Raphael Thelen: „Keiner von uns klebt gerne da“
Der renommierte Berliner Journalist Raphael Thelen schmiss seinen Job, um Klimaaktivist bei der Letzten Generation zu werden. Was hat ihn dazu gebracht? Und wovon lebt eigentlich ein Klimaaktivist?
Sie haben Anfang des Jahres gekündigt und wurden Klimaaktivist. Was hat Sie dazu bewegt?
Thelen
Wir müssen nur auf die vergangenen Wochen zurückblicken, um zu sehen, dass die Klimakrise eskaliert. Wir sehen, dass Menschen sterben, in Europa, auf der ganzen Welt. Ich war für den „Spiegel“ und für die „Zeit“ in Südafrika, im Irak, in Marokko und habe mir angesehen, was an Katastrophen auf uns zukommt. Es wird nicht reichen, so weiterzumachen wie bisher, nur mit kleinen Änderungen. Wir müssen einen fundamentalen Wandel hinlegen. Das hat man noch nicht begriffen, nicht im Journalismus und auch nicht in der Politik. Ich will nicht mehr nur noch über die Klimakrise schreiben, ich will selbst an der Rettung unserer Lebensgrundlagen teilnehmen.
Glauben Sie, mit Aktivismus mehr Menschen zu erreichen als mit Journalismus?
Thelen
Es geht ja nicht darum, Menschen zu erreichen. Die Fakten über die Klimakrise sind seit 40 Jahren bekannt. Damals haben sich große Ölkonzerne wie Shell, BP und ExxonMobil wider besseres Wissen entschieden, weiterhin Öl und Gas zu fördern. Sie haben ganz bewusst angefangen, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Wenn ich mich umschaue, wer auf der Basis der wissenschaftlichen Fakten kommuniziert, dann ist das eigentlich nur die Klimabewegung. Und dann ist da mein Platz.
Sie haben sich für die Letzte Generation entschieden und nicht zum Beispiel für Fridays For Future, die auch den Klimastreik organisieren. Warum gerade die Klimakleber?
Thelen
Weil wir gesehen haben, dass den Fridays zwar eine ganze Zeit zugehört wurde. Es zeigte sich aber auch, dass einem Protest, der nur bittet, nicht lange zugehört wird. In Deutschland waren vor ungefähr drei Jahren an einem einzigen Tag 1,4 Millionen Menschen mit den Fridays auf der Straße. Am gleichen Tag hat die Bundesregierung das Klimapaket verabschiedet, in dem keine einzige Maßnahme stand, die ernsthaften Klimaschutz bedeutet hätte. Die Lehre daraus? Protest muss störender werden.
Der Letzten Generation schlägt wegen ihrer Klebeaktionen viel Kritik und auch Hass entgegen. Haben Sie das persönlich schon erlebt?
Thelen
Selbstverständlich. Ich klebe selber mit auf der Straße. Natürlich erlebe ich, wie wir angeschrien werden, wie wir über den Asphalt gezerrt werden.
Meine Zukunft geht in Flammen auf. Ich hätte gerne Kinder, aber ich habe Angst, welche in diese Welt zu setzen.
Verstehen Sie den Ärger der Autofahrerinnen?
Thelen
Diese Frage wurde mir oft gestellt, und ich weiß nicht, ob das wirklich das Thema ist. Aber ja, ich verstehe es. Eines der ersten Videos, das ich von der Letzten Generation gesehen habe, zeigte einen Handwerker, der aus seinem Transporter sprang und brüllte: „Ich habe keine Zeit, ich habe keine Kohle. Wir sind alle pleite wegen Corona. Ich muss hier durch!“ Ich dachte damals: Das könnte mein Vater sein. Mein Vater war Handwerker, hatte einen kleinen Betrieb mit drei, vier Angestellten. Und er hatte nie Kohle und nie Zeit. Im Zweifelsfall stand der Betonmischer schon auf der Baustelle, wenn er zu spät kam, war der Beton hart und der Tag gelaufen. Ich verstehe jeden, der sauer ist.
Warum machen Sie es dann?
