Tokio: Im Herzen der Welt
Von Wolfgang Paterno
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Über 35 Millionen Menschen leben in dem Großraum Tokio, der größten Agglomeration von Individuen, Gebäuden, Verkehrswegen, Fahrzeugen, die jemals existierte. Tokio ist ein unfassbarer Ort, in seiner geballten Form ein urbanes Schockerlebnis. Es ist einfach, in dem von Wien aus gesehen elf Flugstunden und 10.000 Kilometer Luftlinie entfernt gelegenen Inselstaat einen Sammelpunkt des Fremden und Eigentümlichen zu sehen: Tokio mag nah sein, Tokio ist unerreichbar. Es ist zu einfach. "Eine der beiden mächtigsten Städte der Welt ist um einen undurchsichtigen Ring aus Mauern, Wassergräben, Dächern und Bäumen angelegt, dessen eigentliches Zentrum nicht mehr als eine flüchtige Idee ist", notierte Roland Barthes 1970 über den kaiserlichen Palast in der geografischen Mitte Tokios.
Wer sich in der Öffentlichkeit schnäuzt, geht ein Wagnis ein, nahe am Tabubruch.
Es lassen sich Splitter dieser Stadt sammeln, Eindrücke, Fragmente, die sich mit etwas Glück zu einem Bild fügen. Man muss viele Menschen treffen und weite Wege zurücklegen, um eine Idee von Tokio zu bekommen. Man betritt das Terrain des Spurenlesens. Die Fährtensuche führt zu Verkehrskreuzungen und auf den höchsten Fernsehturm der Welt; in das Rathaus und in beengte Seminarräume. Schließlich in das von Tokio fünf Stunden Zugfahrt entfernte Hiroshima. Aus eurozentrischer Sicht ist Japan eine Inselgruppe am Rand der Erdkugel. Im fernen Osten liegt Tokio im Herzen der Welt.
Mitte November, Frühlingstemperaturen, hingetupfte Wolken am Himmel. Ein Morgenspaziergang durch das Botschaftsviertel Azabu, Sonntagsstille. Es geht vorbei an 24-Stunden-Märkten, Hundesalons, Reihen von Getränkeautomaten und Izakayas, japanischen Kneipen mit "Closed"-Schildern an den Türen. Viele Taxifahrer tragen weiße Handschuhe und Gesichtsmasken, die hinteren Türen der Fahrzeuge öffnen und schließen sich automatisch. Saubergekehrte Wege, so gut wie kein achtlos weggeworfener Müll, keine Zigarettenstummel, niemand raucht auf offener Straße. Wer sich in der Öffentlichkeit schnäuzt, geht ein Wagnis ein, nahe am Tabubruch. Es gilt als obszön, sich im Beisein anderer die Nase zu putzen. Trinkgeld ist unüblich, wie das Händeschütteln zur Begrüßung. Hunde werden in Strampelanzügen an Leinen geführt, das Fell flauschig geföhnt, wie gerade erst dem Trockner entkommen. Kräne ragen in den Himmel. An vielen Stellen wird gebaut, eine Zukunft aus Stein, Glas, Stahlbeton. Die Stadtautobahn auf Stelzen zerschneidet das Panoramabild. In Tokio verliert man schnell die Maßstäbe für Größe und Bedeutung.
Kaum ein Reiseführer über Japan kommt ohne ein bestimmtes Arsenal an Wörtern und Stereotypen aus: Sumo, Manga, Geishas, Reich der Chiffren, Kirschblüten und des Exotischen. Wenn es aber stimmt, dass Großstädte Organismen sind, dann stellt Tokio so etwas wie einen vielgliedrigen Superorganismus dar, jenseits aller Klischees: Jeder Allgemeinplatz zerschellt an diesem Übermaß an Realität. Tokio, das sind Menschenmassen, Straßenschluchten, U-Bahn-Kilometer, auf den Streckenplänen in vielen bunten Farben verwoben wie ein Knäuel. Tokio ist der Knotenpunkt. "Alles konzentriert sich in der Hauptstadt", schreibt der Hamburger Japanologe Florian Coulmas in seinem Essay "Tokio", der Buchstöße von Reiseführern ersetzt. In Tokio laufen die Fäden zusammen.
