Schöne teure Welt: Acht Hotspots der globalen Inflations-Krise
NIGERIA
Warum das erdölproduzierende Land nicht vom hohen Ölpreis profitiert, sondern in eine Hungersnot zu schlittern droht.
Bis zu 120 US-Dollar (112 Euro) kostet derzeit ein Barrel Öl am Weltmarkt, und Nigeria, die größte Volkswirtschaft am afrikanischen Kontinent, hat die Erlaubnis der OPEC, seine Fördermenge deutlich zu erhöhen. Das klingt nach einem Geldsegen für das Land. Doch es kommt anders. Nigeria verzeichnet die von allen Ländern der Subsahara-Region höchste Inflation – erwartet werden in diesem Jahr 20 Prozent. In einem Report der Boston Consulting Group wird Nigeria als eines von 44 Ländern aufgelistet, in denen eine Hungersnot droht. Schuld daran sind mehrere Faktoren: Nigeria ist von Lebensmittelimporten abhängig, der Staat ist hoch verschuldet und gibt einen Großteil seines Budgets für deren Rückzahlung aus, dazu kommen soziale Unruhen, islamistischer Terror und politische Instabilität. Und das Öl? Das kann die Wirtschaft auch nicht retten, denn ein Großteil der Einnahmen versickert aufgrund von Korruption. Die Folgen spüren die Armen im Land: Der Preis für ein Kilo Bohnen ist im Jahresvergleich um 44 Prozent gestiegen, Brot um 35 Prozent. An die 90 Millionen Menschen in Nigeria leben von weniger als zwei Dollar am Tag. Nun haben die UN für Nigeria die höchste Alarmstufe ausgerufen.
SRI LANKA
Die Regierung machte in der Krise alles falsch. Dann kam die Inflation.
Dass Sri Lanka wirtschaftlich schlecht dasteht, ist nicht überraschend. Zwei Jahre Corona-Pandemie hatten dem Inselstaat im Indischen Ozean, der seine Deviseneinnahmen zu einem großen Teil dem Tourismus verdankt, ordentlich zugesetzt. Staatspräsident Gotabaya Rajapaksa und dessen Bruder Mahinda Rajapaksa, der das Amt des Premierministers innehatte (weitere fünf Familienmitglieder bekleideten Posten im Kabinett) behaupteten lange, sie hätten die Lage im Griff. Doch die Steuersenkungen der Regierung machten alles nur noch schlimmer, und im Mai dieses Jahres war der Staat bankrott. Lebensmittel, Medikamente, Benzin – alles war knapp. Die Regierung hatte einen Importstopp für Kunstdünger verhängt, um Devisen zu sparen, die Folge waren Missernten. Jetzt fehlt den Bauern auch noch Benzin und Öl, um die Traktoren auf den Reisfeldern anzutreiben. In den Städten kosten Lebensmittel doppelt so viel. Stromausfälle häufen sich. Im Mai trat der Premierminister nach heftigen, zum Teil gewalttätigen Protesten zurück. Die Inflation bei Lebensmitteln betrug im Mai unglaubliche 57,4 Prozent. Der Präsident und die neue Regierung flehen das Ausland um Hilfe an.
ARGENTINIEN
Wo die Inflation so hoch ist, dass niemand mehr sagen kann, was wie viel kostet.
Die Inflation hat in Argentinien eine unerfreulich lange Geschichte. In den 1980er-Jahren litt das Land unter anhaltend hoher Teuerung und versank schließlich in der Hyperinflation. In den vergangenen zehn Jahren sank der Wert nie unter zehn Prozent, und für dieses Jahr prognostiziert der Internationale Währungsfonds einen Wert von bis zu 60 Prozent. Wie reagiert die argentinische Bevölkerung auf die galoppierenden Preise? Sie ist verwirrt. "Niemand weiß mehr, was wie viel kostet", sagt der Wirtschaftsforscher Federico Moll gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg. Es sei für die meisten Leute leichter, zu sagen, wie viel etwas in den 1990er-Jahren gekostet habe, als den Preissprung zwischen dem aktuellen Tag und dem Vortag zu nennen. Ein iPhone kostet plötzlich so viel wie ein halbes Jahr einer durchschnittlichen Miete, und der Preis ein und derselben Ware kann von einem Geschäft zum nächsten um bis zu 150 Prozent variieren – je nachdem, ob der Händler bereits den nächsten Inflationsschritt vollzogen hat oder nicht.
