Semmering: Geisteszentrum in luftigen Höhen
Das Gekicher Peter Altenbergs, des Poeten im Gewand eines öffentlichen Possenreißers, ist förmlich vernehmbar. Altenberg verstarb 1919 in Wien. Im Hotel Panhans, dem langjährigen Ziel seiner zahllosen Reisen an den Semmering, feierte der Schriftsteller jüngst Wiederauferstehung in Form einer Reinkarnation der wunderlichen Art. In einer Ecke des Hotelrestaurants, gleich links beim Eingang des Panhans, hängen eingerahmte Fotos ehemaliger prominenter Gäste des Hauses hinter Glas, viele der Porträts tragen schwungvolle, mit dickem Strich gefertigte Unterschriften und Widmungen. "Moden kommen, Moden gehen, Zeiten kommen, Zeiten gehen", hat Staatsoperndirektor Ioan Holender, erkennbar philosophisch gestimmt, auf sein eigenes Bild gekritzelt. Nursultan Nasarbajew, Kasachstans autokratischer Herrscher, und der im Vorjahr verstorbene ehemalige österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim waren hier ebenso zu Gast wie der deutsche Schlagersänger Bill Ramsey und Skisportler Toni Sailer; dazu gesellen sich an der Wand mit den Memorabilien Opernsänger, Radiomoderatoren, Schauspieler, Kabarettisten.
Auf einem der Fotos, auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2002, ist auch Peter Altenberg zu sehen, einen Spazierstock in der Hand, eingehüllt in einen bodenlangen Mantel, den charakteristischen Bürstenschnauzbart im Gesicht. Kerzengerade aufgerichtet steht der Dichter vor dem Eingang des Panhans, den Blick versonnen in die Ferne gerichtet, in Richtung der von Bäumen besäumten Hügellandschaft. Der Schauspieler und Stimmkünstler Peter Matic hat sich damals, aus einer Laune heraus, als Altenberg kostümiert. Neben dem gestellten Bild des Literaten ist, eine hübsche ironische Volte, das Foto des russischen Weltraumfahrers Sergei Krikaljow platziert, eines weiteren ehemaligen Panhans-Gastes. Während sich der Inszenierungsvirtuose Altenberg gern in eher bedenkliche Träume von jungen Mädchen und in erfundene Literaturwelten flüchtete, verbrachte Krikaljow auf sechs Raumflügen insgesamt über 800 Tage im Orbit.
Getümmel, Getriebe. Zwischen 1890 und 1919 erlebte der auf 950 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Luftkurort Semmering seine Hochblüte: Bauherren tätigten Millioneninvestitionen in ihre neu errichteten Prunkvillen; Adelige und Wirtschaftsmagnaten, Maler und Schriftsteller statteten der Ortschaft, in der bis heute allenthalben architektonische Zeugnisse einer großen Zeit zu entdecken sind, regelmäßige Besuche ab - Hugo von Hofmannsthal, Felix von Salten, Stefan Zweig, Jakob Wassermann, Alfred Polgar, Egon Friedell, Arthur Schnitzler, Heimito von Doderer, Richard von Schaukal, Karl Kraus, Franz Werfel und Peter Rosegger zählten sommers wie winters zu den Stammgästen. Die Semmering-Begeisterung seiner Kollegen fasste Peter Altenberg für ein Werbemagazin in von Pathos und Emphase triefende Worte: "Wir steigen aus. Wir atmen rasiermesserscharfe Bergluft ein. Wir sind geborgen und im Waldesfrieden. Hinter uns der Dunst des Getümmels, Getriebes. Alles kommt uns da unnötig vor, lächerlich. Wir sind 1000 Meter über dem Dunkel der Großstadt."