Den Menschenmassen lässt sich in Shinjuku entkommen. In dem wuchtigen, fast festungsartigen Rathaus der Stadt wabern im 45. Stock Sphärenklänge. Ein Bodenbelag ohne Farbe dämpft die Schritte; ein vor touristischem Krimskrams wuchernder Shop in der Mitte der Aussichtsplattform, unter der sich hinter Glas im 360-Grad-Kreis die Stadt ausbreitet, Häuser und Gebäude wie hingeschüttete Berge von Bauklötzen auf einem gemusterten Teppich. Der Begriff "Häusermeer" könnte für Tokio erfunden worden sein. Hier oben weitet sich die Welt, eine steinige Landschaft bis zum Horizont. Die blasse, schneebedeckte Spitze des Fuji, Japans Nationalberg, als Schemen in der Ferne. Man muss in die Höhe, um die Ausmaße der Stadt auch nur einigermaßen zu erfassen.
Alles ist auf Distanz und Etikette ausgerichtet, keine Spur von einer Weg-da-jetzt-komm-ich-Mentalität.
Im U-Bahn-Geflecht unterhalb des Rathauses setzt sich das Gewühl an Menschen und das Durcheinander an Bewegung wieder fort. Ein Gewirr, wie es schöner selten zu haben ist. Das Heer der Büroangestellten macht sich zu Wochenbeginn auf den Arbeitsweg, eine Armee in Anzügen, Krawatten, mit Aktentaschen, glanzpoliertes Schuhwerk. Schnelles Gehen, in den U-Bahn-Schächten trommeln Füße ein hartes Stakkato auf Beton. Während der Bahnfahrten sind die Blicke stier auf Handydisplays gerichtet. Würde es regnen, gehörte zur Büro-Kluft ein Regenschirm mit durchsichtigem Plastikdach und geringer Spannweite. Disziplinierte Stille in den U-Bahn-Garnituren.
Alles hat seinen Platz, seinen Plan und Takt, seine öffentliche Ordnung. Es geht darum, den Zufall aus der Welt zu eliminieren. Achte auf gute Manieren, mahnen Plakate. Es gilt als unschick, im Untergrund zu telefonieren. Geräuschvolle Gespräche sind verpönt. Jeder ist hier für sich, jeder für sich allein. Alles ist auf Distanz und Etikette ausgerichtet, keine Spur von einer Weg-da-jetzt-komm-ich-Mentalität. Ausländern gegenüber sind Japaner freundlich, fast gekünstelt reserviert. Integration ist in Japan keine einfache Sache. Die Japaner sind ein nach außen hin verschlossenes Volk mit geringer sozialer Durchlässigkeit, ausgestattet mit der durchhärteten Arroganz der Bewohner eines Wirtschaftswunderwohlstandlandes. Die Erfahrung der Fremde bleibt auch für Ausländer Alltag, die seit Jahren in der Stadt leben und bestens Japanisch sprechen.
Dann das Klingklang beim Abfahren der U-Bahn-Garnituren, die Elektrostimme aus dem Lautsprecher. Eine junge Frau streicht über das taschenbuchgroße Display ihres Mobiltelefons mit den hängenden Plastikgummiohren, ohne die geringste Veränderung der Mimik. Kein Fenster ins Innere. In Tokio lauert, hinter der Kulisse des Stoischen und Großstädtischen, auch ein Abgrund an Zwanghaftigkeit und Disziplinierung. Das Ich wird hinter der Maske des Gleichgültigen verborgen. 200 Ausgänge münden vom Bahnhof Shinjuku in unterirdische Einkaufspassagen und verwinkelte Durchlässe. Mehr als dreieinhalb Millionen Menschen passieren täglich die Station. Der Weg an die Oberfläche, an das inzwischen milde Mittagslicht, kann hier lang werden. Es ist wie ein Auftauchen aus großer Tiefe.