USA
Die Inflation kann Wahlen entscheiden – zum Beispiel die am 8. November.
Warnung: Inflation kann Ihre Wahlchancen vermasseln. US-Präsident Joe Biden und seine Demokratische Partei werden dies mit großer Wahrscheinlichkeit am 8. November dieses Jahres-dem Tag der Kongresswahlen – bitter zu bejammern haben. Das Schlimme daran ist, dass eine Regierung keine Chance hat, die Inflationsrate innerhalb kurzer Zeit zu senken. Die oppositionellen Republikaner haben damit ihr Thema gefunden und reiten unablässig darauf herum, "ganz egal, worüber wir gerade sprechen", wie Biden kürzlich klagte. Der Benzinpreis hat bereits die psychologisch entscheidende Marke von fünf Dollar (4,7 Euro) pro Gallone (3,8 Liter) erreicht, und in einer Umfrage sagen 74 Prozent, dass der Benzinpreis bei der Wahl für sie entscheidend sei. Dazu kommt, dass die Regierung die Inflation tatsächlich lange Zeit unterschätzt hat, wie Finanzministerin Janet Yellen in einem CNN-Interview zugeben musste. Mehrere Republikaner fordern seither ihren Rücktritt. Das traditionell beste Mittel, um der Inflation Herr zu werden, sind Zinserhöhungen. Allerdings senken diese die Nachfrage, was wiederum die Bevölkerung hart trifft. Das Szenario ist nicht ganz neu. Während der letzten großen Inflationskrise Ende der 1970er-Jahre traf der damalige Notenbank-Chef Paul Volcker harte Maßnahmen, die schließlich zum Erfolg führten – allerdings verlor Präsident Jimmy Carter 1980 nach nur einer Amtszeit die Wahl gegen Ronald Reagan. Joe Biden wurde zuletzt öfter mit Carter verglichen.
ISLAND
In der Krise profitiert der Inselstaat von seiner Geografie – von Vulkanen und Flüssen.
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steuert die Atlantikinsel Island sicher durch die Krise. Das Land ist reich an Flüssen und Vulkanen, aus denen sich erneuerbare Energie gewinnen lässt. "Wir heizen unsere Häuser nicht mit ausländischem Gas, sondern mit Erdwärme. Der Rest des Stroms kommt aus Wasserkraft", sagt Sigurður Jóhannesson vom Institut für Wirtschaftsstudien an der Universität Island. Ökologische Lösungen haben Island eine gewisse Unabhängigkeit ermöglicht. Steigende Preise erlebt das Land trotzdem, vor allem bei den Mieten, aber auch bei Lebensmitteln. Unter den hohen Energiepreisen ächzen die Fischer, die ihre Frachter mit Diesel oder Benzin antreiben. Fischfang ist das Rückgrat der isländischen Wirtschaft und stellt einen beträchtlichen Anteil der Exporte dar. "Ich glaube dennoch, dass die Fischindustrie von der Krise profitieren wird", sagt Sigurður und nennt dafür zwei Gründe: Seit der Annexion der Krim exportiert Island so gut wie gar nicht mehr nach Russland, und auf dem Weltmarkt steigen die Preise für Fischprodukte. Auch im Tourismus ist Island nicht auf Russen angewiesen. Vor der Pandemie verzeichnete Island sechs Mal mehr Touristen als Einwohner. Der überwiegende Großteil stammt aus den USA und Europa.
TÜRKEI
Die türkische Lira ist im Fall – und mit ihr Präsident Erdoğan?
Die Türkei weist eine der höchsten Inflationsraten der Welt auf und wird derzeit nur von einer Handvoll Ländern wie dem Sudan oder Venezuela überboten. Im Mai lag sie bei über 70 Prozent – so hoch wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Das unabhängige Wirtschaftsinstitut Enagrup geht sogar von einer doppelt so hohen Rate von 160 Prozent aus. Für die enorme Preissteigerung gibt es mehrere Gründe.
