Reportage

Der Tag, als ÖVP und SPÖ die „Aufholjagd“ ausriefen

ÖVP und FPÖ lagen am Sonntag nah beieinander - zunächst nur bei den Wahlfeiern, später auch bei dem Ergebnis.

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Lichtenfelsgasse 7, 17 Uhr: Wenn ein Dutzend Kameras auf einen gerichtet sind, kann man nicht so reagieren, wie man eigentlich möchte. Zumindest, wenn es eine Reaktion auf das schlechteste EU-Wahlergebnis der eigenen Partei ist. Christian Stocker, Generalsekretär der ÖVP, blickt also beinahe emotionslos nach vorne, als die erste Trendprognose der EU-Wahl über die Bildschirmwand in der Parteizentrale flimmert: 23,5 Prozent, ein prognostiziertes Minus von 11,1 Prozentpunkten. Zumindest muss Stocker nicht alleine vor die Medien treten, wie im Vorfeld auch schon überlegt wurde: Ein paar Reihen hinter ihm flüstern Außenminister Alexander Schallenberg und Innenminister Gerhard Karner einander etwas zu. Links von ihm schluckt ÖVP-Klubobmann August Wöginger, als der Partei fünf Mandate vorausgesagt werden. Dazwischen hebt Frauenministerin Susanne Raab die Augenbrauen nach oben, als klar ist, dass die FPÖ wohl drei Mandate dazugewinnt. Kein bemühtes Klatschen, kein aufmunternder Jubel. Nur ein ironisches Lachen geht durch den Raum, als der ORF aus der Wahlparty der Freiheitlichen nebenan sendet und FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz sagt: Es ist wichtiger zu arbeiten als zu feiern.

„Das ist nicht das Ergebnis, wofür wir gelaufen sind", sagt Stocker. Von außen hört man lauten Jubel, der von der freiheitlichen Wahlparty stammen könnte. Die Volkspartei feiert jedenfalls nicht. Spitzenkandidat Reinhold Lopatka und Bundeskanzler Karl Nehammer schauen sich die ersten Meldungen abseits der Öffentlichkeit an.

Lichtenfelsgasse, 23 Uhr: Wenn man sechs Stunden lang mit Schlimmeren gerechnet hat, kann man sich lauter und ehrlicher freuen, wenn es gar nicht so schlimm kommt. Als das Ergebnis inklusive Wahlkartenprognose verkündet wird, bricht in der Lichtenfelsgasse Jubel und Applaus aus. Die Funktionärinnen und Funktionäre pfeifen, rufen „jaaaa!“ und springen. Vermutlich ärgert sich so manches Regierungsmitglied, dass es die ÖVP-Party mittlerweile verlassen hat. Christian Stocker aber ist noch da, und sagt jetzt selbstbewusst: „Wir haben die Erwartungen übertroffen. Die Volkspartei ist stärker, als es ihr manche zugetraut haben“. An den Mandaten hat sich zwar nichts geändert, der ÖVP stehen auch laut Ergebnis fünf zu. Und es bleibt das schlechteste EU-Wahlergebnis. Aber, und das ist für die Partei das wichtigste: Sie liegt klar auf Platz zwei, und nur sehr knapp hinter der FPÖ. 

Wobei: Die Freiheitlichen erreichten zwar einen eindeutigen ersten Platz, so richtig gefeiert wurde nach der ersten Trendprognose aber auch nicht. Es ist womöglich der Fluch eines Sieges mit Ankündigung – und mit Dämpfer: In Umfragen lag die FPÖ bis zuletzt deutlich besser als nun schlussendlich am Wahlabend. Und, wie sich später herausstellen würde, in der Trendprognose besser als tatsächlich an der Urne. Vor allem aber war die Weinbar Vino in der Wiener Lichtenfelsgasse um 17 Uhr noch nicht gefüllt – obwohl die Partei mehreren Medienvertreter:innen den Zugang wegen angeblicher Überfüllung untersagt hatte: „Wir platzen aus allen Nähten“, erklärte die Pressestelle der FPÖ profil am Mittwoch. Andere Medienvertreter:innen kontaktierten die Partei später und erhielten dennoch einen Platz auf der blauen Gästeliste.

