Der frühere sozialdemokratische Premierminister Olof Palme ist in Österreich aufgrund seiner engen Freundschaft zu Kanzler Bruno Kreisky bekannt. Wie hätte er wohl über den NATO-Beitritt gedacht?
Harrison
Ich habe viel zu Palme geforscht. Er war ein Politiker mit einem ausgeprägten Realitätssinn. Er hätte die Gründe für die Mitgliedschaft verstanden, dem Beitritt aber nicht zugestimmt. Zumindest hätte er schwere Bedenken gehabt. Palme unterstützte mit Kreisky und Willy Brandt die Sozialistische Internationale. Das war seine Welt.
Die Neutralität ist Teil der österreichischen Identität. Wie schwer war es für die schwedische Bevölkerung, diese Neutralität aufzugeben?
Harrison
Noch vor wenigen Jahren war die Neutralität für die Schweden von höchster Bedeutung. Wie in Österreich war sie auch in Schweden Teil der nationalen Identität. Unsere Politiker haben diese Identität gepflegt und darauf hingewiesen, dass Schweden seit 200 Jahren neutral wäre. Das stimmt zwar so nicht, aber die Bevölkerung hat es geglaubt.
Schweden war auch immer bereit, seine Neutralität militärisch zu verteidigen, und leistete sich starke Streitkräfte.
Harrison
Unsere Luftstreitkräfte zählten einmal zu den stärksten Europas. Wie die Neutralität war auch die Armee Teil unserer Identität. Wir wollten nicht in die NATO, also war uns klar, dass wir für unsere Sicherheit selbst sorgen müssen. Daher steckten wir viel Geld in unsere Landesverteidigung, vor allem in die Marine und die Luftstreitkräfte. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Ostblocks hat sich dies geändert. Die Ausgaben für das Militär wurden zurückgefahren. Schweden ist keine Militärmacht mehr.
Gibt es in Schweden eine reale Angst vor einem Krieg in Europa?
Harrison
Die Angst ist nicht unmittelbar akut. Dass wir jetzt NATO-Mitglied sind, beruhigt die Menschen. Und wir haben gesehen, dass Russland die Ukraine nicht so besiegen kann, wie sich Putin das vorstellte. Aber es braucht nicht viel, dass aus einem unguten Gefühl konkrete Kriegsangst wird.
Wie in der NATO gibt es auch in den Verträgen der Europäischen Union eine militärische Beistandsklausel unter den Mitgliedstaaten. Dennoch zieht es Schweden vor, sich auf den Schutz der NATO zu verlassen, und nicht auf die EU. Warum?
Harrison
Gäbe es eine glaubhafte Sicherheitsgarantie durch die EU, würden wir uns darauf verlassen. Aber dazu ist die Union nicht imstande, es gibt einfach zu viele verschiedene Stimmen. Die Mitgliedstaaten haben noch immer nicht viel gemeinsam. Im Zweifel kann man sich auf Europa nicht verlassen. Wenn Russland ein EU-Land angreift, wie würde sich etwa Ungarns Regierungschef Viktor Orbán verhalten? Könnten die baltischen Staaten im Ernstfall tatsächlich mit dem Beistand der anderen EU-Länder rechnen? Aus Sicht der schwedischen Bevölkerung steht die Europäische Union für Handel, nicht für militärische Sicherheit.
Eine große Mehrheit in der österreichischen Bevölkerung ist davon überzeugt, dass unsere Neutralität uns beschützt. Daher bräuchten wir weder die NATO noch ein EU-Militärbündnis.
Harrison
Schweden hat große Seen und lange, nur schwer zu verteidigende Küstenlinien. Österreich dagegen hat Berge und ist von kleineren und größeren NATO-Staaten umgeben. Das stärkt das Sicherheitsgefühl. Ich wünsche der österreichischen Bevölkerung aufrichtig, dass dieses Sicherheitsgefühl lange andauert. Aber glauben Sie mir, es braucht nicht viel, dass so ein Gefühl umschlägt. Auch wir Schweden haben uns sehr sicher gefühlt. Nun hat sich alles geändert.
Unser Sicherheitsgefühl basiert darauf, dass sich die von Ihnen erwähnten Nachbarstaaten im Falle eines Angriffs verteidigen und damit indirekt auch uns beschützen würden. Das wird als Trittbrettfahrer-Mentalität bezeichnet.
Harrison
Mein Kommentar dazu wäre, so etwas wie eine immerwährende Neutralität, die allein auf Identität basiert, gibt es nicht. Wir sind alle Menschen, und Menschen sind nun einmal anfällig für Furcht. In den vergangenen 100 Jahren hat sich Europa politisch komplett verändert, das gilt vor allem auch für Österreich, das vor gar nicht so langer Zeit noch ein großes Kaiserreich war. Wir können uns den Glauben, dass wir das Ende der Geschichte erreicht hätten, schlicht nicht leisten. Wir müssen immer auf Veränderungen vorbereitet sein.
Die EU begann als Friedensprojekt, dann wurde es zu einer Wirtschaftsgemeinschaft. Glauben Sie, dass sich die EU nun zu einer militärischen Verteidigungsunion entwickeln wird?
Harrison
Ich bemerke eine starke Tendenz in diese Richtung. Natürlich hängt alles von der weiteren Entwicklung in den USA ab. Kein anderes Land ist so wichtig für die Verbreitung der Demokratie in der Welt und für die Garantie der Sicherheit in Europa. Wenn die USA ihre Politik nicht ändern, muss die EU kein Militärbündnis werden. Sollte Donald Trump wieder US-Präsident werden und sein Land aus der NATO führen, ist die EU regelrecht gezwungen, sich in eine richtige Sicherheitsallianz zu verwandeln. Dies wäre vor allem im Interesse der kleineren EU-Staaten, die kein nennenswertes Militär unterhalten.
Darauf folgt zwingend die Frage, wird die EU je eine eigene Armee haben oder bleibt sie auf die Streitkräfte der einzelnen Mitgliedstaaten angewiesen?
Harrison
Diese Frage wurde bereits oft diskutiert. Solange die NATO stark ist, gibt es keinen Grund für eine eigene EU-Armee.
Ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine aus Ihrer Sicht ein Kapitel oder ein Wendepunkt in der Geschichte Europas?
Harrison
Der Krieg ist definitiv ein Wendepunkt. Wir haben uns alle gewünscht, dass Russland sich in Richtung eines modernen, demokratischen Staates nach westlichem Vorbild entwickeln wird. Aber unsere Hoffnungen wurden enttäuscht. Unser westliches System passt für Russland einfach nicht, es ist den Russen regelrecht fremd.
Dick Harrison, 58
Der Professor der Universität Lund zählt zu den prominentesten Historikern Schwedens. Im März 2024 hielt er einen Vortrag über „Nordische Perspektiven auf Russland“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.