Wie es nach der Europawahl in Brüssel weitergeht
Seit Sonntag 23 Uhr ist der Ausgang der zehnten Wahl zum Europäischen Parlament bekannt. Was bedeutet dieses Ergebnis für die nächste Legislaturperiode? Worauf muss sich Noch-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einstellen? Und wie wirkt sich dasWahlergebnis auf das ambitionierte Klimaschutzpaket „Green Deal“ aus?
Wer vertritt Österreich künftig im EU-Parlament?
Österreich wird mit 20 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten sein. Als stimmenstärkste Partei stellt die FPÖ künftig sechs Abgeordnete. Für die Freiheitlichen bedeutet das eine Verdoppelung ihrer Mandate. Jeweils fünf Abgeordnete entsenden ÖVP und SPÖ. Die verbleibenden vier Sitze teilen sich auf die Grünen (zwei) und auf die NEOS (zwei) auf. Die KPÖ und die Liste DNA konnten nicht ausreichend viele Stimmen erreichen und werden künftig nicht im EU-Parlament vertreten sein. Die Spitzenkandidatin der Liste DNA, Maria Hubmer-Mogg, schloss am Wahlsonntag ein Antreten bei der Nationalratswahl im Herbst aus.
Welche heimischen Politiker:innen ziehen nach Brüssel?
Grundsätzlich hat sich jede Partei vor der Wahl auf eine Reihung (Listenplatz) festgelegt. Dass die Kandidat:innen nach dieser Reihenfolge ins EU-Parlament einziehen, bedeutet das aber nicht. Zum einen können die Politiker:innen auf ihr Mandat verzichten, wie es beispielsweise Vizekanzler Werner Kogler nach der EU-Wahl 2019 als Spitzenkandidat der Grünen getan hat. Zum anderen können die Vorzugsstimmen zu einer Umreihung der Listenplätze führen.
So wäre zum Beispiel der ehemalige FPÖ-Parteichef Heinz-Christian Strache nach der EU-Wahl im Jahr 2019 zu einem Sitz im EU-Parlament gekommen: Weil sich 44.750 freiheitliche Wähler:innen vorzugsweise für Strache ausgesprochen hatten und der ehemalige Parteichef damit mehr Vorzugsstimmen bekam als der Listenerste Harald Vilimsky, hätte Strache Anspruch auf eines der damals drei FPÖ-Mandate gehabt. Der ehemalige Parteichef verzichtete darauf aber eine Woche nach Bekanntwerden des Ibiza-Skandals.
Nach der aktuellen EU-Wahl gibt es eine Umreihung des Grünen Thomas Waitz. Er kandidierte auf dem zweiten Listenplatz, erhielt aber mehr Vorzugsstimmen als die Spitzenkandidatin Lena Schilling und wird nun vorgereiht. Unterschied macht das freilich keinen, da Schilling und Waitz als Nummer eins und zwei bereits seit Sonntagnacht für die beiden Sitze der Grünen feststanden.
Kann sich eine Partei nach der Wahl gegen eine:n Kandidat:in aussprechen und ihr das Mandat „wegnehmen“?
Steht eine Person einmal auf der Wahlliste, kann ihr das Mandat in der Regel nicht mehr streitig gemacht werden. Diese Erfahrung macht gerade die deutsche AfD, die ihren Spitzenkandidaten Maximilian Krah nach zahlreichen Skandalen im Rahmen des Wahlkampfs nur einen Tag nach der Wahl aus der AfD-Delegation ausgeschlossen hat. Krah hat allerdings bereits angekündigt, sein Mandat dennoch annehmen zu wollen. Voraussichtlich als Fraktiosloser.
Wer wird neuer österreichischer EU-Kommissar?
Diese Frage hat mit dem EU-Wahlergebnis wenig zu tun. Es sind die Regierungen der Mitgliedstaaten, die die Kommissare nominieren. Anschließend stimmt das EU-Parlament über die Kommissionare ab. Klar ist in Österreich bisweilen, dass der aktuelle EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) nicht mehr Teil der künftigen EU-Kommission sein wird.