Laut FPÖ überfüllt: Die blaue Wahlparty

Die Wahlparty der Freiheitlichen in der Weinbar Vino, wenige Sekunden vor der Präsentation der ersten Hochrechnung. profil wurde nicht hineingelassen - aus Platzgründen, wie die Partei erklärte.

Auch Auslandsmedien wie der deutsche öffentlich-rechtliche Sender ZDF wurde der Zugang verwehrt. Der Verband der Auslandspresse in Österreich sah darin bereits am Freitag in einem offenen Brief an Herbert Kickl eine Fortsetzung des blauen Musters der „totalen Gesprächsverweigerung mit der internationalen Presse“: Diese Haltung der FPÖ sei „eine beispiellose und innerhalb der EU einzigartige Verletzung des Rechts auf Information“. Dem FPÖ-Chef war die öffentliche Kritik sichtlich egal. Das ZDF musste etwa vom Gehsteig ins Lokal filmen.

Ein tiefer Fall 

Die Botschaft, die die Freiheitlichen aussenden wollen, verbreiten sie ohnehin auf den eigenen Kanälen: Was bei der EU-Wahl möglich wurde, soll auch bei der Nationalratswahl erreicht werden. Platz eins und damit einen Bundeskanzler Herbert Kickl. Es ist auch das Duell, das ÖVP und SPÖ am Sonntag einmal mehr ausriefen, jeweils mit ihren eigenen Spitzenkandidaten. „Heute startet die Aufholjagd“, sagte Christian Stocker. Auch die SPÖ hat Blut geleckt: 2,2 Prozentpunkte trennen die Sozialdemokratie bei der Europawahl von den Freiheitlichen. In den vergangenen Monaten habe die FPÖ als uneinholbar gegolten, sagte Parteichef Andreas Babler nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnung um 23 Uhr und erklärte den Wahlkampf für die Nationalratswahl für eröffnet: „Ab heute Mitternacht wird die Republik sehen, wozu die Sozialdemokratie fähig ist.“ Vor der EU-Wahl wäre das aus SPÖ-Sicht wohl besser gewesen.

Vor fünf Jahren, bei der vergangenen EU-Wahl, sah die innenpolitische Lage ganz anders aus. Eine Woche nach dem Ibiza-Skandal erhielt die ÖVP 34 Prozent der Stimmen. Aus dieser Höhe lässt sich tief fallen, und die ÖVP fiel. Nach dieser Trendprognose fühlte es sich offenbar der Fall nur etwas weicher an. 

Seitdem 2019 sind allerdings Korruptionsskandale, Rücktritte und Kanzlerwechsel passiert. Nehammer dankte Reinhold Lopatka gleich zu Beginn mit einem ehrlichen: „Danke, dass du dir das antust.“

Die türkise Niederlage hatte sich also prinzipiell angekündigt: Für ihren Auftakt in den Intensivwahlkampf Ende Mai hatte die Volkspartei einen Luxusbus mit 44 Sitzplätzen angemietet, um Journalist:innen die Anfahrt nach Oberwart zu erleichtern. Neben profil nutzte die Gelegenheit ein Vertreter des klubeigenen Mediums „Zur Sache“ und ein türkiser Pressesprecher. Die restlichen 41 Plätze blieben leer, der eigens eingerichtete Medienraum in der Veranstaltungshalle Oberwart ebenso. In der Halle selbst nahmen mehr Mitarbeiter der Partei an den Presse-Tischen Platz als Medienvertreter:innen.

Das Resultat: Laut einer Auswertung der Austria Presseagentur (APA) gab es über ÖVP-Spitzenkandidat Reinhold Lopatka im Mai nur 137 Medienbeiträge – weniger als Andreas Schieder (150), Harald Vilimsky (199) und ein Bruchteil der Aufmerksamkeit, die Lena Schilling erhielt (645). Kein Wunder, dass Lopatka in der ORF-Elefantenrunde partout nicht die Verantwortung für eine (absehbare) Wahlniederlage übernehmen wollte. 

