Was glauben Sie eigentlich!
Falls die Vernunft einen eigenen Social-Media-Account hat, wird sie sich derzeit wohl fragen, ob das mit der Aufklärung vor 300 Jahren ein Schwindel war und sie in der Hölle des Irrglaubens gelandet ist. Obskurantismus aller Art schwappt durch die Foren, und je absurder eine Theorie, umso größer ihre Chance auf globale Verbreitung. Was kriegt die Vernunft alles in ihren Feed gespült: Die US-Präsidentschaftswahl 2020 wurde gestohlen! Mitglieder elitärer Kreise halten Kinder gefangen und verarbeiten deren Blut zu einem Verjüngungsserum! Impfen tötet! Regierungen wollen die Bevölkerung durch eine andere, politisch pflegeleichtere ersetzen! Es ist nicht zu glauben, was alles geglaubt wird. Die Vernunft hat wenige Follower.
Könnte es sein, dass im Kampf der Aufklärung gegen die Religion etwas schiefgegangen ist? Die Idee war doch, dass sich der moderne Mensch seines eigenen Verstandes bediene, anstatt devot an Dogmen zu glauben. Die kirchlich verordnete Irrationalität sollte so überwunden werden. Freiheit für die Vernunft! Ein schöner Gedanke.
Ironischerweise hat sich die katholische Kirche unterdessen rückwirkend mit Galilei, Kopernikus, Darwin und all den anderen, die einst ihr Weltbild ramponierten, ausgesöhnt. War der religiöse Glaube womöglich der falsche Gegner? Ist eine Gesellschaft, in der die Leute an einen Gott und dessen Botschaft glauben, nicht doch vorteilhafter als eine, in der Verschwörungstheorien und esoterischer Quatsch boomen?
Das mag plausibel klingen, aber es ist falsch. Ein Machtapparat, der mittels Zwang, Beeinflussung und Manipulation dafür sorgt, dass die Mitglieder einer Gesellschaft mehrheitlich an dasselbe glauben, kann niemals wünschenswert sein, denn das bedeutet Unfreiheit. Wenn aber jeder glaubt, was er will, kommt das raus, was wir erleben: Die einen glauben an traditionelle Götter, manche an Wundersames unabhängiger Machart, andere an die Verschwörungstheorie der Saison, wieder andere an überhaupt nichts.
Ist das schlimm?
In Europa hat Nietzsche zum Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt, dass Gott tot sei, und spätestens seit damals muss sich unser Kontinent den Vorwurf gefallen lassen, sein Fundament verloren zu haben und dem Nihilismus zu verfallen. Wenn es keinen Gott gibt, gebe es auch keine absolute Wahrheit und keine absoluten Werte mehr, „weil dann das Denken keinen Anspruch auf Wahrheit machen kann“, schrieb der Religionsphilosoph Robert Spaemann (1927–2018). Hat er recht behalten? Glauben wir im Grunde an gar nichts und gleichzeitig an jeden beliebigen Unsinn, und irren wir deshalb ohne moralischen Kompass durch die Welt?
Das kann man nicht behaupten. Das gottlose Europa ist heute der Kontinent mit dem am weitesten ausdifferenzierten Grundrechtekatalog. Nirgendwo genießen Minderheiten mehr Rechte als hier, und keines dieser Rechte wird von der Existenz einer metaphysischen Person abgeleitet, sondern einzig damit begründet, dass die Gleichheit der Menschen ein unantastbarer Wert ist.
Das soll keine argumentative Breitseite gegen gläubige Menschen sein. Wer an Gott glaubt und so sein Verhältnis zum Sinn des Lebens, zur (Un-)Endlichkeit und zu den letzten Fragen klärt, macht nichts falsch. Zum Problem wird der Glaube erst, wenn er sich mit der Macht paart und einen Absolutheitsanspruch stellt, dem sich Ungläubige fügen müssen. Ein paar aktuelle Beispiele: Die religiös motivierte Anti-Abtreibungs-Bewegung in den USA nimmt Frauen ihr Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch. Ultraorthodoxe Politiker in Israel versuchen, der Demokratie theokratische Fesseln anzulegen. Gottesstaatlich legitimierte Fundamentalisten im Iran verfolgen Frauen, die kein Kopftuch tragen.
Religion eignet sich ganz ausgezeichnet als Privatsache und ganz und gar nicht als Staatsdoktrin. Die Forderung nach einer Trennung von Religion und Staat, ein mittlerweile antiquiert anmutender Grundsatz, ist gültig wie eh und je.
Ist Wissenschaft auch bloß Glauben?