Vier Zentren, an denen die ins Hochland verreisten Erzählklassiker seinerzeit bevorzugt logierten, lassen sich grob ermitteln: Altenberg, Friedell und Kraus kehrten ins Panhans ein - der verschachtelte, hart an die Felslandschaft eines Bergs gerückte Kernkomplex des gegenwärtig mit 113 Zimmern ausgestatteten Hotels wurde 1888 im Stil eines modernistischen Imponiertempels mit orientalisch-märchenhaft anmutender Luxuseinrichtung eröffnet. Die Arbeiten am Grandhotel sind, so scheint es, längst nicht abgeschlossen: Ein Kran, der beständig neues Baumaterial in die Höhe hievt, dreht sich vor dem Gästehaus im Kreis, ein Teil der Fassade ist eingerüstet. Unentwegt hallt das Tock-Tock der Hammerschläge durch die Straßen der Ortschaft. Heimito von Doderer wiederum lebte und arbeitete im so genannten Riegelhof im rund zehn Kilometer entfernten Dorf Prein; der Romancier Richard Schaukal (1874-1942) erbaute sich, vis-a-vis vom später errichteten Golfplatz, das nach wie vor schmucke, im umgebenden Wald beinah gänzlich versunkene "Haus Immergrün" am Semmeringer Wolfsbergkogel, und Franz Werfel bewohnte mit Entourage die "Breitenstein Villa" im benachbarten Orthof.
Mit der 1854 eröffneten Eisenbahn über den Pass, einem Technikwunderwerk der Zeit, war der Ort von der rund hundert Kilometer entfernten Metropole Wien nur mehr eine zweistündige, meistens luxuriöse Bahnfahrt entfernt: der Semmering als kurzfristige räumliche Expansion des vertrauten Wiener Lebensraumes, als Naherholungsgebiet, in dem weniger Urlaubsstimmung, sondern die Monotonie des Arbeits- und Alltagslebens in luftiger Höhe zelebriert wurde. Arthur Schnitzler, ein langjähriger Stammgast des Südbahnhotels, weilte zwischen 1909 und 1912 zwölfmal auf dem Semmering, zwei Aufenthalte davon gestalteten sich länger, die meisten Besuche waren Tagesausflüge.
Leiben, lieben. "Man sah sich während des Tages immer wieder auf und ab schlendern, kannte sich aus Wien oder aus anderen Nobelorten, wechselte mehrmals am Tag die Kleider, nickte einander in feinen Nuancierungen zu, tuschelte delikate Geheimnisse in stets neugierige Ohren, bummelte von Bank zu Bank, lebte, leibte und liebelte." So beschreibt Wolfgang Kos in seiner leider vergriffenen kulturhistorischen Studie "Über den Semmering" die Situation unter den anwesenden Schriftstellern am Berg.
Die Hochstraße, der historische, kürzlich renovierte Verbindungsweg zwischen den Hotelanlagen Panhans und dem seit 1976 geschlossenen, alljährlich nur für einige Wochen während der Reichenauer Festspiele geöffneten Südbahn-Komplex, war einst eine von der Felskulisse von Rax und Schneeberg umrahmte Flaniermeile und beliebte Promenade der Prominenz. Panhans und Südbahn, die beiden riesenhaften Erholungsanlagen, wirken mittlerweile wie gestrandete, durch unerklärliche Kräfte auf 1000 Meter Seehöhe verfrachtete, klotzige Vergnügungsdampfer; der ehemals legendäre Corso zwischen den Luxustempeln ist heute Tummelplatz von Ausflüglern, Naturbeobachtern und Sportinteressierten. Menschen, ausgestattet mit Spazierstöcken und Spezialgewand, eilen in Gruppen zügig die Straße entlang. Während der schneefreien Zeit stecken Gummipfropfen auf den Stockspitzen der Nordic Walker. Beinah lautlos bewegen sich die Sportlergruppen entlang, es ist, als ob ein riesenhafter Vielfüßler mit Beinen in Samtschuhen durch die Landschaft streifte. Stellt sich dem absonderlichen Kriechtier ein Hindernis entgegen, etwa ein ältere Dame mit Einkaufstasche, teilt sich das vielgliedrige Wesen, fließt links und rechts am Widerstand vorbei, um sich wieder zu vereinen. Die kürzlich in Betrieb genommene Dauerausstellung zur Semmeringer Villenarchitektur, zehn signalrote Schaukästen entlang der Hochstraße, wird von den vorbeieilenden Läufern keines Blickes gewürdigt: Die gezeigten Nippes und Gebrauchsartikel aus der Zeit um 1900 - Zündholzbriefchen, Essbesteck, Tennisschläger - vermitteln neben einer Vielzahl von Planungsskizzen und Modellzeichnungen einen vagen Eindruck der gloriosen, längst entschwundenen Vergangenheit.