Unaufgeregt, aber unaufregend war auch der Wahlkampfabschluss. Für gewöhnlich finden solche Aktionen am Freitagabend an einem belebten Platz statt. Die ÖVP wählte den Donnerstagvormittag und die Lichtenfelsgasse aus. Vor der Parteizentrale befüllten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hunderte Sackerln mit Wahlgeschenken. Sieben Reihen davon standen vor dem Gebäude, während Christian Stocker und Reinhold Lopatka sich Platz eins an Mandaten wünschten. Karl Nehammer war nicht dabei. 

Die SPÖ hatte optimistisch zur EU-Wahlfeier in die große Marx-Halle, die 300 Gäste fasst, am Rande des 3. Bezirks geladen – in der sich zu Beginn dieses denkwürdigen Wahlabends die wenigen Gäste eher verloren. Das passte zum maximal durchwachsenen Wahlergebnis: Weit abgeschlagen, Aktion Wähler von der FPÖ zurückholen gescheitert. Nur einmal brandete wirklich Jubel auf: Als in der ersten Trendprognose der Absturz der ÖVP vermeldet wurde. Und die wenigen Parteigranden gaben sich nachdenklich: „Wir müssen die Lehren aus diesem Wahlergebnis ziehen“, analysierte Klubobmann Philip Kucher. Denn: „Die Regierung ist unbeliebt, der Wunsch nach Veränderung da. Aber wir können davon nicht profitieren. Das müssen wir bis zur Nationalratswahl ändern.“

Als zu später Stunde klar wurde, dass der Abstand auf den zweiten Platz noch größer ist, als in der Trendprognose, resignieren selbst die engagiertesten Mitglieder in Sankt Marx: „Wofür sind wir gelaufen?“, fragten sich manche laut. EU-Spitzenkandidat Andreas Schieder konnte keine Antwort mehr geben, er war bei Verkündung der ersten echten Hochrechnung nicht mehr auf der roten Wahlparty. Mit stoischem Schweigen nahm die Menge das Ergebnis zur Kenntnis. Applaus kam erst für Geschäftsführer Klaus Seltenheim auf, für Jubel sorgte Parteichef Andreas Babler - und für leise Hoffnung: Am Ende von Bablers Rede stand nicht mehr die Enttäuschung über den dritten Platz im Vordergrund, sondern die Schlagdistanz zur FPÖ: Er wolle die 2,2 Prozentpunkte zur FPÖ nicht nur einholen, sondern an den Freiheitlichen vorbeiziehen.

Nur die Musik wagte es, dem Parteichef öffentlich zu widersprechen: „Sucker love is heaven sent, you pucker up, our passion's spent, begann „Every You and Every Me“ von Placebo als erstes Lied nach Bablers Rede

NEOS und Grüne nahe beieinander 

Zwei andere Parteien lagen in der ersten Trendprognose erstaunlich nahe zusammen: Die NEOS gewinnen demnach ein Mandat, die Grünen verlieren eines. Die Pinken sind damit die zweiten Sieger des Abends - und feierten lauter als die Freiheitlichen: Der Jubel der Neos dröhnte bei der FPÖ-Wahlparty derart laut aus den Fernsehern, dass so manche Beobachter:innen glaubten, das FPÖ-Ergebnis hätte sich noch einmal verbessert.

Ganz anders die Stimmung bei den Grünen: Selbst wer für die Öko-Partei ins EU-Parlament zieht, könnte noch spannend werden. Denn zuvor war spekuliert worden, ob Spitzenkandidatin Lena Schilling nach Medienberichten über ihren Zugang zur Wahrheit den Grünen Stimmen kostet - oder zumindest Menschen ihr die Vorzugsstimmen verweigern. 