Auch schon vor dem Krieg in der Ukraine hat die türkische Lira massiv an Wert verloren. Auf der anderen Seite wirken sich die Folgen des Krieges aus, da Russland und die Ukraine wichtige Energie und Getreideexporteure für die Türkei darstellen. Energie, Lebensmittel und Benzin sind in dem Land am Bosporus deutlich teurer geworden. Präsident Erdoğan gerät angesichts der wirtschaftlichen Probleme zunehmend unter Druck. In aktuellen Umfragen liegt seine AKP unter 30 Prozent – ein Rekordtief. Erdoğan macht hohe Zinsen für die Krise verantwortlich. Er übt Druck auf die Zentralbank aus und hat allein seit 2019 drei Zentralbankvorsitzende entlassen. Nächstes Jahr stehen in der Türkei Präsidenten- und Parlamentswahlen an.
MONGOLEI
Die Mongolei ist reich an Rohstoffen. Aber der Krieg macht es schwer, den Schatz außer Landes zu schaffen.
Seine geografische Lage hat das Binnenland Mongolei in Abhängigkeit seiner Nachbarn Russland und China gebracht. China ist der mit Abstand größte Absatzmarkt. "90 Prozent der Exporte gehen nach China. Aber seit der Covid-19-Pandemie ist die Grenze geschlossen. Die Lkw, die sie passieren dürfen, lassen sich an zwei Händen abzählen", sagt Viktor Frank, der für die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) die Entwicklung im Land beobachtet. Der Krieg in der Ukraine hat das Land de facto abgeschottet, weil Transportrouten durch Russland geschlossen wurden. Im ersten Quartal 2022 ist der Rohstoffexport um 34% eingebrochen. Victor Frank fasst das Dilemma so zusammen: "Die Waren kommen schlecht rein, und der Export kann nur bedingt stattfinden." Insbesondere in der Hauptstadt Ulaanbaatar, in der die Hälfte der 3,2 Millionen Einwohner leben, ist die Inflation von rund 15 Prozent spürbar. Während die Gehälter nur leicht gestiegen sind, hat sich der Preis für Benzin mehr als verdoppelt. Zwar verfügt die Mongolei über ausreichend Kohle, um Elektrizität zu produzieren, aber Autofahrer sowie die Industrie sind auf fossile Energiequellen aus Russland angewiesen. Einen Lichtpunkt gibt es jedoch: Die Mongolei verfügt aber 66 Millionen Nutztiere und riesige Anbauflächen. "Hungern werden die Menschen hier nicht", sagt Victor Frank von der KAS, "aber die Ernährung wird einseitiger".
TUNESIEN
Steigende Brotpreise haben in den Maghreb-Staaten das Potenzial, Revolutionen auszulösen.
"Maximal zwei Pakete pro Person" steht in Supermärkten von Tunis. Öl und Mehl sind Mangelware, das Brot knapp und teuer. Die Regierung ruft zur Rationierung auf, weil der Staatshaushalt mit den steigendenden Importpreisen nicht mithalten kann.
Revolution und Brot gehen in Tunesien Hand in Hand. Als sich der Weltmarktpreis für Getreide 2011 nahezu verdoppelte, kam es zu den sogenannten Brot-Unruhen, die in weiterer Folge im Arabischen Frühling mündeten. Als in Ägypten der Diktator Hosni Mubarak gestürzt wurde, riefen die Demonstranten: "Brot und Freiheit!"
Die Ukraine und Russland gehören zu den wichtigsten Getreidelieferanten Nordafrikas. Tunesien deckt die Hälfte seines Bedarfs an Weizen mit Importen aus Russland und der Ukraine. Seitdem sich der Importpreis verdoppelt hat, leidet das Land unter Versorgungsengpässen. Die Regierung hat bereits angekündigt, die Subventionen für Bäckereien senken zu wollen, was zu sozialen Unruhen führen könnte.
All das hat auch mit dem Klimawandel zu tun. 50 Prozent der Anbauflächen in Nordafrika könnten aufgrund der Erderwärmung verschwinden. Steigende Energiepreise auf den Weltmärkten erschweren die Produktion weiter. Denn für den maschinellen Anbau von Getreide braucht es nicht nur Sonne und Felder, sondern auch Dieseltreibstoff, chemische Pflanzenschutzmittel und Stickstoffdünger, allesamt Ressourcen, die durch den Krieg knapp und teuer geworden sind.