Kosmos Kaffehaus

Wien: Der Schriftsteller Leo Perutz und das Kaffehaus als Lebensmittelpunkt

Wien. Die besondere Beziehung des Schriftstellers Leo Perutz zu den Cafés der Hauptstadt

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Von Alexander Peer

Besucht man das Café Central in der Wiener Herrengasse, wird man von einer Pappmaché-Figur begrüßt. Mit melancholisch gesenktem Blick scheint ein erstarrter, mit schütterem Kunsthaar ausgestatteter Peter Altenberg, Schöpfer zahlreicher Prosaminiaturen, zurück in die Vergangenheit zu blicken: Es waren die Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die Wiens Weltruf als Hauptstadt der Kaffeehausliteraten festigten. Leo Perutz (1882-1957) wird nicht zum innersten Kreis jener Schriftsteller gezählt. Der einst weit über die Grenzen Wiens bekannte Verfasser zahlreicher Romane hat selten bis nie im Kaffeehaus geschrieben. Was nicht heißen soll, dass er dieses nicht frequentierte. Selbst seine Totenruhe wünschte sich Perutz, Meister des phantastischen Realismus, im Kaffeehaus zuzubringen: 1924 bemerkte der Romancier in einem alten Café in Tunis, dass dessen Gründer seit 275 Jahren an jener Stelle begraben liege, an dem der Gastwirt den Großteil seiner Lebenszeit zugebracht hätte. "Und wenn er einst zu mir kommt, der Zerstörer der Freuden, der Vernichter jeglicher Gemeinschaft, so möchte ich wie du begraben sein", notierte Perutz eine ihm letztlich verweigerte Bitte: "Ein Grab im Kaffeehaus und rings um mich her der Rauch der Zigaretten, Pagat und Solo-Gromoboi, das Klappern der Dominosteine und der Duft des schwarzen Kaffees."


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Im Kaffeehaus schreiben? Dafür hatte Perutz keine Zeit, zumeist galt seine Aufmerksamkeit der ihn umgebenden illustren Freundesschar, darunter die Feuilletonisten und Schriftsteller Alfred Polgar und Anton Kuh, der Zeichner B. F. Dolbin, der Journalist Hugo Scholz, der Dramatiker Paul Frank, Co-Autor zweier Perutz-Romane, und der Maler Oskar Kokoschka.

Alfred Polgar beschrieb die "Centralisten", die Besucher des Café Central, so: "Es ist ein rechtes Asyl für Menschen, die die Zeit totschlagen müssen, um von ihr nicht totgeschlagen zu werden." Die Preise im Central haben inzwischen allerdings derart angezogen, dass es sich Jungautoren und Freizeitrevolutionäre schlichtweg nicht mehr leisten können, hier uferlos Zeit zu verbringen.

Spitze Zunge. Gefürchtet war der gebürtige, 1901 gemeinsam mit seinen Eltern nach Wien übersiedelte Prager Perutz weniger seiner listigen Tarock-Spielweisen, sondern seiner spitzen Zunge wegen. Selbst für Jubiläen, die viele verkannte Schriftsteller für Augenblicke zurück auf die Literaturlandkarte holen, hatte er wenig übrig. Als ein Kollege anlässlich Perutz' 75. Geburtstag einen Essay über den Autor zu verfassen beabsichtigte, beschied der Literat: "Ich habe wenig Verständnis für die Erhabenheit durch fünf teilbarer Ziffern des dekadischen Zahlensystems."

Stattete Perutz heute - über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod - den diversen Kaffeehäusern Wiens einen Besuch ab, müsste die Stadt wohl um ihr sorgsam aufbereitetes touristisches Image fürchten - die einstigen Perutz-Pilgerstätten böten dem Autor vermutlich viel Ausgangsmaterial für kulturpessimistische Betrachtungen und scharfzüngige Bonmots. Im Café Museum sind Touristen in die Lektüre von Reiseführern versunken. Im Café Central, einst Schaubühne für Jungautoren und deren avantgardistische Textproduktion, besprechen Mediziner und Anwälte ihre Sorgen mit Patienten und Klienten. Das alte Café Herrenhof existiert nicht mehr. Lange Zeit war in dem Gebäude in der Herrengasse 10 ein Espresso untergebracht, das 2006 geschlossen wurde. An der Adresse soll Ende des Jahres ein Hotel eröffnet werden - mit einem neu eingerichteten, auf die große Geschichte der Örtlichkeit verweisenden "Café Herrenhof".