Thelen
Keiner von uns klebt gerne da. Wir gehen sofort von der Straße, wenn unsere Regierungen anfangen, unsere Lebensgrundlagen zu schützen. Stattdessen schützen sie aber Profite. Anstatt wieder und wieder über unsere Methode zu reden, sollten wir darüber reden, dass die Regierung und die Konzerne unsere Lebensgrundlagen zerstören. In meiner Heimat im Ahrtal sind bei dem Hochwasser vor zwei Jahren über Nacht Milliardenschäden entstanden und fast 200 Menschen gestorben. Darüber müssen wir reden und nicht darüber, dass in einer Stadt wie Berlin, in der sowieso den ganzen Tag Stau ist, ein paar Autos mehr stehen.
Warum ist der Ärger über die Klimaaktivisten größer als über die Umweltkatastrophen?
Thelen
Weil wir dasitzen und ein Ventil sind. Natürlich bricht es mir das Herz, wenn eine Lehrerin zu mir kommt und sagt, es ist der erste Schwimmunterricht seit Corona und ihre Klasse versäumt das. Aber das sind alles Peanuts gegen das, was ich in Ländern wie Südafrika gesehen habe oder im Ahrtal oder in Spanien.
Die deutschen Behörden ermitteln gegen einige Mitglieder der Letzten Generation wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Sehen Sie die Gefahr, dass sich die Klimaaktivisten tatsächlich radikalisieren und irgendwann zu gewaltsamen Maßnahmen greifen?
Thelen
Friedlicher ziviler Widerstand macht aus zwei Gründen Sinn: Zum einen strategisch, weil sozialwissenschaftliche Studien zeigen, dass friedlicher Widerstand viel, viel erfolgreicher ist, als zu Gewalt zu greifen. Und zum anderen wollen wir ja den gesellschaftlichen Frieden erhalten. Wir wollen ja, dass wir alle ein gutes Leben haben. Wir wollen ja, dass Gerechtigkeit herrscht. Für mich wäre es ein moralisch-ethischer Widerspruch, dafür Gewalt auszuüben.
Wenn ich keine Hoffnung hätte, würde ich noch ein paar Jahre auf Urlaub fahren – und nach mir die Sintflut.
Sie haben gerade den Roman „Wut“ veröffentlicht. Darin radikalisiert sich eine Figur und besorgt sich eine Waffe. Besteht die Gefahr, dass bei manchen der Frust, nicht gehört zu werden, zu groß wird?
Thelen
Der Blick in die deutsche Geschichte zeigt, wo das hinführt: Bewaffnung, Untergrund, Kampf. Das Buch soll ausloten, wann Wut Sinn macht. Wann schlägt Wut ins Destruktive um? Ich erzähle das anhand einer fiktiven Geschichte. In der Realität sehe ich das aber nicht. Deutschland und Österreich sind völlig andere Gesellschaften als im vergangenen Jahrhundert. Wir sind friedlicher, wir sind gebildeter; es gibt keinen Anlass, eine Radikalisierung anzunehmen.
Ist der Klimaaktivismus vielleicht sogar zu zahm, weil nichts weitergeht?
Thelen
Die Politik ist zu zahm. Ich glaube, die Klimabewegung kann mit einem anderen Selbstbewusstsein und auch mal wütend auftreten. Es gibt eine schöne, konstruktive Art der Wut. Für das Buch habe ich mich selbst gefragt: Wo ist meine Wut? Warum bin ich nicht wütender? Meine Zukunft geht in Flammen auf. Ich hätte gerne Kinder, aber ich habe Angst, welche in diese Welt zu setzen.
Das Buch zeigt eine gespaltene Gesellschaft: Klimaaktivistinnen gegen den Rest der Welt. Empfinden Sie das persönlich auch so?
Thelen
Gar nicht, so habe ich das Buch auch nicht geschrieben. Laut Umfragen will der Großteil der Deutschen Klimaschutz. Wir fordern jetzt seit Jahren ein Neun-Euro-Ticket und Tempo 100. Die Zustimmung zur Letzten Generation steigt nicht, aber die Zustimmung zu diesen beiden Forderungen ist konstant. Deswegen zählt das Argument auch nicht, wir würden dem Klimaschutz schaden. Das ist ein populistisches Argument von Menschen, die uns klein machen wollen. Wir richten uns nicht gegen die Bevölkerung, sondern immer ganz explizit an die Politik.