Japan kommt in den "Versuchen" Peter Handkes vor, in den Romanen Gerhard Roths, in Texten von Kathrin Röggla. Josef Winkler gab einer seiner Novellen den Titel "Roppongi", nach jenem Stadtteil, der in Gehweite zum Botschaftsviertel Azabu liegt. Werke von Stifter, Schnitzler, Hofmannsthal, Musil sind ins Japanische übersetzt. Hiroshi Yamamoto, 50, ist Germanistikprofessor an einer Tokioter Privatuniversität, an der Tür seines Zimmers hängt ein Plastikschild aus Holzimitat mit Goldschriftprägung: "Im Wein liegt Wahrheit." Yamamoto, eine große, bubenhafte, gut gelaunte Gestalt, ist Winkler-Spezialist, und bei allem professoralen Ernst, den die Arbeit erfordert, geht er sein Fachgebiet gern spielerisch an. In seinen Vorlesungen hantiert er selten mit Fachbegriffen, den Lehrstoff kleidet er in ein munteres Parlando, nie dozierend. In einem kleinen Seminarraum im 14. Stock lehnt er vor seinen Studenten an einem Tisch wie ein Schiffskapitän an der Reling. Er sagt: "Ohne das Wissen um die österreichische Literatur hätte es sich nicht gelohnt, die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts zu lesen."
Die fatale Todessehnsucht der Österreicher habe ihn stets beeindruckt, erklärt er. "Natürlich gibt es Ähnlichkeiten zwischen Österreich und Japan. In Wien kann man Sushi essen, in Tokio guten Kaffee trinken. Es existieren aber auch große Unterschiede. Österreicher begehen seltener Selbstmord, Japaner viel öfter." Der leidenschaftliche Leser von Ilse Aichinger, Thomas Bernhard und Peter Handke ist ein umtriebiger Vermittler österreichischer Literatur und Lebensart. "Auf raffinierte Weise wird das facettenreiche Phänomen des Todes und des Sterbens in der Literatur aus Österreich vor Augen geführt." Schnaufen, Staunen im Auditorium. Außer Kafka und Musil sind wenige österreichische Autoren in Japan bekannt, am ehesten noch Handke und Bernhard. Viele Übersetzungen sind nicht mehr lieferbar. "Antiquariate verlangen fast schon verbrecherisch überzogene Preise", ereifert sich Yamamoto. "Der vielleicht berühmteste deutschsprachige Autor in Japan heißt Michael Kunze, der Librettist des Musicals 'Elisabeth'." Professorales Augenrollen und Lachen. Sushi und Kaffeehaus, Tod und Musical, Ost und West: In dem Seminarraum im 14. Stock bewegen sich Welten aufeinander zu.
Die Grenzen zwischen Bedürfnis, Wunsch und Notwendigkeit verschwimmen.
Weiter in den Bezirk Shibuya, ein Abstecher in das Hoheitsgebiet des Hyperkapitalismus, in das Vergnügungs- und Shoppingviertel Tokios. Touristen stehen am Straßenrand der Kreuzung im Schatten des Kaufhauses 109, das auf zehn Stockwerken Platz für 120 Boutiquen bietet, jeder Reiseführer reiht die Zahlen auf, bis zu dem Hinweis, dass das Angebot hier fast wöchentlich wechsle und auf drei gigantischen TV-Bildschirmen angepriesen werde. Die Gesichter hinter einem Wald von Handys verborgen, warten die Urlauber auf das Umschalten der Ampeln.
Gemäß einer Studie von PricewaterhouseCoopers war Tokio 2008 mit einem Bruttoregionalprodukt von rund 1,5 Billionen Dollar die reichste Stadt der Welt. Zu den teuersten Metropolen zählt Tokio bis heute, die größten Handelsfirmen unterhalten in der Stadt Zweigstellen. Für Diplomaten ist die Mission in Tokio die höchste Stufe auf der Karriereleiter.