1938 floh Perutz gemeinsam mit seiner Familie nach Venedig, reiste von dort nach Haifa weiter und ließ sich schließlich in Tel Aviv nieder. Nach Kriegsende besuchte er Wien nur noch selten. Was hielt ihn hier? Die alten Freunde und Feinde waren größtenteils ermordet oder vertrieben worden. "Die größte Emigration geht leider über den Kokytos und den Phlegethon", schrieb Perutz zum Tod von Anton Kuh: Die Flüsse des Wehklagens und der alles versengenden Flammen, innerhalb der griechischen Mythologie zur Topografie des Hades zählend, drangen in den Zeiten des Zweiten Weltkriegs gewaltvoll an die Oberfläche. Das Wien der Künstlercafés, diesen Kosmos an notorischen Schnorrern und liebenswerten G'schichtldruckern, hat Perutz an seinem Zufluchtsort schmerzlich vermisst. "Eigentlich wäre mein Lebensproblem gelöst, wenn ich ein kleines Haus bauen könnte, von dessen vorderen Fenstern man die Omarmoschee sieht und von den hinteren den Kahlenberg", formulierte er einmal. Aus dem Exil kehrte er nur noch sommers zurück, vorwiegend an den geliebten Wolfgangsee. Anfang Juli 1957 hat er hier seinen letzten Roman, "Der Judas des Leonardo", abgeschlossen.

Gruseln. Am 25. August 1957 ist Leo Perutz 75-jährig in Bad Ischl gestorben, wo er auch begraben liegt. In der Wiener Porzellangasse 37 ist als einziges sichtbares Erinnerungszeichen an den einstigen Bewohner eine Gedenktafel angebracht, die darauf verweist, dass Perutz an dieser Adresse jahrelang lebte, zuerst mit seiner ersten Frau Ida Weil und den drei gemeinsamen Kindern, dann in zweiter Ehe mit Gretl Humburger.

Perutz' größter literarischer Erfolg im Exil ist bezeichnenderweise einem Versehen zu verdanken. In Tel Aviv druckte eine Gewerkschaftszeitung ohne Erlaubnis "Zwischen neun und neun" ab, Perutz' 1918 publizierten Roman um die Rätselfigur Stanislaus Demba, dessen Handlung in Teilen des neunten Wiener Gemeindebezirks angesiedelt ist. Die anhaltende Debatte in der Öffentlichkeit über die unrechtmäßige Veröffentlichung bescherte Perutz unerwartete Publizität; die Strafzahlung des Verlags war zudem viel höher als ein damals gängiges Autorenhonorar.

Wien als literarisches Zentralmotiv ist im Gesamtwerk des Autors wiederholt ausfindig zu machen. Ein diffuses Gefühl zwingt Vittorin im Roman "Wohin rollst du, Äpfelchen …", der 1928 in der "Berliner Illustrirten Zeitung" (sic!) als Vorabdruck erschienen war und dem Schriftsteller ein Millionenpublikum bescherte, nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Reise nach Russland, um sich an dem Befehlshaber des Gefangenenlagers zu rächen, in dem er interniert gewesen war. Vittorin folgt seinem einstigen Peiniger durch halb Europa, bis er diesen schließlich in einer Wohnung am Wiener Währinger Gürtel Nummer 134 ausfindig macht, einer Adresse, die heute in unmittelbarer Nähe zum Kulturveranstaltungszentrum WUK liegt.

Unisono begeisterten sich der Schriftsteller Jorge Luis Borges und der Philosoph Theodor W. Adorno für das Perutz-Werk "Der Meister des Jüngsten Tages" (1923). "Wer aus dem Roman das Gruseln nicht lernt, der lernt es gewiss nimmermehr", urteilte der Kritiker Siegfried Kracauer. Ein dunkles, bedrohliches Bild von Wien bildet die Kulisse für die Geschichte, in deren Mittelpunkt eine geheimnisvolle, die Konsumenten in den Selbstmord treibende Droge steht. Im "Mangobaumwunder" (1916) bildet eine Villa in Hietzing den Schauplatz des Geschehens.

