse rekonstruierter Illusion: Der Palast wurde im Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig zerstört, das legendäre Bernsteinzimmer geraubt. Von morschen Fensterrahmen und kariöser Fassade ist nichts mehr zu sehen, die Säle des Palasts erstrahlen in grellem Gold, das die Besucher fast automatisch in schweren, gemessenen Schritten durch die Hallen streifen lässt, an den Schuhen braune Überzieher. Künstliche Sonntagsstille liegt über dem Ort, ein Puschkin-Double mit hohem Zylinder schreitet dahin, an der Seite die Geliebte im Reifrock. Puschkin im Ort Puschkin, die Hollywoodisierung der Historie.

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In der Peter-Paul-Festung, dem historischen Zentrum von St. Petersburg auf der Haseninsel inmitten der Newa, wird Geschichte ernsthafter aufbereitet. Die Anlage, in der die Peter-Paul-Kathedrale mit ihrem über 120 Meter hohen Glockenturm aufragt, wurde früh als Gefängnis genutzt. Nach einer Verschwörung ließ Zar Peter I. hier seinen Sohn Alexej 1718 zu Tode foltern. Dostojewski saß als Sympathisant eines revolutionären Zirkels monatelang in der Peter-Paul-Festung in Haft. 1849 wurde er nach Sibirien verbannt, der Bericht "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ gibt darüber eindringlich Auskunft. Alexander Ulyanov, Lenins älterer Bruder, Leo Trotzki und Maxim Gorki - inhaftiert von 12. Januar bis 12. Februar 1905, Zellen 60 und 39 - saßen ebenfalls im Gefängnis Trubetskoy ein, das heute ein kleines Museum ist. Von Glück konnte reden, wer die helle sackähnliche Sträflingsuniform ausgehändigt bekam. Wer sich den dunkelgrauen Anzug aus grobem Leinen mit dem roten, auf dem Kopf stehenden Stoffquadrat auf dem Rücken überstreifen musste, wurde ins sibirische Arbeitslager verbannt.

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Das andere St. Petersburg schreckt ab. Das Geburtshaus von Vladimir Nabokov in der Großen Seestraße wurde vor nicht allzu langer Zeit beschmiert. "Pädophiler“, so machte sich der geschürte Volkszorn an der Fassade des Wohnblocks, in dem der "Lolita“-Autor aufwuchs, Luft - in Zeiten, in denen Russlands Präsident Wladimir Putin Homosexuelle und Pädophile auf eine Stufe stellt. Ein Aktivist, der "Lolita“ für die Bühne dramatisierte, landete nach der Attacke eines enragierten Mobs mit zerschlagenem Gesicht und angeknackster Nase im Spital. "Kämpfer für die Moral“, so nennen sich die Schläger, die großmäulig die Ausmerzung jedes Andersseins fordern.

Anna Jermolaewa hat in einem ihrer Videoarbeiten TV-Ausschnitte und Interviews mit Betroffenen versammelt. Es sind Dokumente und Bilder, die im Gedächtnis bleiben. "Russland ist zweifelsohne eine Diktatur, die Macht geht einzig von den Machthabern aus“, sagt Jermolaewa. "Kürzlich wurden die Anti-Demonstrationsgesetze verschärft, die Versammlungsrechte drastisch beschnitten. Sämtliche Kunstkommissionen wurden neu besetzt, neue Richtlinien erlassen: Experimentelle Kunst darf jetzt kaum mehr stattfinden, weil diese, so die Vorgabe, die psychische Gesundheit der Bürger gefährden könnte.“

Der Singsang des Pop-Duos "t.A.T.u.“ darf im russischen Radio nicht mehr gespielt werden. "t.A.T.u.“, das war die Band von zwei sich lolitahaft gebärdenden Sängerinnen, die sich auf offener Bühne küssten und Russland 2003 beim Eurovision Song Contest vertraten.

Es scheint nicht in Sicht, dass sich die Spannungen bald harmonisieren könnten. Vor mehr als 20 Jahren erregte ein Fall die Gemüter, der heute wie freundliche Harmlosigkeit wirkt. Damals schenkte der Künstler Michail Schemjakin der Stadt eine Statue: Peter I., der Stadtgründer, mit Schrumpfkopf und skelettartig langen Fingern. Heute streicheln die St. Petersburger der Skulptur über Knie und Finger, auf der Suche nach Gratisglück.

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Vom Schriftsteller Fjodor Tjutschew stammt eine um 1854 notierte Sentenz, die viele Russen auswendig kennen: "Verstand wird Russland nie verstehen, kein Maßstock sein Geheimnis rauben. So wie es ist, so lasst es gehen, an Russland kann man nichts als glauben.“ Der Vers, der sagen will, Russland sei unfassbar und unverständlich, ist neu zu lesen.

Die Reise nach Moskau und St. Petersburg wurde unterstützt von Ruefa Reisen.

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: In Istanbul, einer der am dichtesten bevölkerten Städte Europas, findet sich etwa eine überraschend umfassende Austro-Bibliothek. Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer, und die Linzer Autorin Anna Mitgutsch sammelte während mehrerer Aufenthalte in Israel Stoff für ihren Roman „Abschied von Jerusalem“ (1995); die Indien-Visiten von Büchnerpreisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk – von „Domra – Am Ufer des Ganges“ (1996) bis „Roppongi“ (2007). Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie begibt sich profil in einer neuen mehrteiligen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat – unter anderem in Rom, Tel Aviv und Neu-Delhi.

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.