Tokio ist auch Brennpunkt eines ausschweifenden Technikkults und Konsumkapitalismus, der kaum je abreißende Ströme an Waren und Dienstleistungen kanalisiert und exzessiv auf den Handel von Aktien, Derivaten, Währungen, Ideen setzt. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Zur Ironie der Stadthistorie gehört, dass die Annalen voller Erdbeben sind, die das Gebiet in der Vergangenheit heimgesucht haben, zuletzt 1923, als weite Teile der Weltstadt durch Großbrände zerstört wurden. "Einkaufen wird ernst genommen in Tokio", kommentiert Florian Coulmas in "Tokio" lakonisch. Die Grenzen zwischen Bedürfnis, Wunsch und Notwendigkeit verschwimmen. Erdbeben und Einkaufen sind in Tokio alltägliche Normalität.
Noch immer geordnetes Verharren an den Ampeln in Shibuya. Niemand quert die kreisförmig angelegten Zebrastreifen bei Rot. Schalten die Signale auf Grün, strömen Hunderte Menschen wie auf Kommando über die schwarzen Fahrwege und meterlangen weißen Schutzstreifen, dirigiert vom Takt der Ampeln. Von frühmorgens bis spätnachts. In Shibuya lassen sich Fotos machen und als Erinnerung mit nach Hause nehmen, die Sinnbilder sind für Ruhelosigkeit, Gedränge, Chaos, Anonymität, Mobilität, Menschenmasse. Für urbane Kultur schlechthin.
634 Meter vom Boden bis zur Spitze misst der 2012 eröffnete Skytree im alten Tokioter Stadtteil Sumida, ein Fernsehturm für das Guinness-Buch der Rekorde. Händler in Akihabara, dem sogenannten Elektroviertel, überleben auf Dauer nur, wenn sie den jeweils aktuellsten Technikschnickschnack anbieten. Ausstellungswände mit unterschiedlichen Handy-Hüllen und sporthallengroße, mit Wegweisern ausstaffierte Gewölbe mit TV-Geräten, Waschmaschinen, Mikrofonen oder Fotoapparaten, bis in den letzten Winkel von grellem Neonlicht ausgeleuchtet, sind Standard im Garten Eden der Marktwirtschaft. Tokio steht auch dafür, wie weitreichend die Negativausschläge einer heiß laufenden Wirtschaft sein können.
Tokio ist eine Stadt grüner Oasen, seiner umfassenden Urbanität zum Trotz.
Tokio ist eine Stadt grüner Oasen, seiner umfassenden Urbanität zum Trotz. Im Ueno-Park und im Hamarikyū-Garten findet sich das komplette Idyllen-Repertoire aus Holzstegen, Schilfgürteln, Ruderbooten, Seerosenteichen. Vögel tschilpen in den Bäumen. Kinder mit weißen Stoffhandschuhen, angeleitet von Erzieherinnen, machen sich auf die Suche nach Weggeworfenem. Jeder aufgepickte Zigarettenstummel wird unter großem Aha in einem Sammelbeutel entsorgt. Ein Mann sitzt auf einer der Parkbänke im untergehenden Rot der Sonne. Lautsprecherstöpsel im Ohr, die Lesebrille im Haar. Er macht häufige Nickerchen. So wie er dasitzt, sieht es ein bisschen so als, als starre er, umgeben und umtost von der großen Stadt, gezielt ins Nichts.
Wenn Ausländer in Japan Exoten sind, dann ist Leopold Federmair, 58, ein Exot unter Exoten. Wer gleichsam in der Seele Japans recherchieren will, sollte sich mit dem Schriftsteller und Übersetzer treffen, der seit Jahren in Japan lebt, seit einiger Zeit in Hiroshima. Man kann darin Trotz sehen. Oder eine Form des Luxus. Wenn jemand die Besonderheiten Japans erklären kann, dann er. Federmair ist an diesem Novembernachmittag für eine ausgedehnte Stadtwanderung gerüstet, vom Bahnhof bis zum Friedenspark mit der sogenannten Atombombenkuppel, jene Ruine auf dem ehemaligen Industriegelände, die beim Abwurf der A-Bombe am 6. August 1945 nicht vollkommen vernichtet wurde. Federmair trägt Militärstiefel mit grünen Schuhbändern, Rucksack, eine Wollmütze über den angegrauten Schläfen. Er spricht leise, ist das Gegenteil eines Poseurs.