"Zwischen neun und neun", die so verästelte wie verrätselte Geschichte des Stanislaus Demba, liefert nach wie vor das differenzierteste Wien-Bild aller Bücher Perutz'. In einer ortstypischen Greißlerei ordert Demba gleich zu Beginn ein Butterbrot bei Frau Püchl, einer vertratschten, inzwischen nur mehr selten anzutreffenden Herrin der Kleinwaren und Lebensmittel. Ein weiterer Schauplatz der Handlung ist der Liechtensteinpark, in den Perutz von seiner Wohnung in der Porzellangasse einen guten Einblick hatte. Im Café Hibernia, dem heutigen Café Schottenring vis-à-vis der alten Börse, bittet Demba anstelle eines Heißgetränks um eine Unmenge an Büchern, die er zum Sichtwall vor sich aufbaut. Jetzt erst kann er seine unter einem Mantel verborgenen, mit Handschellen gefesselten Hände - ein von Perutz in diesem Roman vielfach variiertes, planvoll mysteriös gehaltenes Detail - benützen, um die angerichteten Esswaren, Salami, Brot und Eier, zu verzehren. Anlässlich eines Abdrucks des Romans in der Wiener "Arbeiter Zeitung" notierte Perutz: "Dieses Buch wurde im Herbst 1917 geschrieben, in einer Zeit, als die Menschheit noch keine in Ketten geschlagenen Völker kannte." Die nächsten Stationen von Dembas Wien-Odyssee: von der Kolingasse in die Eßlinggasse durch den zweiten Bezirk, zurück zum innerstädtischen Graben und zur Mariahilfer Straße, Wiens längster Einkaufsmeile, bis in die Liechtensteinstraße, nahe dem Donaukanal.

Wiener Wesen. Mit der Dichotomie von Dichtung und Wahrheit hat sich Perutz in fast allen seinen Romanen auseinandergesetzt, vor allem mit Fragen der Identität, auch jenen nach den diversen Wiener Wesenheiten. Die Ereignisse rund um Stanislaus Demba, den Kaffeehausflüchtling und Antihelden aus "Zwischen neun und neun", sind so nur in der Stadt an der Donau denkbar. Dembas Verhalten wird durch seine Mitmenschen ständig interpretiert, er ist in den Augen der anderen zuerst Dieb, dann Bettler, Haschischsüchtiger, Krüppel und schließlich: ein Wahnsinniger mit einem Revolver unterm Mantel. Allein in Wien darf man bis heute verlässlich mit derart mitfühlender Zuwendung seitens seiner Mitmenschen rechnen.

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Orte & Adressen

* Café Central Herrengasse 17 1010 Wien www.palaisevents.at

* Café Schottenring Schottenring 19 1010 Wien www.cafe-schottenring.at

* Café Museum Operngasse 7 1010 Wien www.cafe-museum.at

Bibliothek

Perutz-Bücher (Auswahl)

Derzeit sind im Rahmen einer neu edierten Perutz-Ausgabe im Münchner dtv Verlag elf Romane des Schriftstellers lieferbar, darunter "Die dritte Kugel", "Der Meister des Jüngsten Tages", "Nachts unter der steinernen Brücke", "Der schwedische Reiter", "Wohin rollst du, Äpfelchen …", "Zwischen neun und neun" und "Der Judas des Leonardo".

Hans-Harald Müllers Biografie des Prager Autors erschien 2007 ("Leo Perutz", Zsolnay, 408 S., EUR 25,60). Die Studie "Leo Perutz. Unruhige Träume - Abgründige Konstruktion", die, so der Untertitel, "Dimensionen des Werks - Stationen der Wirkung" vermisst, publizierte der Wiener Verlag Sonderzahl anno 2002 (260 S., EUR 21,50).

"Herr, erbarme dich meiner!", ein ausführliches, von Alexander Peer herausgegebenes Perutz-Brevier zu Leben und Werk des Autors, ist bei Edition Art & Science (198 S., EUR 15,-) erhältlich.

Reise. Die Donaumonarchie, die vor 90 Jahren ihr Ende fand, brachte eine Vielzahl von Schriftstellern und Kaffeehausliteraten hervor, deren Romane und Erzählungen in die Weltliteratur eingegangen sind - darunter so prominente Namen wie Joseph Roth, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Karl Emil Franzos, Ödön von Horváth, Stefan Zweig, Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Alfred Polgar, Peter Altenberg und Felix Salten. Zudem sind viele Werke der bedeutendsten Nachkriegsautoren untrennbar mit dem habsburgischen Mythos verknüpft - etwa Robert Musils in Etappen veröffentlichter Romantorso "Der Mann ohne Eigenschaften" (1930-1952), Heimito von Doderers narratives Großprojekt "Die Strudlhofstiege" (1951) und Gregor von Rezzoris Stadtroman "Ein Hermelin in Tschernopol" (1958). profil begibt sich in einer mehrteiligen Serie auf Spurensuche nach den Schauplätzen zentraler literarischer Arbeiten jener Zeit.