Bei der Reduktion der CO2-Emissionen hat sich bisher so gut wie nichts getan. Haben Sie noch Hoffnung, dass sich das ändert?
Thelen
Ja, absolut. Wenn ich keine Hoffnung hätte, dann würde ich noch ein paar Jahre auf Urlaub fahren, mir eine schöne Zeit machen und dann nach mir die Sintflut. Aber ich habe in meiner Zeit als Reporter immer wieder gesehen, dass Wandel möglich ist. Und ich erlebe das auch bei mir. Ich bin selbst aus einer sehr leistungsgetriebenen Lebensweise ausgestiegen. Ich habe als Journalist Preise gewonnen und sehr dafür gelebt, dass meine Geschichten erfolgreich sind und meine Tweets gelesen werden. Dann dachte ich irgendwann: Moment mal, bin ich mit diesem Karrieredenken nicht auch ein kleines Rädchen in dieser Maschine, die unseren Planeten zerstört? Deswegen bin ich da ausgestiegen, und ich merke, wie viel schöner mein Leben ist.
Wovon lebt man eigentlich als Klimaaktivist?
Thelen
Ich schreibe Bücher und eine Kolumne. Ich spreche auf Bühnen, bei Parteien und bei Unternehmen. Ich verdiene also eigentlich mein Geld weiterhin wie früher. Gleichzeitig engagiere ich mich zivilgesellschaftlich bei der Letzten Generation. Das ist im Prinzip ein Ehrenamt.
Sie kommen aus Bonn, Ihre Mutter lebt im nahegelegenen Ahrtal. Wie haben Sie die Flutkatastrophe 2021 erlebt?
Thelen
Ich habe damals einen Artikel geschrieben, der hieß „Plötzlich so nah“. Genauso hat sich das angefühlt. Ich stand an diesem unscheinbaren Flüsschen, das plötzlich ein reißender Strom war, braun und aufgewühlt. Eine meiner ersten Partnerinnen kommt aus einem kleinen Ort, in dem die gesamte Fußgängerzone bis über Kopfhöhe unter Wasser stand. Klar war das ein Schock, das brutale Leid, die Zerstörung. Aber es gab auch diese große Solidarität, dass Menschen aus allen Ecken Deutschlands kamen, um anzupacken, um zu spenden. Das waren die zwei eindrücklichsten Erlebnisse in diesen Tagen.
Sie waren Anfang des Jahres bei den Protesten gegen den Braunkohleabbau in Lützerath dabei, die international viel Aufmerksamkeit erfahren haben. Was sind die nächsten großen Projekte, gegen die Sie kämpfen wollen?
Thelen
Ich glaube, die Klimabewegung wird in Zukunft nicht mehr so viel gegen Dinge kämpfen, sondern für Dinge. Ich merke, dass ich es selber leid bin, nur noch zu sagen, wogegen ich bin – weil ich genau weiß, wofür ich bin. Ich bin für mehr Gerechtigkeit. Ich bin für eine Gesellschaft, in der nicht das reichste ein Prozent der Menschen zehn Prozent aller CO2-Emissionen produziert; in der der Dachdecker nicht bei 40 Grad aufs Dach muss und alte Menschen zu Hause nicht an der Hitze sterben. Ich träume von einer Gesellschaft, in der es einen Ausgleich gibt.
Meinen Sie einen finanziellen Ausgleich für Länder im Süden und für ärmere Bevölkerungsschichten?
Thelen
Es gibt das Verursacherprinzip. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Untergang der Ölplattform „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko 2010. Der betreibende Ölkonzern BP hatte Sicherheitsmaßnahmen nicht beachtet, um die Gewinnmarge zu erhöhen. Es gab eine Explosion, mehrere Menschen starben und 800 Millionen Liter Öl strömten ins Meer. Daraufhin gab es einen Prozess, BP musste vier Milliarden US-Dollar Strafe zahlen. Ein Teil des Geldes wurde dafür eingesetzt, um die Schäden dieser Umweltkatastrophe zu beheben. Jemand macht etwas kaputt, und ein Gericht entscheidet, dass er das reparieren muss. Ausgleich ist möglich. Ich habe auf jeden Fall Hoffnung, sonst würde ich all das hier nicht machen.