Laut einem Sideletter der türkis-grünen Bundesregierung fällt das Nominierungsrecht für den Posten der ÖVP zu. Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler sagte am vergangenen Donnerstag allerdings, dass sich die Grünen nicht mehr an diese Vereinbarung halten werden. „Der Sideletter ist obsolet, weil er unter anderen Voraussetzungen entstanden ist“, so Kogler. Stattdessen plädierte er für den herkömmlichen Prozess: Einstimmigkeit im Ministerrat, gefolgt von einer Mehrheit im Hauptausschuss des Nationalrats.
Die NEOS hatten zuletzt den langjährigen Europapolitiker Othmar Karas (ÖVP), der sich mit der ÖVP überworfen hat, ins Spiel gebracht. Als weitere Kandidaten werden ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner sowie Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) gehandelt. Edtstadler hat das auch zuletzt im profil-Ballhausplatz nicht ausgeschlossen.
Was bedeutet das Wahlergebnis für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ihren Job behalten will?
Der Vorsitz der EU-Kommission entfällt in der Regel auf die stimmenstärkste Fraktion im EU-Parlament. Das ist auch nach dieser Wahl die Europäische Volkspartei (EVP). Nominiert wird der oder die Komissionspräsident:in allerdings von den Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten. Im Anschluss muss sie von der Mehrheit der Abgeordneten (die absolute Mehrheit liegt bei 361 Stimmen) gewählt werden. Zwar kommen die Fraktionen der proeuropäischen Mitte (EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne) zusammen auf mehr als 400 Sitze – einen Fraktionszwang gibt es im Europäischen Parlament aber nicht, Abweichler gibt es in allen Fraktionen immer wieder.
Bereits bei der vergangenen Wahl von der Leyens zur Kommissionspräsidentin fiel ihr Überhang mit neun Stimmen äußerst knapp aus. Weil von der Leyen dieses Amt weiterhin ausüben möchte, versucht sie nun, einem ähnlich knappen Wahlergebnis zu entgehen. „Deshalb versucht sie bereits jetzt einen inhaltlichen Spagat, etwa mit der italienischen Fratelli d'Italia, damit sie wiedergewählt wird“, sagt Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, im profil-EU-Podcast.
Wie wirkt sich das Wahlergebnis auf neue Gesetzesvorhaben aus?
Bei den großen thematischen Schwerpunkten – in der aktuellen Legislaturperiode ist das der European Green Deal – rechnet der EU-Experte künftig mit Verschiebungen. Außerdem werden „Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit eine riesengroße Herausforderung werden, um im Konkurrenzkampf zwischen den Blöcken USA und China zu bestehen“, sagt Schmidt. Und auch mit Blick auf den Kriege in der Ukraine und den Nahostkonflikt, „wird das Parlament künftig gefordert sein, Entscheidungen in puncto Sicherheit und Verteidigung zu treffen“, meint der EU-Experte Schmidt.
Bereits in der laufenden Legislaturperiode hat sich gezeigt, dass es Gesetzespakete wie das EU-Renaturierungsgesetz, die Pestizidverordnung oder auch das Lieferkettengesetz schwierig haben, wenn es darum geht, Mehrheiten im EU-Parlament zu finden. Bei bereits beschlossenen Gesetzen rechnet Schmidt zwar nicht mit Rückabwicklungen – mit Blick auf die künftige Mandatsverteilung (zugunsten der konservativen und rechten Parteien und zulasten der Liberalen und Grünen) könnten es klima- und sozialpolitische Vorhaben künftig aber noch schwieriger haben.
In welchen Ländern gab es Überraschungen?
Während es in Mittel- und Südeuropa teils starke Zugewinne rechter Parteien gab, feierten in Nordeuropa Sozialdemokraten, Linke und Grüne. In Finnland etwa konnte das Linksbündnis seinen Anteil um 10,4 Prozentpunkte im Vergleich zur EU-Wahl 2019 steigern und landete mit 17,3 Prozent als zweitstärkste Partei hinter den Konservativen. In Schweden konnten die Grünen um zwei Prozentpunkte zulegen, aber auch die linke „Vänsterpartiet“ legte um 4,2 Punkte zu und landete bei 11 Prozent. In Dänemark gewannen die Sozialisten dazu, während die Rechtspopulisten der „DF“ mehr als 4 Prozentpunkte verloren.