Brechmittel. Naturbegeisterung und das Laufen in Höhenluft sind Phänomene der jüngeren Moderne - den Schriftstellern, die einst den Semmering besuchten, galten Wald und Wiese als Selbstverständlichkeiten. "Die, Natur' war nun einmal erfunden worden (ja eigentlich fuhr man ja ihretwegen am Samstag hier heraus) ... Würde jemand sagen, diese spinatgrüne Erhabenheit mugel-auf und mugel-ab sei ihm schon ein Brechmittel: man hielte ihn für einen bösen Menschen", schreibt Heimito von Doderer in seinem Roman "Die Strudlhofstiege" (1951). Und Peter Altenberg, eine der zentralen Gestalten in der Geistesgeschichte der Region, mokierte sich bereits in der Publikation "Semmering 1912" (1913) über den anbrechenden Gesundheitswahn: "Die Kur ist der melancholische und mühselige Versuch, eine gebrochene Maschinerie zu reparieren. Höchstens bringt man sie mit Müh' und Not wieder auf gleich, kleistert sie zusammen. Aber die Nachkur ist bereits eine freudige künstlerische Angelegenheit: man ist daran, einer wiederhergerichteten Maschine höchste Energien, Spannkraft, Bewegung, Elastizität, Lebendigkeiten zu verleihen! Die Kur ist eine ernste Notwendigkeit, die Nachkur ist ein heiteres Fest. Geld und Zeit für die Nachkur sind wichtiger als für die Kur."
Im ersten Stock des Panhans, als Teil einer kleinen historischen Schau, hängt ein stark vergrößertes grobkörniges Schwarz-Weiß-Foto an der Wand, das eine um einen schlichten Tisch sitzende Männergruppe zeigt, eingerahmt von emporragenden Tannenbäumen: Anno 1912 verweilten Oskar Kokoschka, Egon Friedell, Peter Altenberg und Adolf Loos auf der Terrasse des Hotels, alle eingehüllt in warme Mäntel. Briefe und Werbeplakate sowie eine weiße, aus jener Zeit stammende Sitzgruppe aus Holzmöbeln, bestehend aus zwei Sesseln und einem roh gezimmerten Tisch, ergänzen die museale Hotelschau. Die bizarr verlaufende Baugeschichte des Panhans zeigt sich hingegen an der gestreckten Außenfassade des Monumentalbaus, der mittlerweile Hoteltrakt, Privatwohnungen, Tourismusschulen und Parkgaragen umfasst. Ziemlich in der Mitte des Gebäudekomplexes ist auch das Büro von Horst Schröttner hineingezwängt.
Maulwurfshügel. Schröttner ist der Bürgermeister der Gemeinde Semmering, ein eher schmächtiger Mann mit klobigem Krawattenknopf am Hals und großer Brille im Gesicht. Er ist gebürtiger Semmeringer, er hat die Chronik des Orts abrufbar im Gedächtnis. Semmering ist, entgegen den angrenzenden Ortschaften mit ihrer jahrhundertealten Besiedlungsgeschichte, eine Ansiedlung ohne weit zurückreichende Historie: Vor 1848, vor dem Bau der Bahn, war hier Bergland, belegt sind ein Bauernhof und ein Einkehrgasthaus. Die Gemeinde Semmering hat heute 650 ständige Einwohner, dazu doppelt so viele Zweitwohnungsbesitzer, darunter Schauspieler Otto Schenk, Maler Christian Ludwig Attersee und Ex-ORF-Generalintendant Thaddäus Podgorski.