Da kommt ein listiger Einspruch um die Ecke, meist vorgebracht von Leuten, die gekränkt sind, weil ihre Religion bloß als ein Glauben unter vielen qualifiziert wird: Wer nicht an eine Religion glaube, glaube eben an die Wissenschaft, und wo sei denn da der große Unterschied?
Hier liegt ein besonders krasser Fall von Sprachverwirrung vor. An eine Religion oder an einen Gott zu „glauben“, ist eine ganz besondere Form von innerer Festlegung. Gläubig zu sein, ist eine tiefgreifende, existenzielle Entscheidung, nicht zu vergleichen mit dem alltäglichen Gebrauch des Wortes „glauben“ im Sinne von: „Ich glaube, dass es morgen regnen wird.“ An die Wissenschaft glaubt man ebenso wenig im religiösen Sinn. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben es ja gerade an sich, dass sie prinzipiell vorläufig gelten. „Glauben“ heißt in diesem Zusammenhang also „etwas für wahr halten, bis es durch neue Forschung widerlegt wird“.
Religion und Wissenschaft bewegen sich in zwei unterschiedlichen Sprachspielen, um es mit Ludwig Wittgenstein (1889–1951) zu sagen. Daran krankt auch der immer wieder vorgeschlagene Dialog der beiden Denkgebäude.
Aber die aktuellen Attacken auf wissenschaftliches Denken kommen nicht von Religionen, sondern von Verschwörungstheoretikern. Diese verbreiten ein Weltbild, das die Methoden der Wissenschaft simuliert und damit fälscht. Sie bringen vermeintliche Belege für ihre Theorien, die am Ende immer unüberprüfbar sind, und negieren wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse.
Ist das ein Glaube? Irgendwie ja. Menschen haben offen-sichtlich ein Bedürfnis nach mystischer Antiwissenschaft, nach alternativen Wahrheiten, nach ebenso unbeweisbaren wie
unwiderlegbaren Sätzen, vielleicht auch nach störrischer Wahrheitsverweigerung. Man nennt das auch „Post-Truth“, also eine Ideologie jenseits der Wahrheit.
Soll eine Gesellschaft gegen diese Art von Glauben vorgehen? Kommt darauf an, wie. Die Wissenschaft selbst, Bildungseinrichtungen und staatliche Institutionen haben die Aufgabe, den Stand der Wissenschaft anzuerkennen und darauf zu beharren, was wahr ist und was nicht. Das darf jedoch nicht in Repression münden. Der liberale Gedanke der Aufklärung gestattet auch Unsinn, Aberglauben und das Leugnen der Wahrheit – solange die Bestimmungen des Strafrechts nicht verletzt werden.
Die liberale Demokratie unterscheidet sich vom Gottesstaat dadurch, dass sie darauf vertraut, dass der Glaube – woran auch immer – die freie Entscheidung jedes Einzelnen ist und die daraus resultierende pluralistische Gesellschaft besser funktioniert.
Das bedeutet allerdings, dass nicht bloß individuelle Freiheit garantiert ist, sondern auch der Prozess voranschreitet, kollektiv das Wertesystem zu verbessern. Schaffen wir das? Wie verhandeln freie Gesellschaften eine Neuordnung der Werte?
In Wahrheit stecken wir gerade mitten in einem solchen Prozess. Die Woke-Bewegung kämpft dafür, jegliche Art von Diskriminierung von Minderheiten, vor allem auch sprachlicher Natur, aus der Welt zu schaffen. Den Wert, dass andere wegen ihrer Identitätsmerkmale nicht gekränkt werden sollen, stellt diese Bewegung über andere Werte – etwa den Wert der Freiheit der Rede oder der Kunst. Was als beleidigend empfunden werden kann, soll weder im (halb-)öffentlichen Raum noch in Songtexten oder Theaterstücken Platz haben.
Das Ergebnis ist eine öffentliche Debatte, die gelegentlich konstruktiv, meistens aggressiv geführt wird. Aber so geht nun einmal Streit. Die Woken versuchen immer wieder, ihre Forderungen (etwa die Ächtung diskriminierender Witze) als unantastbar darzustellen und Zuwiderhandeln wie eine Schändung von etwas Heiligem – doch das klappt nicht. Ebenso wenig schafft es die Gegenseite, alle woken Neuerungen (etwa die Erweiterung des Geschlechterbegriffs) per Dekret zu verbannen.
Das gesellschaftliche Match muss ausgetragen werden, nichts ist heilig, jeder darf glauben, was er will.
Gott, ist das schön!