Anders war das nicht nur in Österreich, wo die rechte FPÖ erstmals eine bundesweite Wahl gewonnen hat – auch in den Niederlanden und Frankreich gab es starke Zuwächse rechter Parteien. In den Niederlanden erreichte die rechtspopulistische „PPV“ von Geert Wilders mehr als 17 Prozent der Stimmen, 2019 waren es noch etwas mehr als drei Prozent gewesen. In Frankreich entfiel fast jede dritte Stimme auf Marine Le Pens „Rassemblement National“. Während auf der einen Seite die Rechten zulegen, stürzte die Wahlplattform, der auch die Partei von Premierminister Emmanuel Macron angehört, von 22 auf 14 Prozent ab.
Warum hat Macron noch am Wahlabend Neuwahlen in Frankreich ausgerufen?
Aufgrund des schlechten Abschneiden des liberalen Bündnisses von Premierminister Emmanuel Macron bei der Europawahl, hat dieser noch am Sonntagabend die Nationalversammlung aufgelöst und eine Neuwahl des Parlaments für den 30. Juni angekündigt. Macron erhofft sich vom Mehrheitswahlrecht – wie es etwa auch in Österreich bei Präsidentschaftswahlen angewandt wird –, dass sich weder ein Bündnis rechter noch linker Parteien durchsetzt.
Von der Wahl selbst erhofft sich Macron ein Zeichen gegen den Rechtsruck im Land. Die weniger als drei Wochen bis zur Wahl hat Macron Beobachtern zufolge bewusst gewählt, um seinen Gegnern möglichst wenig Zeit für einen Wahlkampf zu geben. Ob dieser Poker aufgeht, erfährt man am 7. Juli, denn da ist der zweite Wahlgang, den es zumeist für eine Entscheidung braucht, angesetzt.
Welche Fraktionen wird es künftig geben?
„Jetzt beginnt das Ringen und möglicherweise Neuzusammensetzen der Fraktionen“, sagt Paul Schmidt. Derzeit gibt es im EU-Parlament sieben Fraktionen: Die Christdemokraten (EVP), Sozialdemokraten (S&D), Liberale (RENEW), Grüne (Grüne/EFA), die Linken (GUE/NGL) und die beiden rechten Fraktionen Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und Fraktion Identität und Demokratie (ID). Das muss aber nicht so bleiben. „Vielleicht gibt es in Zukunft acht Fraktionen, vielleicht auch nur sechs. Da werden wir auch beobachten, ob welche von den bisherigen fusionieren oder nicht“, so der EU-Experte.
Eine solche Fusionierung einer großen Fraktion rechts der Mitte wünscht sich FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky schon lange. Und er sondiert dafür auch dieser Tage mit den Vorsitzenden anderer im EU-Parlament vertretenen rechten Parteien. Ob es gelingt, eine große rechte Fraktion zu bilden, bleibt fraglich. Zu uneinig sind sich rechte Parteien quer durch Europa in vielen Fragen.
Am deutlichsten werden die Differenzen unter den Rechten, wenn es um den Umgang mit Russland geht. So steht einem Beitritt der Fidesz (seit dem Austritt aus der EVP-Fraktion im Jahr 2021 sind deren Abgeordneten fraktionslos) in die EKR-Fraktion beispielsweise die Frage um Umgang mit Russland im Weg. Denn während andere rechtspopulistische Parteien wie die polnische „PiS“ einen Anti-Russland-Kurs fahren, gilt Viktor Orbáns Fidesz-Partei als enger Verbündeter Putins. Auch die italienische Rechtspartei „Fratelli d'Italia“ unterstützt die Sanktionen gegen Russland und Hilfspakete für die Ukraine. Giorga Meloni hat außerdem mehrfach rechtsextreme Parteien wie die AfD mitsamt ihrer faschistischen Parolen verurteilt.
Welche und wie viele Fraktionen künftig im EU-Parlament vertreten sein werden, hängt laut Schmidt auch von den derzeit fraktionslosen (45) und neuen Mitgliedern (55) ab, die keiner Fraktion angehören. Denn wo sich diese in Summe 100 Abgeordneten anschließen, wird mitentscheiden, welche Gesetze in welcher Ausführung die kommende Legislaturperiode prägen werden.