Der Mittsechziger Schröttner wirkt zumeist ein wenig gehetzt. Ist der Bürgermeister in seinem dunklen Volvo unterwegs, müssen sich die entgegenkommenden Autofahrer und Fußgänger mit einem angedeuteten Fingerzeig des Gemeindevorstehers begnügen. Die epochemachenden Vorzüge seiner Gemeinde zählt er ebenfalls gern im Eiltempo auf: "Das erste Bobrennen Österreichs fand 1906 hier statt. 1934 wurde am Semmering das erste Spielcasino des Landes eröffnet. Der erste Golfplatz und das erste alpine Großhallenbad Europas waren am Semmering zu finden." Schröttner hält kurz inne. Vielleicht überlegt er, ob er mit jenem Satz, den er schon sehr oft gesagt hat, enden soll. "Am Semmering ist der Tourismus erfunden worden", sagt er schließlich.
Derzeit sind Schröttners Arbeitstage mehr als sonst von Besprechungen, Sitzungen der Baukommission und Gemeinderatsversammlungen geprägt. Bald werden die Bauarbeiten für das neue Gemeindezentrum an der Passhöhe beginnen; das Areal mit den vielen Parkplätzen, aufgelassenen Hotels und Geschäften sowie zwei Gedenksteinen in ödem Betongrau, durchschnitten von einer befahrenen Straße, soll einem neu errichteten, glanzvollen Stadtmittelpunkt weichen. Schröttner dreht sich inmitten der realen Tristesse um die eigene Achse, er hat ein Zitat des berühmten deutschen Reiseschriftstellers Johann Gottfried Seume parat. "Der Semmering ist kein Maulwurfshügel", sagt der Bürgermeister.
Semmering-Bücher
Erst jüngst sind zwei voluminöse Arbeiten im Rahmen einer neu gegründeten Architekturbuchreihe zur Historie Semmerings erschienen: Die Wiener Kunsthistorikerin Désirée Vasko-Juhász befasst sich in "Die Südbahn" (Böhlau, 414 S., EUR 59,-) mit der Geschichte der Kurorte und Hotels entlang der historischen Bahnstrecke. Mit der Baugeschichte zahlreicher Semmeringer Villen beschäftigt sich der 2006 veröffentlichte zweite Band der Reihe: "Villenarchitektur am Semmering" von Günther Buchinger (Böhlau, 264 S., EUR 59,-). Wolfgang Kos' Studie "Über den Semmering" (1984), ein Standardwerk zum Thema, ist leider ebenso vergriffen wie Peter Altenbergs erstmals 1913 publizierte Gedankensplittersammlung "Semmering 1912". Nach wie vor lieferbar ist Ferdinand von Saars Novelle "Die Steinklopfer" (1874), eine literarische Ausleuchtung des Milieus der Erdarbeiter, die beim Bau der Semmeringbahn beschäftigt waren.
Reise. Die Donaumonarchie, die vor 90 Jahren ihr Ende fand, brachte eine Vielzahl von Schriftstellern und Kaffeehausliteraten hervor, deren Romane und Erzählungen in die Weltliteratur eingegangen sind - darunter so prominente Namen wie Joseph Roth, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Karl Emil Franzos, Ödön von Horváth, Stefan Zweig, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Alfred Polgar, Peter Altenberg und Felix Salten. Zudem sind viele Werke der bedeutendsten Nachkriegsautoren untrennbar mit dem habsburgischen Mythos verknüpft - etwa Robert Musils in Etappen veröffentlichter Romantorso "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-1952), Heimito von Doderers narratives Großprojekt "Die Strudlhofstiege" (1951) und Gregor von Rezzoris Stadtroman "Ein Hermelin in Tschernopol" (1958). profil begibt sich in einer mehrteiligen Serie auf Spurensuche nach den Schauplätzen zentraler literarischer Arbeiten jener Zeit.