Bei der EU-Wahl ist die Hürde etwas niedriger als bei der Nationalratswahl. Kandidatinnen und Kandidaten werden vorgereiht, wenn fünf Prozent der Stimmen ihrer Partei eine Vorzugsstimme für sie beinhalten. Ob das der Fall ist, entscheidet sich aller Voraussicht nach erst am Montag. Dann werden die letzten Vorzugsstimmen ausgewertet. 2019 war es Heinz-Christian Strache gelungen, ohne dass er sich darum bemüht hatte. Nach Ibiza schrieben mehr als 37.000 FPÖ-Wähler seinen Namen auf den Stimmzettel, obwohl er ursprünglich nur eine symbolische Kandidatur auf Platz 42 geplant hatte. Bekanntlich nahm er das Mandat nicht an. 

Die Spitzenkandidatin der Grünen zur EU-Wahl, Lena Schilling, bei der Stimmabgabge

Auch die Grünen hatten in das relativ große Metropol-Veranstaltungszentrum geladen, bis 19:30 Uhr mit gratis Getränken. Und man merkte, die Partei war auf das Schlimmste eingestellt: Nach dem unerwartet turbulenten Wahlkampf voller Vorwürfen fühlten sich die zwei Mandate, eines weniger als 2019, offenbar fast schon verschmerzbar an. Man versuchte es schnell als Lehre für die Nationalratswahl zu interpretieren, für die Wählerinnen und Wähler: Jetzt zeichne sich tatsächlich ein Rechtsruck ab, „ein Weckruf für uns alle“, wie Generalsekretärin Olga Voglauer sagte. Als erster vor die Medien trat Gesundheitsminister Johannes Rauch. Er übernahm die Aufgaben der erkrankten Klubchefin Sigrid Maurer und dankte allen, die trotzdem die Grünen gewählt hatten. 

Um 21:30 kam dann Lena Schilling zu den Klängen von „Simply the best“ auf die Bühne. Fast hätte man das Gefühl gehabt, hier hat die Partei kurz vergessen, dass sie aller Voraussicht nach ein Mandat verloren hat. Dann meldete sich Parteichef Werner Kogler aber doch noch ernster zu Wort: „Unseren Sympathisant:innen wurde einiges zugemutet. Wir haben ihnen auch einiges zugemutet. Wir haben in diesem Neuland auch Fehler gemacht.“ 

Auch auf der Wahlparty gab es übrigens eine ungeplante Aufregung: Aktivisten gingen auf die Bühne und hielten Schilder in die Luft mit der Aufschrift „Gaza Völkermord“ und riefen „Lena Schilling, stop the killing!“. Grüne Funktionäre mussten sie dann Richtung Ausgang bugsieren. Als das Wahlergebnis um 23 Uhr kam, war der Jubel auf der Wahlparty groß. Auch wenn das Ergebnis nicht viel von der Trendprognose abweicht, konnten die Grünen mit 10,9 Prozent einen Vorsprung zu den NEOS gewinnen. Ein zweiter Jubelschrei war im Wiener Metropol zu hören, als das gedämpfte Ergebnis der Freiheitlichen verkündet wurde.

Für die Kleinparteien hat es nicht gereicht. Die KPÖ verpasste den Einzug, wobei ihr Hauptziel dieses Jahr ohnehin nicht das EU-Parlament in Brüssel ist, sondern der Nationalrat in Wien.

Auch die Liste DNA, kurz für „Demokratisch, Neutral, Authentisch“, scheiterte mit der Medizinerin Maria Hubmer-Mogg als Spitzenkandidatin. Vermutlich auch, weil jede ihrer Positionen auch von den Freiheitlichen vertreten wurde: Die Aufarbeitung der Pandemiemaßnahmen, eine Skepsis bis hin zu Ablehnung der Impfung, Kritik an den Russlandsanktionen und der Asylpolitik der Europäischen Union.  

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Schaut aufs große Ganze, kritzelt gerne und chattet für den Newsletter Ballhausplatz. War zuvor bei der „Kleinen Zeitung“.