"Die Fremdheit bleibt in Japan auch nach bald 14 Jahren, trotz der gewachsenen Vertrautheit", sagt er. "Kürzlich war ich in Mexiko, dort fühlte ich mich heimisch, nicht nur, weil ich die Sprache beherrsche, sondern auch deshalb, weil sich die Menschen dort viel rascher öffnen. In Argentinien lebte ich um 2000, da war oft der Ausruf 'Que país de mierda!' zu hören. Was für ein Scheißland! Man hat in diesen Ländern eine direkte, emotionale Beziehung, die in Japan fehlt, und drückt diese ohne starke rhetorische Filter aus."
Gerade ist Federmairs Erzählband "Ins Licht" erschienen. Seinen großen Japan-Roman "Wandlungen des Prinzen Genji“ publizierte er 2014. Federmair ist kein Autor, der es auf der dichterischen Klaviatur lässig klimpern lässt. Er verfolgt, über die eigentlichen Plots seiner Texte hinaus, die Erosionen der gesellschaftlichen Konventionen und der moralischen Gewissheiten der Gegenwart mit einer detektivischen und dichterischen Aufmerksamkeit, die Sherlock Holmes alle Ehre machen würde. "Wirklichkeitswelt", nennt Federmair Japan in einem seiner fortlaufend publizierten Texte in dem Online-Projekt "Tokyo Fragmente". Federmair neigt im Schreiben und Reden zur Ausführlichkeit, nicht zum schnell Dahingesagten. "Bei den Japanern kommt mir oft sogar das Sich-Identifizieren unecht vor, gespielt. Es ist ein Land von Scham und Respekt. Das macht manche Dinge einfacher, viele komplizierter.
In Japan akzeptiert man, dass jeder im Grunde genommen einsam ist, dass keine Kommunikation im Sinn von tiefer Gemeinsamkeit, von Austausch stattfindet. Deshalb wird so viel Wert auf äußere Formen gelegt, damit der Zusammenhalt äußerlich gesichert ist. Japan ist ein kommunistisches Land mit kapitalistischer Wirtschaft. Ob mir das lieber ist als der westliche Individualismus? Vielleicht werde ich es in zehn Jahren wissen." Kann man da dem Geheimnisvollen des Alltagslebens, diesen fremd anmutenden Ritualen und Praktiken, auf die Spur kommen? "Ja, aber das ist langwierig. Bestimmte Dinge werden, wenn überhaupt, nur in der Familie besprochen. Touristen, wenn sie denn in diese Welt eindringen, werden meist mit freundlichen Floskeln abgefertigt, und damit begnügen sie sich auch gern. Eine Eigenschaft, die man braucht und die im Westen nicht gar so verbreitet ist: Geduld."
Ein letzter Splitter, eine Momentaufnahme im Friedenspark von Hiroshima. Leopold Federmair sitzt auf einer Parkbank, nebenan zwei alte Männer. Fremder unter Fremden. Wenn er Ruhe haben wolle, sagt er, besuche er einen der Shinto-Schreine an den Waldrändern oder ein Konbini, eine Art Greißler mit Mini-Café, vier Stühle vor einer Glaswand vor einem Reisfeld. "An diesen Orten fühle ich mich inzwischen irgendwie heimisch. Und manchmal erinnern sie mich an die 1960er-Jahre in Oberösterreich, auf dem Land. Da stellen sich dann doch wieder, ganz überraschend, Vergleiche ein."
Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh" den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2015 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Moskau - begibt sich profil in einer neuen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Irland, Äthiopien, Polen und Japan.
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.